Lyrik & Foto

`Cythera Escort ´

     

 

Cythera Escort

 

                                              Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

 

“a little water clears us of this deed”  ( Lady Macbeth )

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

I  `Cythera ´ und Giacomo Neuhaus

 

 

 

1

Iris . Elvira . Anne . Aimée . Elisawetha . Lila . Nachwachsende

Rohstoffe , Sammlerobjekte ,Namen ( flittrig ) ; ein Name als steinerner Gast .

 

Im Kunstkino in Köln wird endlich `LalaLand ´gezeigt , mit 7 Oskars ausgezeichnet , schon lange lobend besprochen in den Feuilletons . Heute gibt es die erste Vorstellung , und sie zielt auf  die Anspruchsvollen unter uns , in  amerikanischer Originalfassung mit Untertiteln .

 

Das Kunstkino ist im Kellergeschoss ; Szenekino halt . Eine enge Treppe leitet den Besucherandrang nach unten , und es staut sich vor der Abendvorstellung. Viele haben schon vorher die Karten abgeholt ; einige müssen noch irgendwie durch zur Kasse und wissen nicht , ob sie Zugang bekommen werden . Sowas erzeugt Unruhe und steigert die Genervtheit , hier auf der  Treppe , auf der man sich immer weiter

auflaufend anstellt .

 

Und dann müssen ja auch noch die Besucher der Nachmittags-vorstellung heraus , über die gleiche Treppe . Da , endlich , es tut sich was . Ein Türflügel öffnet sich in den Gang hinein ; um mich herum sind alle bereit , den langen Schritt nach vorne zu tun ; zunächst reichts aber nur für lockerndes Füßescharren . Da kommen die Ersten raus .

 

Wer das Kino verlässt , hat seinen Schlafwandlerblick drauf , einen taumelnden , angeschlagenen Gesichtsausdruck , mit dem man widerspenstig auf den Ansturm des Draußen reagiert , noch unter dem Eindruck der Bilder und der Story drinnen . Wars gut ? Ja , doch .

Es ist eng im Gang , auch wenn es sich jetzt etwas beweglicher durcheinander schiebt , zu flackerndem Licht  . Füße schlurfen ; nach anfänglichem Schweigen jetzt fast eine Unterhaltung zwischen den Kinobesuchern , leise , tastend . Die Reinwoller können sich endlich vorwärts bewegen und dabei die Gesichter mustern der Rauswoller : Wen kennt man , wer fühlt da mein Gesicht ab nach einer ersten Bewertung . Alle diese Leute also teilen meinen Geschmack ? Na ja.

 

Dann Iris .

 

Die ich sehe bevor sie mich sieht . Sie weiß dann noch weniger als ich , ob Stehenbleiben möglich ist , sie im Gequetsche der Rauswoller , ich im Geschubse der Reinwoller.

Hallo ! Hallo. Du hier ? In Köln ? Ja. Ruf mal an . Über den Film sprechen . Ja mach ich .

 

Wer war das, fragt Anne .

 

So treu wie ich Anne bin , wäre ich gerne auch Iris geworden .

Das ist einer der Kernpunkte . Wäre ich gerne auch Iris gewesen.

Geblieben .

 

Aimée. Sabine. Erika .

Die , so unalphabetisch herausgefiltert aus dem Vornamenregister , sind jetzt alle nicht da .

 

Es ist bestimmt wegen der Kinosituation , dass ich an den alten Hitchcock denke , der im Grand Central Bahnhof in NY spielt . Cary Grant rennt auf eine Telefonzelle in einer ganzen Reihe von Zellen zu , einer ganzen Batterie von Kommunikationskompartments . Jede Frau aus meiner Geschichte  ist von einer anderen Fernsprechzelle aus zu erreichen . Hallo ? ja ich bins .

Hier geht Treue . Nebenan ist andere Treue . Hier passt nur eine und einer rein .

 

Telefonbatterien in ganzer Reihe gibt es ja heute , 2017 , kaum noch ;

fällt mir zu dem Bild noch ein . Dafür aber Bankautomaten in Bankfoyers und Sparkassenhallen . Jeder für sich , steht es sich so vor einer Tastatur  ; manchmal teilen sich zehn Leute diesen Raum mit den Automatenschaltern , jeder vor seinem Zifferangebot , bemüht seinen Vorgang abzuschirmen .

 

Ach ja , und jetzt dieser ` Nudge ´. Wer immer gerade seinen Zahlencode eingibt , denkt an diesen Graffitti-Druck , der seit einiger Zeit auf allen nur denkbaren innenstädtischen Bürgersteigen in Köln auftaucht  : Der Finger , an der Hand von Michelangelos Gottvater , der den gespitzten Finger ausstreckt , um eine Befruchtung auf den Weg zu bringen .

Adam erwartet die Berührung – noch fehlt ein Zentimeter zwischen den beiden Polen , aber zwischen menschlichem und göttlichem Zeigefinger knistert es .

 

Dieses Graffitti von `The Nudge ´ ( wie der Künstler sich unterschreibt ) zeigt nur Kopf , Arm und Finger von Gottvater , in schwarzer Waagerechter , und darunter den Schriftzug `The Nudge ´. Nicht ` The Touch´, wie neudeutsch vielleicht zu erwarten , sondern

` Der Anstupser ´ , `oder ` der  freundliche Rempler ´ ; englisch : The Nudge .

 

2

Die `Cythera´ liegt wieder im Hafen von Belgrad fest . Und mein Anwaltsbüro zuhause kann sich nicht einigen , wer für mich vor Gericht zuständig ist /sein könnte/sich auf den Weg auf den Balkan machen sollte. Bratsch oder Salifoski ?

Und wie eigentlich das angebliche Delikt aussieht . Und was das auf Serbokroatisch heißt . Unschuldig ? Oder Entführung eines Minderjährigen ? Oder Beihilfe zu Flucht ? Ich habe eine relativ komfortable Zelle . Und außerdem .

 

Jeden Tag , den ich hier ausharre , hat Noah eine Chance , tatsächlich

seinen Neuanfang nicht nur zu überlegen sondern ihn anzugehen . Ich bin gespannt , wie weit er kommt .

In der Zwischenzeit lese ich , mangels sonstiger Zerstreuungen , an der

feuchtkahlen Zellenwand die Geschichte nach , die sich da in den letzten zwölf Monaten geschrieben , erlitten und erfreut hat .

 

Stadt . Land . Fluss……

 

Mann.

Frau.

Tango .

 

Voilà ! Da sind die Hauptthemen dieser  Milieustudie – um nicht zu

sagen : des kleinen ` Bildungsromans ´ rund um die `Cythera´.

Bühne frei für den Dampfer  mit seiner Besatzung ( Mann und Maus ) . Er wird der freundliche Hauptschauplatz sein .

 

 

3

„Ägypten ist ein Geschenk des Nils , “ sagt Nils immer .

Nils Starbacks .

 

Der ist Kapitän auf der `Cythera´  , die Giacomo Neuhaus auf  meine Initiative hin zuerst gechartert , dann gekauft hat ; auf der Malevitch ,  Giacos Musiker , den Animator und Kulturbeauftragten macht , wobei er nebenher auch noch eine Karriere angeht als Rapsänger . Nils ist also der Kapitän . Aber nicht der Boss .

 

Giacomo Neuhaus betreibt , auf meine Idee hin , eine ziemlich besondere Art von Dampferlinie . Ich bin Giacomos Halbbruder , und ohne meine Idee wären Giacos zurückliegende zwei Jahre ereignisloser verlaufen . Aber wer weiß das schon .

 

Lehrer ( auch Fahrlehrer wie ich ) waren noch nie nur das , was sie mal in der guten alten Satire waren : Besserwisser und Simpletons .

Sie haben nämlich auch Ideen , sind Befruchter in der Wüste .

Und heute gibt es eh nur noch die Lehrer mit Augenzwinkern : Habe zwar Pensionsberechtigung und das Nichtrecht auf Streiken , bin aber sonst : Bohème ! Schauen Sie mich doch mal an , und wetten : Ich verstehe mehr von Monochromes als ….die Leute in der Rateshow . Studienräte sind mittlerweile allesamt in erster Linie kreativ! (These , steile ) Kreativgestalter ihrer Desktop-Oberflächen , zum Beispiel . Wohnen auf dem Land , da wo es das schnelle Internet

 

(demnächst/endlich/wurdeaberauchZeit ) )

 

gibt.

 

Jedenfalls und wie auch immer , habe ICH  ( Lehrer !  genauer gesagt : Fahrlehrer : hammelrath drive ) die Idee gehabt und die Idee war jedenfalls folgende .

 

Die Kunden wählen aus dem Internet-Angebot . Können dann sagen : Ich fahre zwischen Bacharach und Karlsruhe ,  würde gern Marion kennenlernen . Marion klingt interessant , sieht interessant aus . Ah , sie möchte  `Mariònnnnn ´  angesprochen werden ? Dachte ichs mir . Außerdem ist Steffika verhindert . M. steigt in B. zu , man geht ins Restaurant , Abfahrtszeit immer gegen 17 Uhr , es dämmert , die Kerzen werden angemacht , Mariónnnn entscheidet , ob sie .

 

4

Das ist in diesem Roman eine der Fragen :

 

Bergauf- oder Bergablächeln ?

 

Lächelt man wie und weil neuverliebt ? oder seltener und gequält ? Weil länger schon liiert ? Wie ertappt , grenzen- und haltlos ertappt im Glück ? oder wie auf der Bremse bei Talfahrt ?

 

Kein Paar , das sich länger als zwei Monate kennt , kann so lächeln  wie die Einander-Frisch- Entdeckten : Das erste Lächeln bei erstem

wirklichen , ernst zu nehmenden Rendezvous , nicht selten mit  brennender Kerze als dritter . Erstes Lächeln : Ein Wolken-schieber/schaber/lächeln : In den Augen hat auf einmal ganz viel Platz , Augenscheunen öffnen sich , und das Lächeln ist eine Art positive Erstarrung . Die Augen riesig weit geöffnet , aber der Platz reicht nur für ihn/sie . Wie groß er ist ! ( der Platz ).

Spaß beiseite ! bedeutet das Lächeln , wie Julia schon auf dem Balkon sagte , aber der Ernst ist vielleicht Glück und Fröhlichkeit .

 

Was sagt das über Wert , Wirkungsweise , die Existenzberechtigung der Ehe ?

Mein Bruder Giacomo behauptet ( das war vor dem Treffen mit Lila ) :

„ Meine Welt besteht nun einmal aus ausschließlich versprechendem Lächeln .“

 

Giacomo Neuhaus ist ein massiger attraktiver Mann ; wäre er Bayer , würde wer sagen : Ein Urvieh , mit  bulligem , freundlichem Kopf , aber spitzer Nase . Die hat etwas Stöberisch-Neugieriges .Seine freundliche Kinnmuskulatur lässt auch schnell an Durchsetzungswillen glauben . Und er lebt im Zustand immerwährender Verschwörung :

Schließt gerne mit dem jeweiligen Gegenüber einen Pakt  , einen

Schmunzelpakt , als sage er : „ Wir beide spielen den anderen gerade einen Streich ; SIE wissen von nichts , und WIR – wir werden auch noch morgen eine Perspektive haben .“

 

Mein Bruder trägt gerne  Westen über weißem Hemd , das mehr nach Sonnenbleichung aussieht als nach Bügelbrett . Giacomo ist überhaupt ein Produkt von Südstaatenästhetik . Er trägt sein nicht mehr ganz dichtes , aber langes Haar  in einen Zopf gebunden ; ein Dreitagebart raut die Welt auf und wartet auf guten Wind ; aber er hat dabei nichts Hemdsärmeliges . Und die schmunzelnden Mundwinkel machen Gespräche um ihn herum oft leichter .

 

Manchmal reime ich mir unsere Stammbäume so zusammen : In Giacos Ahnengalerie war irgendwo ein italienischer Adliger : Denn könnte es eine  aristokratischere Kennung geben als gute Laune ?

Und in meiner , Arne Hammelraths , Genealogie haust irgendwo ein finsterer , daseinsverdrossener spanischer Hidalgo :

 

`Viva el muerte ´ !

 

5

Der Fluss führt ( am heutigen Stichtag ) viel Wasser und drückt  die festgezurrte ` Cythera ´ Richtung Kai , Anlegestelle Köln .Neben-einander hopsen Anleger und Schiff im Tänzchen , und wenn ein

großer Schubverbund vorbeizieht , wirft  der Wellenfächer Starbacks Dampfer regelrecht in die Höhe , schmatzt ihn wieder herunter ,schubst ihn an das Eisen der Landungsbrücke . Gewiege und  Geschwanke von Anleger und  Schiffskörper erzeugt lautes Quietschen , fürwahr eher noch ein  Stöhnen und Seufzen und Klagen .

 

„ Wir wissen , bei welchem Wasserstand und welchem Wellendruck

Hammelrath  seine Idee gekriegt hat ,“ mutmaßt der Kapitän .

„ Klingt doch , als ob Frau Schulze nach längerem Ramadan das Ende der Enthaltsamkeit feierte : Inbrunst pur ! Brünstigstes Crescendo !“

 

Ist Erotomanie eine Krankheit ?

Nein , ein Beschäftigungsverhältnis . Sagt einer , der es wissen muss . Eine Arbeit , die getan werden muss . Und falls irgendwer Giacomos Seh-Sucht als Krankheit einstuft , eines Tages , einer oder  EINE  vom Gesundheitsamt  , dann wird mein Bruder davon auch nicht geheilt werden wollen . Amen .

 

Ein Missverständnis ! denkt die Schöne . Die Schöne denkt :

Alle Männerwelt guckt mich an , und ICH denke an den nicht abgestellten Küchenherd  . Aber das , sagt Giaco , ist ja das eigentliche Wesen der Erotik : Der Zufallsgenerator , die Ungleichzeitigkeit .

„Ich weiß genau , dass ich jetzt angesehen werde ..“ :

Das ist doch eher unerotisch . Oder gar :

„Jetzt will ich aber gerade mal lüstern dreingucken ! Ausrufezeichen!

So kenne ich das schließlich vom Hochglanz !“

 

„ Da sage ich ( sagt Giacomo Neuhaus ) : Es lebe der A-Synchronismus.

Aus der Nacht in den Mittag schauen . Allerdings , in den Zeiten der technischen Reproduzierbarkeit ist der große Mittag auch nicht mehr

das , was er mal war .

Dann aber – sieh nur – die Frauen , die dosieren bzw. mixen können ,

Ungleichzeitigkeiten zubereiten . ` Ach , eigentlich überraschst Du mich ja jetzt .´ Schelmisch .“

 

Giaco macht eine attraktive Frau nicht an  ( ` hallo , zugig heute ,

was ?´) , sondern schenkt ihr ein Connoisseur-Lächeln  :

 

 

`Komm , wir zeigens der Welt ! ´

 

oder , ein wenig ausführlicher  :

 

`Kommen Sie , ich lade Sie ein in meine Forschungsgemeinschaft ; setzen Sie sich doch da mal an mein Mikroskop .Wir schauen uns diese interessanten Leute und überhaupt die Welt an und sortieren alles ´ .

Das Spiel über die Bande , sozusagen , wie Billiardspieler sagen : Sprechen wir über Interessantes oder interessant gemachtes Drittes und richten wir uns im Spontanwohnzimmer mit Aussicht auf die Welt gemütlich und entspannt ein : `wir beide haben doch durchschaut , dass Schöne der Welt den eigentlichen Gefallen tun . Nicht uneigennützig natürlich , aber UNS schuldet die Welt was , jawohl ,…..und sooderso : Leider redet in 1oo Jahren kein Mensch mehr drüber ´ –

 

( das ist dann aber schon ein langer Blick , etwa wenn die Menschen

zufällig nebeneinander an der Fußgängerampel zappeln , und auch über die Fahrspur  hinweg  ) ; lächelnd also wie, glaube ich , nur Giaco gewinnend lächeln kann : Als gäbe es nichts als Großzügigkeit auf der Welt , wie Luft zum Atmen .

 

6

Sehen die anderen das da drüben zum Beispiel etwa nicht ? wirklich nicht ? In diesem humorlosen Winter mit seinen frühen Minusgraden und scharfem Wind um die Ecke : Diverse Leute , solche und solche , anteilsmäßig angemessen auch einige Frauen .

Und : Eine einzige Frau schreitet in Rock und Strümpfen auf der Hochstraße aus –!  und was für Beine sie da zeigt . In schwarzen Seidenstrümpfen (allerdings ja und ). Auch sonst ist sie dunkel

gekleidet . Giacomo Neuhaus findet , dass feierliche Anlässe , im schlimmsten Fall Beerdigungen , Frauen wirklich

 

je feierlich-formaler/

desto effektiver

 

wirken lassen . Besagte Frau hat in dieser unfrohen Zeit ein Alleinstellungsmerkmal .

 

Und das würde vielleicht auch der amoröse Kinderbuch-Verfasser

( Kennen Sie nicht ? ` Die Vier aus  Topsy-Hausen´ ? ) , Gautama  Schulze ,  der gerade ( sehnsuchtsbedingt )  mit Elvira in Kabine 56 verschwunden ist , sagen .

 

Giacomo Neuhaus ist mein Halbbruder ; 10 Jahre jünger als ich , aber im Gegensatz zu mir durchaus schon Erbe. Sein Vater , der zweite Mann meiner ( unserer ) Mutter , ist für mich `Onkel Alfons ´ geblieben, verstorben vor 5 Jahren . Er hinterließ Giaco ( und niemandem sonst , auch nicht seiner Frau : Unserer Mutter  ) sein Vermögen , das er als Fruchtsaftunternehmer  in erfreulicher Größenordnung angehäuft hatte.

 

Giacomo versuchte sich nach dem Studium zunächst , auch nicht so richtig erfolglos , als Galeriebesitzer , tummelte  sich ( für seine Verhältnisse ) ausdauernd , also zwei Jahre , mit Halstuch und unrasiert durch die Kunstszene hierzulande.

 

7

Da winkt er uns gerade an Bord :

Ruhe! Pscht !

 

Kopulationsgeräusch wispert aus der nicht ganz geschlossenen Tür . Wie das konzentrierte Ausblasen von Kerzen an einem Riesen-christbaum zum Beispiel .

Gleichzeitig werden , am Treppenabgang zu Deck C  , Vorkehrungen zum Sex getroffen , ` große feierliche Verschwörung ´. Mit einem

ehrlichen Lächeln und bei leichtem Zittern ; man ist weich in den Knien …JETZT eine witzige Bemerkung und alles ist gut unterwegs .

 

Als ich ( von einem Besuch in der Kombüse kommend )wieder in Giacos

Büro vorbeischaue , sitzt er gerade am Telefon .

 

„ Escort-Plus : Bedeutet : Nehmen Sie die Versuchung beim Wort  !

Fühlen Sie ihr auf den Zahn . Ja !“

Giacomo Neuhaus  schreckt noch nicht einmal vor Reklamesprech zurück . Natürlich gibt’s das alles im Netz nachzulesen . Und auch diese

unerträglichen Bewertungen . Aber am Telefon ( vielleicht spricht er mit einem Kreditgeber ? Hätte er das nötig ?) – am Telefon ist er gerade selber bemüht .

 

„ Dochdoch , Sie dürfen unsere Mitarbeiterin  ruhig stören , sie arbeitet nicht unter Zeitdruck  . Im Gegenteil , sie ist so etwas wie ein …äh

( `Maskottchen?´ wirft Anne ein ) genau , Markenzeichen für unser Schiff.  Bisher ist sie erst zweimal fündig geworden (männliche Partner )  für ihre Nächte an Bord , was – glauben Sie mir – nicht an geringem Interesse der Kunden lag . Sie ist wählerisch .“

 

Pause. Schweigen = Hinhören auf das andere Ende der Leitung .

 

„ Dann ist da Sjoukje  für die Strecke Emmerich-Rotterdam  oder zurück ; sie ist  bei ihrer Promotion über niederländische Malerei – wenn sie nicht gerade . Oder , als weiteres Beispiel , Charente  für die Mittelrhein-strecke : Sie zitiert Ihnen `Nuits Rhénanes ´ von Apollinaire oder kennt alles , was in der Literatur mal über das Knistern zwischen Gallien und Germanien geschrieben wurde ; oder – ich kann unmöglich alle hier aufzählen – Felicitas“ ( sind  alles Kunstnamen , dachte ich mir , als  ich Giacomos Vorstellung das erste Mal miterlebte ) „  die sich die Strecke Regensburg- Budapest teilt mit Piroschka . Was sie nicht weiß über süddeutschen Barock ( oder war es der ewige Reichstag von Regensburg ?) : Das braucht man nicht zu wissen .“

 

„ Spitze,“ sagt mein Bruder nach dem Auflegen .

Und er sinniert : „ Irgendwie …. die ganze Zivilisation ist ja ein Spitzenprodukt .  Textilspitze , zum Beispiel !“

Giacomo assoziiert diffus vor sich her . Diesmal einer Dame auf dem Kai nach . Ich sehe nur , dass er den Blick schweifen lässt ; sein

Bewegungsmelder -Blick gilt meistens ( ich untertreibe ) einer Dame .

Galan ,  Unterhalter , Suggesteur   , Allesahner , Wenigwoller .

Giacomo ist eine Art Vermessungstechniker . Er  sei noch in der heuristischen Phase ; sammle noch , bevor er Theorien aufstellen könne, sagt er  . Es geht immer um Frauen . Zuallererst ein Studium von Gesichtern .

 

Gesichter als These . Welches Verhältnis besteht bei der da ( und dann erst bei der da ! ) zwischen Nase und Lippen ? Den Lippen und der Augenfarbe ? Der Hautfarbe und den Zähnen ? Was macht eine Frau schön ?

Oder anziehend ? Anmut UND Würde . Die anderen – gibt es auch , aber lassen wir heute aus .

 

Die Erscheinung jetzt/hier/hier vor uns , eine Stunde später im Ufercafé , ist Spanierin und lispelt diesbezüglich . Ihre sichelnden Halbsätze  finden Echos  in – man möchte schon sagen : Stößen , artikulatorischen , des Oberkörpers . Ein kleiner silberner Schlüssel rappelt über dem

Décolleté . Und über dem linken Mundwinkel dominiert eine Warze .

Nein , sie kann sich wirklich nicht entscheiden , ob sie ihre Haare vorne vor den Augen oder hinten hinter dem Nacken haben will . Ein

Schönheitspflästerchen macht einen Punkt .  Sie ist der Typ temperamentvoll- schöner böser Schwester : Das Schulterzucken kommt rüber als ein überlegen kokettes Spiel mit ihren Untertanen .

Diesen Untertanen ( wir reden von gestandenen Männern über 30 ) zaubert sie –dafür braucht sie nur gleichbleibende 3 Sekunden – je ein (1) unschuldiges  , glückliches , erlöstes Lächeln ins Gesicht ; eine Mischung von  Hoffnung und Selbstvertrauen .

Sie ist am Wochenende Kellnerin hier . Und wenn sie von Tisch zu Tisch geht , um zivilisierenden Glanz zu verteilen , fragt sich der gebildete Betrachter : Wem , ach wem , welchem Hungernden und Unerlösten denn nun – wird sie den Apfel des Paris aushändigen ? Oder an den Kopf werfen ?

Giacomo war , wie er erzählt , gestern schon ganz weg von ihr  .

 

 

8

Mit einem lachenden und einem weinenden Auge sieht mein Bruder

die Schließung des anderen Cafés in dieser Straße , eines –Sie verstehen – Oma-Cafés , an der Ecke . `Geschäftsaufgabe aus Altersgründen ´ steht treuherzig handschriftlich ans Fenster gepappt .

 

Mehrere Monate Leerstand , dann über Nacht : Plastikplanen und die triumphale Ankündigung : Hier entsteht demnächst  `Baguette de Provence ´. Wie originell !

Noch fürchterlicher , dass die aufregende Frau , die Giacomo kennenlernt , die – nun ja doch- beinahe schon Ex- des neuen Inhabers ist . Annabelle hat im Gegensatz zu den anderen Hostessen schon einmal als Prostituierte gearbeitet . Sie erzählte Giaco von damals , der Zeit hinter dem Ladenfenster :

 

„ Ich sitze morgens auf einem Barhocker vor dem Fenster , während die Sonne langsam höher steigt und stärker wird . Im Glaskasten ist es warm , und es wird heißer . Menschen gehen auf der Straße vorbei , allerdings noch keine Freier .

Im Haus gegenüber arbeiten ein Steuerberater und seine Sekretärin . Ich weiß , dass sie ihre Blicke nicht nur irgendwie aus dem Fenster richten ,  vielleicht auf der Suche nach einem entfallenen Wort , oder um Zeit zu schinden im Gespräch mit einem Klienten . Sie blicken verstohlen auf mich herab von ihrem Fenster ; und ich empfange ihr Interesse zwischen meinen Schenkeln . Ich empfange nur das , was ich angelockt habe ; ich locke mit dem Scharnier meiner Beine , zeige den  Hafen , in den sie einlaufen könnten . Ich ziehe sogar die Sonne in meinen Schoß , zwischen meine Strümpfe , in meine Möse“ ( sie liebt Alliterationen ) ,

„in mich ganz hinauf bis zu meinen Lippen . Es ist richtig heiß heute , schon ganz früh.“

 

Nach einem versoffenen Abend  wird sie dann Giaco in den Türeingang

besagten Cafés ziehen ; schließt auf , und auf dem Tapeteziertisch , nach dessen Zusammenbruch  auf seinen Resten und auf dem Marmorfußboden , gibt es eine erst wackelige , dann erkältungs-nachsichziehende Begattung , während draußen der  Morgenverkehr schon anfängt und Schatten an den Planen vorbeihuschen .

 

9

Ich zeige Giacomo den Flyer  , die erste Präsentation einer von uns

für die `Cythera´ bemühten Werbeagentur  , die mir aber nicht  gefällt :

( was Sie verstehen werden nach längerem Zitat )

 

Sexy = Billig : war gestern……

nö, eigentlich war es noch nie ! Und nie das Richtige für SIE !

 

unser Escort Service KANN , möchte aber gar nicht erst mit 08/15 konkurrieren .

WIR haben eine hohe Meinung von Ihrer Männlichkeit ( wie so viele ! ) : SIE sind neugierig und entsprechend offen , andererseits nicht einfach zufriedenzustellen ; SIE  wissen , warum Frauen Casanova schätzten ; SIE wären eher die beste Besetzung für  `Don Juan ´ und Sie haben sich auch schon mal im weiten sibirischen Terrain der Monogamie gelangweilt , geben wir es zu !

 

Sind Sie unterfordert en gros oder en detail , mit  und/oder ohne Frau : Noch besser : Gut gelaunt und  selber ein charmantes Gravitations-zentrum :

 

                        ` CYTHERA´

 

bietet Ihnen  `Das Andere´ , welches Sie in Ihren Memoiren berücksichtigen werden .

 

Unsere Mitarbeiterinnen sind nicht ` sexy ´ . Sie sind aufregend .  Sie bieten Ihnen Dolmetscherdienst und zeigen Ihnen was Sie sonst übersehen würden :

 

Ja ,

AUCH/

danach/

währenddessen/

als Zugabe/

 

und als ein Hauptgang :

 

Unsere Flusslandschaften !  Auch wenn die Insel der Aphrodite irgendwo im Mittelmeer liegt :  Auf der `Cythera´  kommen Sie zu den Begegnungen mit den wirklich schrägen Zeitzeugen  ! Unsere Konfrontationen sind KUNST !

Anhaltende Vernissage ! und  SIE dabei der Privilegierte und Gesprächspartner .

 

Die Damen , denen  Sie begegnen , werden SIE fordern ; sind bei schlechtestem Willen nicht zu verwechseln mit  Dienstleister-Hetären ; und sie haben jedes

Recht ,

                                  

 

                                          `Nein ´

 

zu sagen , wenn SIE nicht  Ihrerseits bereit sind etwas zu bieten .

 

Wenn die Dame ( aus von uns nicht zu erforschendem Grund , von uns ihr nicht aufgedrängt )

 

                                     `JA´

 

sagt ( zu einer Wahlverwandschaft  auf Zeit ) , bieten wir Ihnen die passende  Panorama-Kabine und HOCHzeit- Suite. Wählen Sie  das Erlebnis Ihrer Kragenweite , die Gesellschafterin Ihrer Klasse , den Flussabschnitt Ihrer Jugendträume : Die Themse von Oxford nach Windsor ? die Donau im Schwarzmeerdelta ? Saône und Rhône , von Chalons nach  Martigues ? Wählen Sie auch die Dauer Ihrer Alltagsflucht . Stundenhotel ist anders . Aus dem Zuspiel gerade dieser Frau  Reisen planen :

Nicht hier sein , für alle mal , sondern fragen : Wo geht’s hin – von hier aus . Strengen Sie sich auf Ihre avancierten Tage noch mal so richtig

an , auf dass SIE

                                         `Ja´

 

sage .

 

 

10

Soweit die Tarnung  , die Verkaufe , die Theorie und das gute Gewissen

bei Giacomo Neuhaus und seiner Crew .  Sie sind schon rührend, diese Gehversuche meines Bruders im Werbewesen . Natürlich , sage ich meinem Bruder schonungslos und lege den Entwurf beiseite , ist die `Cythera´  damit einfach ein Bordelldampfer mit ein bisschen Kosmetik .

Immerhon konnte ich noch durchdrücken , dass mein Bruder folgenden Test einarbeitete :

 

Falls SIE , männlich , kultiviert , sich angesprochen fühlen : legen Sie doch unbedingt ein Photo Ihres gegenwärtig genutzten Gefährts bei .

Nicht wahr ,  der Geschmack im Automobilen sagt soooooooo viel über  die Persönlichkeit ! Wenn SIE also das falsche Auto NICHT fahren : Ist das ein großer Schritt nicht für die Menschheit , aber auf dem Weg zu IHREM Kulturerlebnis . Kleiner Tip : (es folgt eine erstaunlich lange und konkrete Liste von Fahrzeugsfabrikaten und –Typen )  zwecklos !

 

„Santa Maria“ , sagt Giaco da in meine abschließenden Ausführungen hinein und erhebt sich ; ich drehe mich um .

„ Nein , ich heiße Marylynn “ , sagt sie  , und ordnet sich in den Sessel .

Ihr Kleid ist vielleicht nicht Dior , aber schwarz-weiß , wobei weiß nur die Appretur ist um ihr Décolleté , welches tief geschnitten ,  und ihre deutliche Dopplung magnetisch macht .  Eine Art Heiligenschein , deswegen `Santa´,  denkt Giacomo wohl ; ein etwas nach unten verlagerter Halo , den sich diese Heilige hat einfallen lassen .

 

„ Ich glaube Ihnen schon ! Nicht wahr ? Sie haben heute bereits Schlimmeres gesehen ; und können wir was bestellen , ich habe einen Mordsappetit .“ Sagt sie .

 

 

Ich lese also gerade noch einmal die neueste Werbungsversion für die Abenteuer der `Cythera ´ ( und Marylynn sieht mir über die Schulter und zieht ein kritisches Gesicht dazu ) , bevor ich mich dann auf den Weg nach Duisburg mache .

Dies also wäre aus meiner Idee geworden !

 

Und dann liegt sie da ,  `Cythera´ ; abholfertig vor Starbacks , der Crew der Deckhands und mir , im Ausbesserungsdock zu Ruhrort .

Es ist nicht  , was ich erwartet hatte ( aber ich bin ja auch kein Schifffahrtsexperte , selbst wenn ich seit Urzeiten an einem großen Fluss wohne )  : Ich dachte noch , ein Rheindampfer hat vorne immer Gardinchenfenster  vor der Blumenvase , und man riecht den Kännchenkaffee auch gegen den Wind . Kaffee wie Bratensoße .

 

Nein ! Bei der modernen Spielart ( ebenfalls igitt ) heutiger Bauten

( Stand 2017)  ist da eine  mobile Bettenburg unterwegs , deren Container-Trakt gerne dreistöckig ist und Hauptsache Chrom und Passagiere etc . Schornsteinzwillinge natürlich in Haifischflossen-Stromlinie . Muss ja in die hechelnde Zeit passen .  Am Oberdeck Tennis-Markierungen und karibische Blätterwedel . Muss sich ja in der Erwartung an verallgemeinertes Softporno unterbringen .

 

Ja , bei der `Cythera´  ist es anders , deutlich oder in Nuancen  .

Giacomo hat den alten Dampfer ( Baujahr 1950 , ex `Olympia ´ der Dijkstra-Reederei ) mit Bedacht ausgesucht : Der Bugsteven hat nichts von hungrigem Haifisch , erinnert eher an Ladestockgerade , Kommando  `Haltung bewahren !´ ; und der Eigner hat sein Fahrzeug per Zitat sogar noch älter gemacht , etwa als er an den Seiten mittschiffs Halbbögen andeuten ließ ; da , wo die allerersten Flussdampfer ihre Radkästen hatten . Den Schornstein hat man schon mal in Humphrey-Bogart-Filmen der 1940er Jahre gesehen : Wie vom Gegenwind leicht nach hinten geneigt , und ein bisschen schwarzen Kohlenrauch ausstoßend ( ist aber nur Bluff ) : Der Rauch soll nur den Wind von Bug her sichtbar machen

( Aufbruch ist alles ! in See gestochen ! Da wo sich das schwarze Schicksal ballt ) und –wer weiß ? – auf die Flüchtigkeit alles Irdischen hinweisen .

Der Konstrukteur machte allerdings der voyeuristischen Moderne Konzessionen und zog Lounge- und Panoramafenster ein ; im Achterschiff gibt es doch wahre Bühnenbalkone  ( `für das , was ich der Welt heute mitzuteilen habe ´) ; große Fensterflächen , und Stores , die nach bestem Samt aussehen , wie  Segel groß . Die Räume vorne ,

Speisesaal und Prominentenkabinen , wirken nach außen , wie einem alten Steamer gemäß , stabil und absichernd ; man ahnt hinter den Fenstern Geborgenheit einerseits , heimlich Subversives dann aber

auch .

 

Hier an Bord haust demnächst auch Malevitch  , und das in einer recht komfortablen Kabine , wenn nicht der Belegplan gerade sehr eng ist .

Dann gibt es für unseren Musiker nur eine Art Allround-Besenkammer !

Ich – immerhin Halbbruder des Volleigners – habe künftighin , dauerhaft reserviert , ein kleines Gemach mit dem Bullauge direkt  und knapp über der Wasserlinie :  Aussicht gibt es nicht , höchstens auf die vorbei-treibende Coladose .

 

Aber auch  Malevitch würde es grundsätzlich schon reichen , das Wasser glucksen zu sehen , um sich von Frieden beschenken zu lassen. Friedensreich Malevitch , sozusagen . Bypass , der Rapper , und

Sam , der schwarze Teufelsgeiger :

Dieses Team ist ein Standortvorteil für unseren Dampfer , sagt

Giacomo .

Rap und Geige , geht das denn ? fragt Pfarrer Knorr .

 

12

Es ist Dienstag morgen ; der Pfarrer war auf einer Sitzung in Duisburg

und hat vorbeigeschaut , um sein Projekt mit uns abzusprechen .

Und der Geiger spielt oben an der Bar gerade ein eingängiges Intro  ,

ein bisschen Pariser- Boulevard –mäßig ,( eine Geige die ein Akkordeon imitiert ?!)  und  Malevitch versenkt verruchte Heiserkeit über einem biblischen Thema ins Mikrophon  :

 

 

Regenfest verzurrte Mama

auf das Schlimmste eingestellt

doch die Welt ist einfach stärker

böse böse böse Welt

 

auch der Wind ist einfach stärker

und jetzt regnet es auch noch !

sagt ich nicht die Welt ist böse

nein sie ist ein Höllenloch

 

doch an IHR hats nicht gelegen

befreiter so die schlechte Laune

jetzt muss Welt in Trümmer sinken

SIE ist Jerichos Posaune

 

 

„Danke , danke,“ sagt er dann . ( Sam kratzt einen Tusch  , und

der Drum-Computer ist ganz aufgeregt ) .

 

 

13

Ein weiteres Beispiel  für die Belegschaft an Bord ?

Here comes Elvira , durchtrainierte Sportlerin , Absolventin der  Sporthochschule Hennef , Abteilung

 

`Einer ohne Steuermann´ .

 

Sie rudert , wenn sie nicht gerade studiert oder auf der `Cythera´ unterwegs ist , rheinauf  , was ihr Muskeln einträgt ; und anschließend lässt sie sich dann nach 5 Meilen wieder flussabwärts zurück treiben .

 

Elvira hat auf der `Cythera´ die größte Kabine . Etwa zwei Drittel ihres Raums werden von einem Ruderautomaten eingenommen , und für das Bett bleibt nur wenig Platz . Sie bietet dem Gast  einen auf schnelle und ganzheitliche Information angelegten Anblick ; bekleidet oder unbekleidet beugt sie sich mit dem Körper auf dem Rudersitz nach vorne  , die Hände an den Griffen ; lässt die Arme strecken , den Busen vornüber -, den Armen hinterherhängend ; holt Luft und Schwung und wirft sich mit dem ganzen Körper nach hinten , die geöffneten Schenkel breit , die Arme weit  zu beiden Seiten des Oberkörpers angekommen : Ihr ganzer Körper drängt sich in das Angebot , als wolle sie sofort und jetzt und endlich : Europas Stier zwischen die Beine nehmen .

 

Von oben hört man immer noch Malevich  .

Der ist ja seinerzeit bekanntlich bekannt geworden durch den Szene-Hit

` Das war knapp ´.  Er singt immer noch ( na ja ), tanzt ( wie er meint : lasziv) , spielt Gitarre .Zu seinem Instrument hat er wirklich ein klammerndes Verhältnis : Die Gitarre bedeutet für ihn Folgendes :

 

„ Wenn ich sie umarm/ist es wie Ratiopharm ; nicht ICH umarme SIE / ich werd Teil ihrer Anatomie /an diesen nämlichen Runden / solln meine Neurosen gesunden . “

 

Malevitch  wurde , als es keinen Nachfolgehit auf die Schnelle gab , von Giacomo eingestellt ;  und  seither singt er , wie eben während der laufenden Ereignisse , an Bord der `Cythera´ . Er hat aber letztens noch an einem Wettbewerb für Filmmusik in Venedig teilgenommen und wartet täglich und abertäglich  auf Nachricht  bezüglich seines dortigen Abschneidens .

Solange er wartet , erledigt er Auftragsarbeiten . Wie diese Ballade

hier , die er zu Disco-Lichtgeflimmer in den Vorabend haucht :

 

 

Vorläufig : NICHT alleinerziehend

 

Schwarzstrümpfig langbeinig

stöckelt sie  stochert und stakt

den Bürgersteig entlang

der an ihren Absätzen nagt

 

langbeinig schwarzstrümpfig

trickst sie die Pfützen aus

wer sie sieht hofft inbrünstig

sie sei noch länger nicht zuhaus

 

sie sei noch länger unterwegs

und widmet sich uns noch ein wenig

mit ihr ist hier jedwed Quartier

das von nem Rotlichtkönig

etc

 

 

14

Auf der Gästeliste der `Cythera´ findet sich dann etwa ( hier auszugs-weise zitiert ) : Der Erfinder der nicht -klebenden Marmelade . Der auf dem Sofa des Psychiaters bekanntlich sagte :

„ Überall Marmelade , wohin ich auch sehe . Sie kommt mir nach , noch durch geschlossene Bunkertüren . Der Mensch besteht zu 90% aus Wasser ? Da kann ich nur lachen . Überall Marmelade . Und ICH trage zu ihrer unaufhaltbaren Verbreiterung noch bei !“

 

Und der Erfinder der Alibi-Pille  .  Sie kennen den Slogan :

 

Sie warens nicht ?

Und ganz woanders ?

Alibis faken :

Aliban kann das .

 

( Klingt nach Malevitch , er  wars aber nicht . )

 

Besagter Menschheitsbeglücker  ist gerade zur Toilette gegangen , und Erfinder Nr. 1 genießt die Gelegenheit , mit  Elvira allein in dieser Nische vom Bordrestaurant zu sein . Wir lauschen :

( Er kann sich zunächst nicht dazu bringen , Elvira von seinen Problemen zu erzählen . Meint er . Dann aber doch . )

Sie sagt : Sie denken zu viel .

Er sagt : Was soll ich machen ?

 

Er charakterisiert die Minute vor dem Orgasmus : Wie ein Blick auf das Geriesel in der Sanduhr ,

 

 

durchhaltendurchhalten

wennmöglichsteigernsteigern

 

jaaaaaaaa!

jaaaaaaaa!

jaaaaaaaa!

 

jaaaaaaa?

na ja…..

 

nun ja .

 

Der Herr mit besagten Problemen vergleicht den Moment der Erlösung mit  einem `last minute ´- fristgerechten Einreichen einer Bescheinigung ; Sekunden vor dem Schalterschluss noch ein Formular auf den Tisch knallen , das die Sachbearbeiterin huldvoll aber lächelnd  : Stempelt .

Bäng .

 

 

15

Ich bin Giacomo dankbar , dass er meine Spinnerei damals ernst genommen hat . Die Escort-Damen sehe ich mit freundlichem Auge , wie jeder  `Hetäro´  in  Reichweite und  zeugungsfähigem Alter ; aber die Idee , ein Schiff zu haben und damit den Fluss stromauf stromab – fast hätte ich gesagt : `suchen lassen ´ ( wonach ? )  : Das ist wirkliche Bereicherung , auch in meinem Unternehmerleben .

 

For everything /there is a season . Sagt Botswana auch immer .

Botswana ? Die `Cythera´ leistet sich eigens eine Reinigungskraft für  die Hygieneabteilung , vulgo : Toilettenfrau . Wie viele moderne Etablissements ( außer Autobahnraststätten ) kennen SIE , die sich diese Fürsorge noch leisten ?  Freundliche Präsenz an einem kleinen Tischchen mit Blumenvase ; mit Kulleraugen ,  für nichtverbalen und verbalen Kontakt in einsamen Stunden an kellerigem Schauplatz

Sorge tragend  ?

Als ich erstmals die Treppe herunter zu den Waschräumen nahm , stellte ich fest : Botswana liest in der Bibel . Manchmal liest sie sich und anderen auch laut aus der Bibel vor , mit Vorliebe aus `Ecclesiastes ´ . Und das Meer wird niemals voll etc . Eher der Porzellanteller zum Münzensammeln  vor ihr auf dem Tischchen .

 

Und der Fluss . Egal welcher Fluss ist uns `Cythera´- Nutzern ein auktorialer Erzähler , wie in den alten Romanen . Generös , gastfrei , ach könnte er sprechen ! Seine Sprache würde für Wärme sorgen und  Fallstricke beseitigen . Er hat auch für übermorgen noch einen Plan , regelt die Welt – oder hätte die Macht , sie zu regeln . Die Welt hat eine Carte Blanche . Auch Du , Bruder , bist da in einer guten Welt zuhause : Da ist Dir jemand zustimmend , gewährend, beruhigend .

 

Die Tangolehrerin wird später (siehe Kapitel 8 unten ) sagen :

„Mein Gott , ist das naiv ! Riechen Sie mal , hier , an meinen Klamotten . Das war die Überschwemmung in der Altstadt kürzlich . Der ganze Keller stand unter Wasser . Alle Kleiderschränke .“

 

Dazu , wie zu mannigfach anderem , später mehr .

 

16

Moses schlug Wasser aus dem Felsen . Wo Trockenheit war , wuchs Grün aus der Wüste . Wo Wüste war , konnten Menschen sich nun einrichten und leben .

Giacomo und …..( jetzt gerade : Madame X . Er weiß , wie sie heißt , sagt es mir aber nicht ) :

 

Er : Wie gerade aus der Wüste entkommen . Giaco schiebt seine Hand an ihrem Nylonstrumpf nach oben und legt seinen Daumen auf ihre Scham , ihre Schamlippen ; einmal mehr bereit , sein Seelenheil herzugeben für das Spüren von langsamem Durchfeuchten des Textils. Ein Wärmeherd . Ihr Körper entspannt sich und verteilt sich längs seiner Körperlänge . Sie …..atmet aus .

 

Warum besagter Giacomo Neuhaus ( mein Halbbruder und Eigner der `Cythera´ ) wurde wie er ist ?

 

Ich tippe auf …..die Halbierungen seiner Kindheit !

Ein Halbbruder , ein Fern-Vater ( meiner , biologisch gesehen ) , eine Doppelmutter , ein nicht ganz erwachsener Erzeuger  : Denn der war  zwar Kindskopf , aber  kein Kind von Traurigkeit .

 

Und Giaco hat als Junge immer etwas übrig für Glas , Glasspielzeug , Murmeln . Da muss man ja unweigerlich Womanizer werden !

Meine Vermutungen über Giacomo , ohne Anspruch auf ungetrübte Allwissenheit :  Zunächst vergötterte er seine (meine Halb-) Schwester , die  einige Jahre älter war als er  . Sie geht eines Tages als Au Pair Girl nach England und schickt ihm von da eine Bilderpostkarte , die er lange als Reliquie verehrt ( sie starb zwei Jahre danach ) : Ein Bild von dem Fährschiff , mit dem sie nach Harwich übergesetzt ist ; offensichtlich aus

einem Helikopter aufgenommen . Das Schiff mit schwarzem Rumpf auf smaragdgrüner See , auf den Betrachter zufurchend .

Seither sind Schiffe und Frauen für Giaco eine Unio Mystica , Yin und Yang und so .

 

Und als Kind wurde er , anders als ich ! in Sportverein und Schulsport immer wg. Schlappheit und Ungeschick verlacht ;  im Gegenzug  verstand er fürderhin unter Jungenhaftigkeit schwitzig riechende , verklebte Unterhemden und wichtigtuerisches Muskelprotzen .

 

ER sammelte . Damals schon . Auch Briefmarken ( sic ! ) , kleine Kostbarkeiten in  schönst-möglicher artistischer Konzeption , meistens in Wertreihen 10, 20, 50, 80

 

Cent/Pfennig/Kreuzer/Centavo/Lei-

 

Ausgabenreihen , die der Sammler zu komplettieren hat ; verschiedene

Farben , eine Themensequenz . Solange man diese nicht in Gänze besaß , konnte man sich sehnen . Ist die Reihe im Album vollständig versammelt , ist sie

 

MEIN !

 

( Giacos ) . Besitzerstolz und Schönheit  geben Giacomos kindlichem Leben Sinn .

Aber was kommt irgendwann als nächstes ?

 

Mein Bruder erzählte mir  auch einmal , wie sich ein etwas älteres Mädchen bei einer Pubertätsfete mit Suchspiel im Dunkel  vor ihn hingestellt  habe , so dass der Suchende nicht ihn , sondern immer nur diese Vierzehnjährige fand ….und abtastete ; was er eine gute Idee

nannte ! und er nahm sich vor , bald auch 14 zu werden und alles dringend haptisch Mögliche seinerseits durchzuführen .

 

Und mit 15 erst ( das waren noch Zeiten !) wurde er von einem Freund in die Welt der erotischen Bilder eingeführt . Wir reden von den 90er Jahren! ` Damals ´! Seinerzeit florierten unter der Hand und unter dem Schülerpult noch sogenannte Freikörperkultur-Aufnahmen ; auf der Haut der einladend – meist eher überrascht ! dreinschauenden Frauen spiegelte Sonne ; keine Nackten bei Regen ! Die jeweilige Haut trug sich schamrot rötlich , nicht braun ; und immer mit einer Naturlandschaft im Hintergrund .

 

Auch diese Bilder hätte Giacomo Neuhaus , der Sammler , gerne dann

doch in Vollständigkeit besessen . Aber die Frauen mussten einen blassen Teint zeigen, gerade eben vielleicht im Begriff , pfirsichfarben zu werden ; zum Inbegriff dieser Meißener Schönheit wurden ihm dann Japanerinnen . Schwarze Frauen interessierten ihn –man mag das als politisch unkorrekt vermerken – gar nicht !

Was Botswana wohl dazu sagen würde ….Aber irgendwie weiß die sowieso meist alles .

 

Gesund , weißrot , verspielt , gerne mit einem Ball im Bild , das Bein vielleicht angewinkelt , die Scham schwarzdeutlich zur Sicht angeboten :

Sehnsuchtsmelodien eben . Dies erklärt sicher das eine wie das andere in Giacomos Erwerbsbiographie .

 

Ach ja ,  die `Cythera´  , damals , meine Erstbegegnung , im Ausbesserungsdock zu Duisburg . Ready for takeover by Starbacks .

 

 

II  Hammelrath und Aimée

 

1

„ Giacomo Neuhaus . Meine Karte . Gestatten : Ich bin – ach –  Besitzer einer Galerie , eines Lingerie-Ladens und Betreiber einer Escort –

Ikone .“

`Machen Sie sich nichts vor ´, sage ich hinter vorgehaltener Hand zu seiner neuen Bekannten . `Auch wenn mans nicht merkt und wenn er gerade über Geldpolitik  spricht : Letztlich hat er nur Frauen im Kopf bzw. in seinem Blick .´

 

In der Tat . Elementary , Dr. Watson : Hier die allereinfachste Scanning-Technik ! Sichtet Giacomo  aus dem Augenwinkel DIE Dame des Augenblicks  , so berechnet er in Doppelklicktempo : Wo wird sie in einer Viertelminute stehen , gehen , sitzen ; guck schon mal auf Vorrat dahin , dann fällt es nicht auf , wenn sie da  gleich sitzt . Und du brauchst  Deinen Blick dann nicht mehr hektisch hin- oder wegzunehmen . ´

Nein , das ist nicht zu verwechseln mit  bösem Blick .

Oder : Wenn ihm eine aufregende Frau am Arm eines männlichen Begleiters begegnet , schafft er es , selbigen Mann intensiv zu fixieren : Das entspannt , dabei kann er sich Zeit lassen . Und was er von der

eigentlich wichtigen Frauensperson wahrnimmt, wahrnehmen will : Das hat er mit photographischer Genauigkeit in Sekundenfragmenten aufgenommen .

 

Dieses Paar hier betrachtet übrigens gerade am  Kriegerdenkmal den neuesten , wohl gerade erst in der letzten Nacht aufgedruckten

`Nudge ´-Gottvaterflieger/ Überflieger , erinnernd an einen Tornado-Kampfjet , ganz menschlich mit Arm und Zeigefinger auf ein Bodenziel hinweisend . Diesmal in Blau .

 

Warum Giaco so viel Erfolg bei den Frauen hat ? Betrachten wir diese Episode .

Er kommt mittags an strahlendem Wintersonnentag aus der Drehtür einer Bank und blinzelt für einen Augenblick geblendet in die Sonne . Die Frau , die er am gleichen Abend in den Armen hält , wird später behaupten , sie sei noch nie so angelächelt worden .

 

Als Giacomo mir von der erfreulichen Buchungs-Bilanz seines Dampfers

auch dieses Jahr erzählt , habe ich

 

meinerseits

 

gerade ganz andere – nennen wir es nicht Sorgen ; sagen wir :  Karambolagen zu bewältigen . Besonders an und seit  jenem Sonntag im Bayou-Park .

 

2

Es ist November .

Geht Ihnen das auch so ? November ist ein ganz besonderer Monat ; sagen Sie nicht  einfach so  `Herbst ´ !

Im Oktober , sozusagen noch gestern , schien die Sonne , die Bäume

beharrten auf ihren Blättern ; da sie farbig sind , sieht es vielleicht sogar aus , als sei da mehr Laub  auf den Bäumen . Als im Sommer .

Und das ist dann im November vorbei , das Laub fällt und produziert nur Matsch auf den Gehwegen  – vorbei und alles ist schon so ganz anders . Ein surrealistischer Monat .

Was ich damit meine ? Sie kennen diese kubistischen Bilder , in denen wir zwar noch Gegenstände erkennen können , die aber vielfach gebrochen werden . Wie eine zerschmetterte , fragmentierte Glasscheibe , die so eben noch im Rahmen bleibt . Der November produziert ein ähnliches surrealistisches Geschnipsel . Durch die Nachmittage  geht das Fallbeil von : Lichtschranke !  Zwischen vier und fünf wird es auf einmal , fast plötzlich : Nacht .

Wir fragen : Wo ist der Rest des Tages geblieben ? Eben war es doch noch Mittag ? Als ob ein Tag beschleunigt wird im Zeitraffer , oder zwei Tage sich in einen schieben – von denen man sich aber nur noch an EINEN Tag erinnert . Wo ist der Rest ? Was hat man angestellt , und irgendwie verpasst ? Ab jetzt kann alles gegen uns verwandt werden….

Und ergo ist der November der Monat mit den schwierigsten Entlastungszeugen : War ich das wirklich , der da eben bei Herbstsonne aus dem Haus trat und jetzt , eine Besorgung später , im Dunkeln steht ? Wo waren Sie , Herr Arne Hammelrath , heute um 15 Uhr 30 ?

 

An so einem Novembernachmittag soll sich also für unsere Geschichte Wesentliches in einem Kölner Park begeben .

 

Ich gehe mit Ehefrau Anne , zur Entspannung der Lage auch ohne

Hund , im Park spazieren . Sozusagen eine Verschwendung : Wieviele einsame Hunde würden gerne mit mir spazieren gehen !

Eingangs ist unser Schritt  noch beschleunigt , dem Stand der Zivilisationshektik draußen , vor dme Park , entsprechend . Im Laufe des Rundgangs um den See verlangsame ich , werde durch das freie Ein-und Durchatmen in und anlässlich der Natur  verlangsamt ,

ausgebremst , was mein Hund durchaus begrüßen würde . Der Park als Gummiwand . Ich bleibe sogar stehen und bewundere das Bayou .

 

Und dann . Zwei Paare treffen sich zufällig in einem Stadtgarten ; nein , treffen im Park aufeinander . Das eine Paar sind Anne  und ich .

Wir überholen Mann und  Frau vor uns ; die Dame hat sich gerade zu Boden gebeugt , um einen Hundehaufen in eine Plastiktüte zu schieben . Sie spricht dabei in ihr zwischen Kopf und Schulter geklemmtes Handy ;  kommt wieder hoch , das Gesicht noch gerötet von der Beuge .

Mein Blick fällt auf sie und kommt nicht mehr weg .

 

Sie merkt zunächst nur , dass sie angestarrt wird ; sucht dann auch ihrerseits nach einer Erinnerung , die mit diesem Mann da  zu tun haben könnte .

 

Ich bin schneller .

`Aimée ….Gantermann ? ´

Sie hätte jetzt schon meinen Namen nennen können , vielleicht , ich sage aber noch , zuvorkommend und diensteifrig , förmlich wie bei einer Erstvorstellung : „ Hammelrath ……. Arne “.

Sie stutzt , lächelt , bricht in ein Lächeln aus : Eine Frau Ende 30 , mit rundem Gesicht , etwas dicklich proportioniert  . Sie hat Wind- und Wetterklamotten an , und wirkt entsprechend un-damenhaft . Den Mann an ihrer Seite habe ich bisher nicht angesehen , spüre nur , dass ich ihn nicht kenne , dass er da ist , genau wie auch , ja , meine Frau ( von der ich im Blitzvergleich weiß , dass sie um Meilen schicker ist als diejenige , die da immer noch Hund, Handy und ausgestreckte – linke !- Hand koordinieren will ) .

 

Aimée sagt : „ Das war 99… , das weiß ich genau ; WIEVIELE Jahre ist  das her ?“

ICH sage : „Schnell mal rechnen ……, 18 Jahre “ .

 

Und dann in die Gesamtrunde : „ Aimée war meine allererste Fahrschülerin . Damals war  ` Fahrschulen Hammelrath ´ auch erstmal ein Singular  . Und – was treiben Sie jetzt so ?“

 

3

Es ist Ihnen aufgefallen , nicht wahr .

Wohlgemerkt ! Ich sage : „Sie“ .

Und sage es in anderen Sätzen noch mal :  „Sie …“ oder „ und Ihr Beruf heute ?“ etc  .

Aimée ( denn sie ist es !) hangelt nach einer passenden Kurzversion :

„ Ach , ich arbeite im öffentlichen Dienst . Ich habe Chemie studiert und

Physik , und musste dann bei der Polizei noch Spezialausbildungen machen .“

„ Bei der Polizei ,“ sage ich bewundernd , vielleicht ein wenig

argwöhnisch. Sicher nicht stressfrei und beneidenswert , kommentiere ich dann unbeholfen , so von der Selbstverwirklichungsseite her .   Nein , sagt sie ,

„ aber ich bereue nichts. Jedenfalls nicht meine Berufswahl.  Und wohnen Sie ( sie sagt auch  `Sie ´ !  das hat geklappt ) noch in

Duisburg ?“

„ Nein , hier in Köln. Mülheim . Na , tja…..“

 

( und ……..jetzt ? wer sagt jetzt noch was warum und mit welcher Konsequenz ?)

„ dann wünsche ich Ihnen doch noch einen schönen Tag . Und dem Rest der Familie .“

Wobei ich wohl auf den Hund gucke .

Ich habe immer noch nicht den Mann an ihrer Seite angesehen , der die ganze Zeit nichts Vernehmbares sagt , nur vermeintlich passend nickt , lächelt , einmal sagt er : „Echt ?“

Passt er zu ihr ?

 

Wer will das sagen . Ist ER das letzte Wort in der Frage von

damals …..? Aimées Mann ist nicht sehr beeindruckend von Statur und Aussehen , ein bisschen dick und langweiliggelangweilt vielleicht . Wahrscheinlich seinerseits auch nicht besonders beeindruckt von mir .

Meine Frau sagt ebenfalls nichts oder wenig , guckt aber verbindlich-frisch , nur kurz unterbrochen in ihren anderen Gedankengängen .

„Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag“ , habe ich gesagt .

 

Wir haben uns die ganze Zeit , die vollen 94 +X Sekunden , auf Abstandswahrung achtend angesprochen . Aus der Wortwahl kann keinem der Nicht-Beteiligten klarwerden  , wer sich da gerade getroffen hat . Und schon Sekunden nach dem Treff beglückwünsche ich mich , somit vier Personen eine peinliche Erklärung an einem schönen November-Sonntag erspart zu haben .  Die Fragen von damals : Passe ich zu Dir ? Liebst Du mich ? Habe ich verdient , dass Du mich liebst ? Und wie ist es mit  Dir ? – die Fragen hallen irgendwo in mir , mehr weiß man nicht .

 

Wieder und wieder finde ich meine distanzierende Anrede  genial . Andererseits tut es mir sehr schnell leid , ( ach ja , der Zeitzünder an ach so manchem Erlebnis !) dass ich nicht auf Adressentausch , Verab-redung , Gesprächsabrundung bestand .

 

So ist es also , sage ich mir , wenn man tot ist : Wenn ich damals den Spruch irgendwie ernst gemeint habe , den mit dem

 

`bis dass der Tod Euch scheide ´

 

( natürlich nur so eine unterbewusste Bekräftigung sich selbst und der Welt gegenüber , dass man dazu = zu dieser Zweisamkeit ,  stehen

kann , diesmal aber so wirklich !) – wenn ich diesen Spruch ernst gemeint habe , dann bin ich jetzt tot , so ist das also , das fehlte mir die ganze Zeit .

Über welche Milchstraßenentfernungen geht dieser Blick .

 

4

Da wir gerade  über letzte Dinge reden : Wissen Sie eigentlich , liebes Lesepublikum , wo IHRE Tagebücher stehen ? Wo meine aufgehoben bzw. verblieben sind ……. Auch , wenn ich monate- oder jahrelang nicht da vorbeisehe und sie nur Staubmagneten sind : Ja , ich weiß wo sie stehen , und dass ich damit einiges beweisen kann .

 

Unsinn , wem soll irgendwas bewiesen werden .

Ach ja , lese ich hier  beim Staubwischen , Finger auf sprödem

Papier ….die Sache mit der Ente : Eines Sonntags möchte ich Aimée nach gemeinsam verbrachter Nacht nach Hause fahren ( sie wohnt noch bei ihren Eltern ) . Sie bettelt , sie möchte lieber selber  ans Steuer . Ich habe damals den neuen Audi  und zögere ; sie schmollt , was sie morgens ohnehin gut kann , na gut . Da hast Du die Schlüssel.

Unser Polizeipräsidium liegt idyllisch an einem Ausläufer des

Stadtwalds . Eine Entenfamilie quert unversehens die Strasse . In der Balzzeit sind die Tiere nicht  klar im Kopf und lassen sich nicht durch Bremsenquietschen noch durch Hupen vom Weiterwatscheln in Kiellinie abbringen . Just vor dem Präsidium überfährt Aimée nach  waghalsigem Ausweichmanöver die letzte Ente in der Reihe .

Niemand ist auf der Straße . Was ich zuerst gar nicht bemerke , da ich mich ausschließlich um das Auto und um das Tier kümmere ( in dieser Reihenfolge ) .

Das Auto hat nur eine Schramme an der Stoßstange . Das Tier hat den Hals gebrochen und einen Blutstropfen am Schnabel . Aimée weint .

Ich merke jetzt , dass tatsächlich niemand auf der Straße ist ; an den Fensterscheiben drüben im Präsidium  schaut eine stattliche Kakteensammlung auf die Straße drein , aber keine Rührung gibts da

sonst nicht  .

Mir ist nicht ganz klar , was ich tue , aber erst einmal Aimée in den Wagen schieben kann nicht falsch sein ; den Wagen  von der Straße bringen ist vielleicht auch sinnvoll , und da ich schon mal am Steuer sitze und der Motor läuft  …fahre ich zunächst langsam , dann durchaus zügiger – los.

Die Ente hatte ich in den Grünstreifen geworfen .

Zwar habe ich nichts , rein gar nichts von der Polizei gehört , nichts vom World Wild Life Fund oder vom lieben Gott .

Aber sozusagen sofort von Aimée . Sie kreischt auf mich ein , als wäre nicht SIE die Fahrerin gewesen . Ich sei sowieso ein mieses Subjekt , meine Autos ( es sind damals erst  zwei ) seien ohnehin wichtiger als alles andere.

Kurzum , danach ist erst einmal für eine Woche Funkstille , und dann bald für sehr lange .

Das ist nur so eine typische Zankepisode . Das Kleingeld , wenn konfliktfähige Menschen im eigenen Kinderzimmer herumsuchen .

 

Wie erwähnt : Ich beglückwünsche mich , gestern im Park eine Art Incognito gewahrt zu haben ; in einem Anfall von `soft skill ´ Aimée

zu siezen , um Anne und Aimées Mann , Noahs Vater ! ( dazu später Wichtiges mehr ), nicht vor den Kopf zu stoßen .

 

Vielleicht aber habe ich die Distanz ( ach ja die freundlich-höflich-hygienische Distanz ! ) auch gewahrt , um uns den Weg zurück in den Garten Eden zu zeigen , damals , als wir uns noch nicht kannten , nicht wussten , dass wir uns je kennenlernen werden müssten …

um Zeitmaschine zu spielen halt .

 

5

„ Ihr Lieblingsmüsli “ , lese ich gerade auf einer Schaufensterscheibe,

gegenüber vom Café . Woher wissen die ? Infantilisierung siegt ! Ich schaue aus dem Fenster , sehe wie eine junge Frau mit Hilfe eines Verkäufers größere Mengen ihres Lieblingsmüslis in einem Wagen verstaut ; der Wagen ist in der zweiten Reihe geparkt . Das Ganze wie ein Werbespot für die Lebensqualität von Kleinstädten . Und , was ein Fahrlehrer gerne sieht : Hier liest sich Lebenskultur vom harmonischen Verhältnis zum Auto ab , das am heutigen Tag bestimmt nicht zum ersten Mal in der zweiten Reihe geparkt hat .

Die anderen Wagen rollen behutsam um die Beladungsszene drum rum ; man hat oder nimmt sich Zeit  . Dieses Anhalten zwecks Verstauens der Markteinkäufe ist straffrei ! WIR haben die neuzeitliche Hektik im Griff , WIR  werden am Sterbetag nicht sagen : Wir haben alles falsch

gemacht . Danke , liebe in der zweiten Reihe geparkte Autos .

 

Somit fängt also tatsächlich  allesalles an jenem Sonntag Nachmittag im Park an, als wir ( meine mir seit mittlerweile 5 Jahren zugepaarte Partnerin  Anne und ich ) überlegen , wie wir unseren Jahrestag feiern wollen : Café chartern ,  Band , Einladungen , Kostümzwang ?

Eher nein oder vielleicht vielleicht .

Und danach : Wird Anne ein Sabbatjahr antreten . Bestimmt .

Sie ist  in den Umbruchsjahren in Osteuropa von ihrer Familie getrennt worden , und diese Menschen (Schwestern , Brüder , Mutter ) haben  sich in Aufbruchsstimmung  über die ganze westliche Welt verteilt

( Kanada , das hochverschuldete Griechenland etc ) . Es ist  Zeit , sie endlich einmal alle wiederzusehen , und auch Abstand zu ihrem Beruf

( Bank ) zu kriegen . Ja, die Stelle würde ihr freigehalten , eher kein Problem von da aus .

 

Anne – typisch Frau – nimmt die Planung für unser AbschiedsJubiläum

(?) sehr ernst und ist schon bei Erwägungen über dem Büffettangebot .

Ein Glück . Sie hat nichts gemerkt ; ich bin überrascht , dass ich mich anscheinend nicht  benehme wie ein angeschlagener Boxer . Aber für meine Verhältnisse verhalte ich mich im Bayou-Park und seit dem Parkerlebnis gerade sehr intelligent .

 

 

6

Aimée ………mit ihrem Ansatz von Nussknackerkinn ; guter Ausstattung

also für Dauerschmoll-, Protest -, Andeutungs- und Verweigerungs –phasen .

Daran denke ich bei einem philosophischen Gespräch zu Besuch auf

der `Cythera´ später am Abend . Anne ist zuhause ; an Bord lässt sich  Bypass neben mir an der Bar nieder . Hätte nicht geglaubt , dass gerade Malevitch sich für das folgende Thema erwärmen könnte .

 

Ich sage etwa :

„Gestern . Nehmen wir `gestern´ .

Die Cythera hatte es eilig , zur Rückreise abzulegen , die Passagiere hatten es eilig , den Abfahrttermin  nicht zu verpassen .

 

`Heute ´ weiß zumindest ich , dass besagte  Eile eine Form der Ver-schwendung ist , sozusagen auch eine Ex –und Hopp-Geste gegenüber der Umwelt  : Wieviele Angelegenheiten hat man für nicht-dringlich ,also unwichtig gehalten . Gestern war mir zu keinem Zeitpunkt bewusst , dass ich diesen oder jenen Anblick oder Augenblick heute ( vielleicht diesen hier ) vermissen würde , versuchen , ihn zu rekonstruieren  .

Eigentlich wäre das ein preiswertes Gesellschaftsspiel  : Lade jemanden ein , mit Dir den Tag zu teilen ; ganz nett , alles normal , viel egales Detail über 24 Stunden weg : Und noch weiß keiner dabei , WAS morgen dann besonders fehlen wird , wo man heute die Wunde empfängt , die morgen schmerzen wird . Selbstversuch . Mal sehen .“

 

Bypass ist betrunken , greift aber nach der Flasche , die ich gerade in der Hand habe .  Berufsbedingt vertrage ich sowieso nichts .

„ Auf Futur Zwei , und auf  Starbacks , dass er immer eine Handbreit Wasser unter dem Kiel hat .“

 

Starbacks ist nämlich gerade hereingekommen und sein Begrüßungs-spruch ist :

„ Ihr schon wieder ! Paranoiker ist : Wer zwei und zwei zusammenziehen kann – und WIE !“

 

 

III Flussfahrt

 

1

Vor den Fenstern des Restaurants an einem Abfahrtsmorgen staut sich eine Gruppe von Frauen , die gleich ( als Gruppe) ( ins Restaurant ) eintreten möchte . Auf die Letzte wartend , hat die Erste schon die Hand auf dem Türgriff .

„ Wetten , dass es gleich laut wird ,“ sage ich zu Giacomo und schaue wehmütig auf den einzig unbesetzten Tisch im Raum – den direkt nebenan .

„ Wetten , dass es eine sehr leise Phase geben wird ,“ sagt mein

Bruder . „ Wenn sie gleich die Speisekarte von der ersten bis zur letzten Zeile lesen , kannst Du die berühmte Stecknadel fallen hören .“

 

Frauen , die .

In einem Moment  von Müdigkeit oder Reflektion über ihre Formen streichen , Haarpracht von den nackten Schultern wischen , Unterarmärmel strecken , zupfen am BH , im Aufstehen dann den Rock glatt streichen und ziehen : Wie the final touch an einem Schneeball ! Köstlicher Winter , sakraler Schnee . Mitarbeiter des Tages ,  und die Existenzbegründung dieses Tages : Eine schöne Frau . Sie entschärft . Sie deutet die Welt , hier entlang bitte ; deutet die Welt , die bisher war , die gleich kommt , um . Ich sehe sie , sie sieht mich wie ich sie sehe :

Sie fühlt sich ertappt dabei , gerade schön zu sein …..oder werde ich nur dabei ertappt , sie schön zu finden ?

 

Ich bin meinem Bruder also doch ähnlicher als ich sonst so sage .  Sehe zum Beispiel auch , dass neuerdings die  Kellnerinnen hier schon fast dramatisch zu nennende BHs tragen . Trumms von BH . Unter weißen Shirts . Volle , nein : Drallpralle Rundungen . Funktional , beinahe wie Uniformen ; das Textil das alles richtet . Wird schon . Das hält . Kennen wir von Sicherheitsgurten  .

Hier ist alles sichtbar sicher . Links wie rechts .Und Besseres als mein Blick kann Euch nicht passieren , denkt Giacomo Neuhaus . Flinke ellnerinnen hinter der Theke und im Saal , Zappeln als erotische Aktivität.

 

Giacomo beherrscht die Kunst , eine schöne Frau gebannt anzusehen,

dabei aber doch den Eindruck zu machen , der kleinste Vorfall könnte ihn auch wieder ablenken . Gerne auch in Szene gesetzt gegenüber jenen Frauen , die situativ wie Erlösung wirken : So wie sie ( DIE DA natürlich !) muss eine frische Nase Kokain wirken , die Linie auf dem Spiegel .

Vielleicht würde mein Bruder sagen : Kokain setzt einen voll konzentriert auf die Startlinie , alle Beobachtungsinstrumente sind feinstmöglich eingestellt . Wie die beauty queen  , die gerade auf den Beobachter zugeht oder den Raum diagonal nutzt . Oder ein Schiff , das auf Dich zu hält und dann vorbei gleitet .

 

2

Wir zahlen , gehen , und sind ab Mittag auf der `Cythera´ unterwegs .

Die Sonne zeigt sich über Leverkusen , gibt aber die Belästigte ; scheint nur gelegentlich durch die Wolkendecke am Nachmittagshimmel . Der Fluss glänzt erst wie polierter Grabsteinmarmor ; dann wieder in Silberdunst , und ein kalter Wind legt nahe , wieder unter Deck zu

gehen . Malevitch kommt mit Mantel wieder . Der Wind fällt jetzt so stark von Norden ein , dass die Wellen flussauf  ziehen . Lichtschimmer bleiben noch auf dem Wasser , als wenn wer kleine Silbermünzen

streut . Da , für Euch !

 

Und ich verfolge dabei mit Sympathie das Ritual ihres ersten gemeinsamen Restaurantbesuches . Jedenfalls hier an Bord . Wessen ?  Dieser beiden hier .

ER hilft IHR aus dem Mantel . Beide sind nervös ; was sie da aufeinander einsprechen , würden sie nicht unbedingt gedruckt vor ihren Freunden verlesen hören wollen. Es käme jedenfalls nicht in die Rubrik :

 

„So noch nie gesagt !“

 

Oh Mann , Du merkst es . Du bleibst unter Deinen Möglichkeiten ! Sie natürlich auch . Aber man taut auf , alles wird spielerischer , ein fest versprochenes Gelingen der Gesten und Worte  hält Wort ; sie finden sich selbst und gegenseitig dann auch doch unterhaltsam und lustig .

Kerzen brennen  , obwohl es noch hell ist. Man berät sich über der Speisekarte ,  tauscht Erfahrungen aus ;

„ ich nehme hier immer …“ „ so was esse ich nie …“ :

Wichtige Worte sind jetzt (!)  `Immer ´ und `Nie ´ , die bekanntlich irgendwann mehr wollen . Kerzen . Sekt . Flüstern , nicht weil das Mitgeteilte Lauscher am  Nebentisch wirklich interessieren könnte , sondern weil es eine Art Transparenz-Burka über die Zwei senkt .

Die Musik ist leise , aber nicht abgelutscht , und streichelt den Ohren über die Wange ( sozusagen ) .

 

 

3

Die Kabine ist klein ! Und durch uns zwei und unsere Sachen wird sie noch kleiner . Alles ist mit unseren Anhängseln und Mitbringseln , sozusagen unserem Schatten gefüllt , so wie draußen eine Schleusenkammer irgendwann restlos mit Wasser vollläuft .

Es will uns so zur Ordnung zwingen , zwecks Platzbewirtschaftung ( nun tu doch mal Deine Sachen da weg ! ) , Ordnung , die aber sofort wieder zerfällt . Packt man die Koffer wirklich aus , stopft die Sachen in den Schrank ? Der Schrank ist zu klein . Nicht , wenn man so und so packt .

Ach lass doch . Oder , weil schon die Situation so neu ist  , belässt man die  Pullover-im Koffer /-auf dem Boden /-vor der Badezimmertür ?

 

Lass mich mal vorbei ach geh doch über das Bett . Guck mal das Segelboot vor dem Fenster .

Eine Blume (Tulpe ) in der Vase auf dem Tisch . Nimmt ja auch keinen Platz weg. Doch , wo soll bitte mein Laptop hin ?

Ich verstreue das Ausgepackte , die Bücher , die Gitarre auf dem Boden wie Landnahme .

Aber auch wenn Du Deine Sachen in der Fläche arrangierst und ich mir das Knie endlich an der offenen Kleiderschranktüre  stoße :

Es ist genug Platz da ; überall wohltuender Schatten , und das in der –

naja -Scheinwerferhitze unserer Erwartung . Ich gehe aus dem Schatten unter dem Fernseher am Schwenkarm ( Vorsicht ! Kopf !) in Deinen Schatten . Das Schiff ist die Zurücknahme der Welt , die Kabine die Zurücknahme des Schiffs , das Bett der Kern der Zwiebel , wie Starbacks sagen würde ; im Bett wir zwei . Das Bett eine Lilliput-isierung der Welt .

Und jetzt der schwierigste Satz : Ich bin die Verkleinerung von uns zweien .

 

4

Anderes Setting , anderer Tag  .

Sie ist schön , aber eher auf unbewusst- pflichtbewusste Art ; unbestreitbar schön , aber …..erst an siebter Stelle sexy .

 

„ Na DU hast Probleme,“ lästert Giacomo .

Ich habe ihm gerade erzählt , wie eine bestimmte Dame meinen diskret gemeinten , dann aber irgendwie dämlich wehrlosen Anerkennungsblick aufgespürt hat und  belästigt  guckt ; vielleicht hat sie sogar den Kopf geschüttelt . Ich kam mir , erzähle ich , ertappt vor , als ob mein Gesicht von einem Fahndungsposter in die Menge herunter sieht .

„ Du sollst nicht begehren Deines Nächsten Weib !“ sagt Pfarrer Knorr , um gleich hinzuzufügen :

„ Aber nehmen wir das nur so als Fastenaufruf . Und nach Ende des Ramadans macht alles noch mehr Spaß.“

Sein Telefon geht , und er meldet sich mit vollem Namen . `Knorr ; ja ; St. Emmeran ´ . Irgendwie im Tonfall von ` Rettung ist unterwegs , halten Sie durch !´

 

Besagte Betrachtete von eben ist die jüngere Schwester des Café-

Chefstewards und kellnert . Sie treibt das mangels Alternativen undoder zur Finanzierung ihres Studiums . Vielleicht schreibt sie ein Buch über

Männer , die sie `nur ´schön finden : Schlank , schmal , sportiv ; gebräunt , ein feines Gesicht , muntere Augen , Idealgesicht und Idealstatur . Soviel Ideal  geht nur in Verbindung mit

 

  1. a) Zynismus
  2. b) großer innerer Einsamkeit :

 

( sagt Giacomo )

„ Ach was sollen mir all die gebrochenen Herzen , all die Tricks der Männer , mir nicht allzu offensichtlich nachzustarren . All die Zwergperspektiven dieser Toulouse- Lautrecs .“

Die Zwerge wiederum sagen , aus reiner Notwehr  : Sie ist makellos und langweilig wie ein Stück Seife .

 

Gut …..Aber jetzt geht sie gerade in die Knie . Um den Zwergpudel ihrer besten Freundin ( ja, sie hat sie so was !) zu kraulen . Sie krault . Und gibt es hier auch nur einen Mann an Bord , der sich nicht wünscht , sie würde ähnlich

 

– schmalfingrig gelenkig geduldig

 

seine Eier kraulen ?

 

 

5

`Mit wem schlafen´!

Kann man das bitte mal wörtlich nehmen ? Nein , Heureka ! das ist vorläufig nicht kommunikabel oder auf dem Markt verwertbar ….Mit wem schlafen : Also abends durchaus schon ein bisschen müde sein ; auch wenn Situation und Partner sexuell inspirieren , sogar elektrisieren : Ihre schnelle oder langsame ,vielleicht ungeschickte Bewegung beim Ausziehen ; sein Geruch . Dabei und dann und danach : Fast verwaschene Handgrifflichkeiten und Operationen ; dann angeschmiegt einschlafen , bestimmt fast gleichzeitig auf die Minute .To sleep to

dream .

Aufwachen . Durchaus versetzt , erst ich , dann Du .  „Wie lange guckst Du mich schon an?“ ( Wie hat sie mich angesehen , wie habe ich ausgesehen ?)  Einander erzählen , fast schon mit Ausblick aufs Frühstücken , wie das jeweilige Eintauchen in , Auftauchen aus Kindlichkeit  war : Wie man während des Kinoerlebnisses nicht spricht , erst hinterher über ein Gemeinsames : Das Gemeinsame ; das Suchen , kompetentestes Suchen nach der je eigenen Kindheit , dann auch der des Anderen, von der man dann einem fast sicher dem gewachsenen Zuhörer erzählt . Kindlichkeit als Inbegriff von Geborgensein , auf keinem Prüfstand , unexponiert , gekuschelt .  Mit jemand schlafen : Wo war da der Sex ? Hatten wir `guten Sex´?

Abschiednehmend küsst er noch einmal ihre Brüste oder legt seine

Hand auf ihre Scham .

 

An Tisch 13 bemüht sich zeitgleich ein aufgedrehter Kegelclubskorporal um eine korpulente End-Fünfzigerin .

„ Was sie nur hat ? Dass er sich so um sie bemüht ?“ wundere ich mich . „ Vielleicht lacht sie ja immer an den richtigen Stellen ,“ sagt Starbacks , der wohl auch heute wieder seinen gütigen Tag hat .

„ Willkommen willkommen willkommen an Bord ,“ begrüßt er später die neuen Passagiere in Mannheim .

Neben einigen alleinreisenden Damen und Herren , deren  weiteres Lebensschicksal sich vielleicht noch Richtung Cythera verknüpfen lässt , gibt es auch undynamischere andere Fahrgäste : Rheinliebhaber , Urlauber , Großeltern mit Enkeln und sonstige Japaner .

An ein Ehepaar gewandt , die beide wirklich überdurchschnittlich beleibt sind , sagt er dann :

„ Bei Ihnen haben wir ja überlegt , ob wir sie beide in der gleichen Kabine unterbringen können .“

Der Mann ist verwirrt und sagt : „ Wie meinen ? Wir sind durchaus ordnungsgemäß verheiratet !“

„ Hat damit nichts zu tun ,“ schnarrt Starbacks und macht jetzt auf norddeutsch- knorrigen Skipper  , auch wenn er gerade keine Pfeife zwischen den Kiefern klemmen hat ;

„  Sie  verssstehn : Wenn Sie beide in der gleichen Kabine sind , sind Sie ja mal auch auf derselben Schiffsseite , und das man bei Ihrem

Gewicht …“ .

Er fügt hinzu : „ Da braucht es ja wirklich nur einen Stups , von `The Nudge´ zum Beisssspiel , Sie wissen schon , und der ganze Kahn geht kielüber hops . Muss man ja dran denken , nich .“

Solchermaßen ganz alte Schule und instinktsicher in Sachen Humor : Starbacks halt , und kaum wer nimmt ihm irgendwas übel . Außerdem ist er eben der Kapitän , mit Streifen und Knöpfen aus Gold am marine-blauen Jacket.

 

Der beleibte Herr wiederum ist der Bauunternehmer Schlupkothen , der vor einem Jahr knapp einen Herzinfarkt überlebt hat .

„ Hier meine Visitenkarte,“ drängt er sich jeglichem Begegnenden auf ,

„ Seit  seinem Infarkt hat sich der Absatz seiner Visitenkarten verzehnfacht,“ stichelt seine Frau .

Und der Käptn flüstert mir zu :

„ Reine Schlagfertigkeit ! Manche Leute heiraten , nur um dem Schicksal zu zeigen : Ihnen fällt was ein .“

 

Und er blinzelt Susanne an .

Susanne kam ursprünglich aus der DDR , wo die Frauen , etwa ihre Mutter , emanzipierter waren als in Deutschland -West und auch Lastwagen fahren durften . Sie hat sich für ihren Vortrag auf

 

`1848 : Das Bürgertum scheitert in der ersten deutschen Revolution ´

 

spezialisiert ; und nicht zufälligerweise kommen wir heute an Rastatt

vorbei . Damals (1848 )  trennte bekanntlich der Rhein die verzweifelten Demokraten in Württemberg vom Überleben im freieren Frankreich .

 

Susannes Blondheit hat Pornographisches an sich ; von ( soll ichs

sagen ? ) getürmten üppigen Heuhaufen , Sonne , Wind ; und Laufen mit Schwung . Auf ihren Bildern greift der Wind in die Scham und die Haare sonstwo ; sie blinzelt voller Freizeit in Sonne und  Kamera . Susanne stemmt sich gegen einen Baum und spannt den Körper , beugt sich nach vorn und lacht über ihren Brüsten den Fotografen  an .

 

6

Wenn man den Blick von  `The Nudge´( diesmal in Grün gedruckt , auf der linken Abside von St. Bartholomäus ) abwendet und in diese Richtung guckt – oder diese – oder eigentlich egal  : Dann merkt man gar nicht , dass diese Stadt an einem Fluss liegt . Was sage ich Fluss : An einem Strom , einem breiten schicksalsbrünstigen Strom . Ich hätte gerne eine Wohnung am Ufer , mit Blick auf die beiden Biegungen des Rheins , sage ich , Arne Hammelrath .

 

Für andere ist so ein Wunsch von vorneherein unerschwinglich ( Reiche sind immer eher da und einfach instinktsicher ,  was Lebensqualität angeht ) . Und wir , Arne Hammelrath und Frau , haben wenigstens diesen Bungalow am Park , auch ganz schön ; Anne liebt ihn , mir ist er mehr ein Klotz am Bein . Also : verkaufen ist nicht .

 

Aber die Stadt liegt ja auch noch an einem Fluss . Dort heute angelangt , lebt alles in mir auf . Vögel streifen hin und her über dem Wasser , fliegen das Revier ab. Ein Tanker stemmt sich flussaufwärts . Wie stabil das Land daliegt , an dem so ein Fluss vorbeifließt ! Der Strom kümmert sich um nichts , sagt immer nur ja ja ja , rauscht ein bisschen um den Bug . Der Fluss hat so beneidenswerte Scheuklappen auf , sagt ja ja ja , dies ist die  beste der Welten , mindestens schon einmal bis zur nächsten Krümmung . Und ein Morgen , der mit dem Warmlaufen der Schiffsmotoren anfängt , kann eigentlich nur noch gut werden , sagt   jedenfalls Starbacks immer .

 

Die zweite Festzeit des Tages ist für mich der beginnende Abend . Für dieses Paar hoffentlich auch . Auf dem Fluss fällt die Dämmerung , kommen Abend und Nacht ; die Frau an Tisch 14 im Bordrestaurant der `Cythera´ zeigt ihm irgendwas , was er nicht lesen kann ; er kramt unter Entschuldigungen erst mal seine Brille heraus . Sie geht zur Toilette , er lässt sich im Sessel nach hinten fallen .

 

Beide überlegen ; bisher geht doch alles sehr nett .

Sie kommt zurück , beide lächeln ; ein Lächeln , wie es nicht vor dem Spiegel geprobt werden kann ; wie es unvorhergesehen hier jetzt heute zum ersten Mal gezeigt wird , und der verstohlene Betrachter vom Nebentisch  findet , dass die beiden Liebenden sich – um ein großes Wort zu verwenden – entlarven , sich ganz schutzlos zeigen ; demonstratives glückliches Schutzlos-Sein , Angekommen , Ange-kommen im Richtigen . Fertig. Zur Abfahrt .

 

Er geht zur Toilette , sie lässt sich im Sessel nach hinten fallen . Beide haben Muße zum Abwägen ; bisher geht doch alles ganz nett .

 

7

Steffika muss in Bonn eine Stunde Zeit totschlagen , ehe sie an Bord gehen kann . Sie schlendert los , Richtung Hofgarten ,  spazieren .

Dort ist heute an einem Montag morgen himmlische Ruhe : Wandeln im Park oder in der Natur , eine von Steffikas Oasen . Bäume gucken , Wind fühlen , Vögeln beim Rumhüpfen auf dem Boden zusehen ; Bäume im Park , noch regenglasiert , wie dicke Männer in Duschen .Den längeren Atem genießen : Das ist

 

– es .

 

Spazierengehen ist wie Bügeln . Besänftigen , streicheln ( eine Landschaft , einen Wald , einen Blick aus dem Wald heraus , Fernblick ),

etwas herstellen , was so nur Menschen mit ihrem Blick herstellen können .

Bügeln ist wie Spazierengehen . Wie Schneien . Abschalten . Ein Hemd auf dem Bügelbrett , mit den Fingerspitzen , ausweiten , über den Rand hängen lassen und dann wieder auf dem Brett ausbreiten .

 

Wenn Liebhaber sich einfach streicheln lassen . Nach Möglichkeit nichts sagen . Die rechte Hand , die linke Hand streicht  je in andere Richtung ,

über eine Männerbrust , einen Schenkel entlang , über eine Hinterbacke,

geht über Stock und Stein bei Glied und Cojones , Schlucht und Hindernisparcour ;  dann auch wieder über Schultern , Kinn , Haare .

 

Steffika hat in ihrer Website angegeben , sie stehe bzw. be-stehe nicht unbedingt auf  `Geschlechtsverkehr ´, was ja auch nach § 27 StVO

klingt . Sie steht auf wortlosem In- die- Weite- streichen , nicht einem

Höhepunkt zu ; der Weg ist das Ziel . Ficken erlaubt . Aber .

Spazierengehen , Atmen , Bügeln , Schneelandschaften , willkommene Glätte verbreiten , das ist ( wenn man sie fragt/man fragt sie ) ihr Begriff von Extase .

 

Leichtsinn will  gekitzelt sein , sagt Giaco , und der muss es ja wissen . Einmal ist keinmal . Oder demnächst sehen wir weiter . Manchmal findet die erotisch intensivere Begegnung erst später an Land statt . Oft gar nicht . Nicht selten eben aber auch an Bord . Dann schon mal zwei Tage am Stück , und draußen baumelt das Schild an der Tür

 

 

` Don´t disturb ´

 

( Großbuchstaben ! Dazu hat wer gekritzelt   `wir kennen die Wachau schon´ ) .

 

Originalton Giacomo Neuhaus: „ Flirten ist ein Anti-Gravitations-programm ; der Versuch , Menschen beim Lächeln zu helfen.“

 

8

In zwei Stunden werden die beiden da drüben miteinander schlafen . Der Countdown läuft !

 

Flirten ! Tu Dir den Gefallen ! ( sagt Giacomo Neuhaus ) . Du faltest dich

beim Flirten selbst auf , kriegst Profil  ; man fühlt sich ermutigt , `ich ´zu sagen . Zutraulich ! vermittelst eines Lächelns . Bluff und Verkaufe gibt’s auch , aber nur als Startschuss . Je länger der Flirt dauert , desto mehr Selbstentdeckung ist dabei. Sätze , die man sich auf einmal selber glaubt ! wie sie beim Flirten vielleicht gar  nicht gesagt werden , aber empfunden . `So siehst Du mich also ? Da könnte was dran sein ! ´oder `Lass uns diese interessante Theorie doch zusammen weiter verfolgen ´.

 

„ Na ja , das war früher mal ein guter Trick,“ meint Giacomo gnädig

und  zitiert : ` Ich weiß nicht , irgendwie erinnern Sie mich an jemanden !´

„ Wieso Trick ,“ fragte ich . „ Ich werde einfach alt . Mittlerweile erinnern mich tatsächlich die meisten Menschen an irgendwelche Andere , sozusagen die  Copyright-Inhaber.“

 

 

9

Gleiten weitergleiten merken Sie sich gut was Sie sehen Sie werden es nicht wieder sehen bzw. nur aus der Perspektive verlieren schon ist der Steg klein kleiner weg ; weiter gleiten , gleiten , träumen .

 

Da ( an Land ) ist meistens Ernst .

Hier ist Zur-Kenntnis-Nehmen . Eine Flusskrümmung nehmen und ein Kapitel ist zu . Wir nähern uns Stade . Ja wir haben es gesehen , aber wir konnten nicht anhalten . Ein Mensch fiel ins Wasser , aber wir

waren , als es auffiel , schon zwanzig Meter weiter ; drehen kann so ein Dampfer nicht , ein Boot zu Wasser lassen , Rettungsring werfen , das schon ; wer hat ein Rettungsschwimmerabzeichen ?  Starbacks nicht .

 

Alles was auf dem Fluss schwimmt , Treibgut , Flaschenpost , andere Schiffe ; auch die , die uns entgegenkommen ? die auch , und wir ; wir sind eine andere Welt als dieses oder das andere Ufer . Kaum hat man den Fuß an Land gesetzt , gelten wieder , wie vorhin , Steuervor-schriften,  die StVO und  Förderquoten . Wie auf der zurück-gelassenen anderen Seite . Im Winter kein Fährdienst .

 

Die `Cythera´  kommt  zwischen Otterndorf und Cuxhaven an der

` Filadière ´ vorbei . Das ist heutzutage ein teures Restaurant , für die Ganz Wenigen ; seine Terrasse schaut auf einen ehemaligen Anleger . Im Krieg ist hier ein italienischer Frachter bombardiert worden , der immer noch als Wrack auf dem Flussgrund liegt . Bei jeder Flut verschwinden die Aufbauten ; bei jeder Ebbe kippen ablaufende Gießbäche von den Seiten des Schiffes herunter in die Elbe .

 

Wir werfen einen Blick auf das Heck des anderen vor uns in Stade angelegten Schiffes . Die untere Etage ist die Raucherecke der Crew , oben sieht man Trimm-Dich-Räder , sozusagen ( sagt Starbacks ) die Laufräder des modernen Hamsters . Athletische Nager .

 

10

Wie wird nun also der Tag ?

„Ich lasse mir morgens mein Horoskop vom Leergutautomat aufstellen

( sagt Starbacks ) . Wenn ich der erste bin , direkt loslegen kann mit Flascheneinwurf , ist alles prima . Das wird ein Tag !  Meist aber ist irgend so ein Flaschenliebhaber vor mir . Schon ist der Automat überlastet , die Mitarbeiterin schwer aufzutreiben ;  verschieben wir das erste Erfolgserlebnis des Tages also . Der einzige Trost , wenn da so eine Säuferseele die Beweisstücke  vor mir beseitigen will und ich warten muss : Zu sehen , dass es tatsächlich Leute gibt , die mehr saufen als ich .“

Sagt Starbacks und bestellt sich sein Bordfrühstück .

 

Das letzte Mal ( sagt sich gleichzeitig  Elvira ) , bevor wir ins Bett

gingen , war Kilometer 689 . Jetzt , bei 721 , gehe ich unter die Dusche . Bei Kilometer 775 sitzen wir an Oberdeck und studieren die

Speisekarte . Aber der Wind  gönnt einem ja gar nichts , sagt Elviras Gast , und kämpft an  einem Zipfel der Tischdecke , auf dem er  Weingläser und Silberbesteck zur Stabilisierung postiert .

 

Der wohlhabende Rentier , wie Elvira und Steffika ihn an Bord öfters begrüßen dürfen , kann sich immer mehr leisten , leistet sich auch alles .

Aber die Geschenke , die er sich selber macht , die Begegnungen , die er herbeiführt , die Freuden , die sich einrichten lassen : Sie haben alle keinen Hall mehr , sagt mir Elviras Gast . Er denke am nächsten Tag nicht mehr daran : Die Schraube dreht schneller , dreht leer . Man verkauft dem Teufel ein paar Tage seiner Restlaufzeit , um noch einmal ein Erlebnis mit Hall ,mit Gedächtnisecho , mit besänftigenden Handstreicheln geschenkt zu bekommen.  Deswegen ist er ja schließlich auf der `Cythera´ .

 

„ Sind Sie hier richtig ? Welche Frage !“

Hier mehr als sonst wo . Vielreisende . Das sind wir doch alle hier an Bord , oder im Café . Heimat , sagt Steffika , ist wenns wo meine Dusche tut .

 

Ach ja , die Heimat …..Wir sind ganz zuverlässig darin : Wir sind jetzt woanders , werden nächsten Monat wieder woanders sein ; siehst Du die Kuhherde da am Hang ? Unglaublich , was diese Tiere an Klettereien unternehmen , immer der Farbe Grün nach . Der Bauer bringt sie im März hierher ,und dann überlässt er sie sich selbst . Irgendwo innerhalb meines Zaungeheges werden sie schon sein . Sie sind mittags in der Hitze woanders als morgens , aber ich finde sie , sagt der Bauer . Die Herde erinnert mich an unseren Reisestil .

 

11

Malevitch und sein Neger ! Lord Bypass heißt er übrigens ; er  spielt Geige zum  Rap , und diese Mischung ist  seit mittlerweiledoch schon fünf Monaten sehr angekommen und angesagt : Rohe Rumpeligkeit von Samples und Beats , aggressive Nachdenklichkeit bei geschmeidig-rollenden Raps . Grandios gut gealtert . Diese Zwei-Mann-Combo hätte öfters an Land spielen können , fühlt sich aber auf der `Cythera´ wohl genuger .

 

Und an jenem Tag steuern wir Koblenz an . Malevitch greift sich schon vor dem Nachmittagsanleger das Mikrophon .

„ Sehen Sie all die neidischen Flaneure auf dem Uferkai ? Die beneiden SIE , meine Damen und Herren ! Gucken Sie hin : So sehn Neider aus !  Natürlich auch unseres Kulturprogramms wegen , das Sie heute abend in voller Länge genießen dürfen ; und hier aber schon einmal , während der Kapitän noch manövriert , eine Eröffnung mit einer Liebeserklärung an meine Heimatstadt , Koblenz : Die Ballade heißt

 

 

` Famous Last Words before Gentrification ´

 

 

Ich darf Sie nun zur Stadtführung begrüßen ,

Sie werden sie –wetten ?-  genießen

unserem Motto getreu :

Ferne ? liefert nur Einerlei ;

interessant ist erst das was ganz nah

und so bisher noch niemand sah .

 

Kommt man hier aus dem Hafen raus

stößt sichs gleich auf ein Riesenhaus

Haus Westland einst genannt

wo früher Stadtverwaltung stattfand

seit Jahren stehn die Etagen leer

doch unten gibts regen Kundenverkehr :

In den Straßen- Arkaden

jede Art von Laden :

Türkische Flatrates armenisches I -Phone

schwarzer Tropen Früchte

Straßenhändler : Produkte von Mohn

kaum wer verstünde hier Deine Geschichte

auch nicht der syrische Friseur

sein Chef kam damals aus Beirut

wo dieFamilie nun im Massengrab ruht

und um die Ecke gibt’s noch mehr

nahen Osten in der Straßenzeile

Mund -und Mauerfäule

 

ein Sexshop von seriöser Ukrainerin

( da geht auch unser Schreiner  hin )

 

vor ` money transfer worldwide ´

übersetz ich den Asylbescheid

von Ali und Demirkan

während Hunde uns umwedeln

und Penner kleinlich Intrigen einfädeln

wann sage mir nur wann ja wann

 

wird Haus Westland endlich abgerissen

dass wir dies nicht länger sehen müssen

meint auch `Bild´ : Was für ne Verschwendung :

Alle diese Etagen stehn leer ?

gibts da keine seriöse Verwendung ?

Eine echte Shopping Mall müsste da her ;

aber diesmal so richtig

mit Flair das ist wichtig

man hört das von anderen Städten

so lässt sich Infrastruktur retten !

die Neger und Jugoslawen

und ihre kehligen Enklaven

und die Sportwettenläden :

Nichts als Dauerschäden , sage ich , Dauerschäden

am Ruf unserer Stadt

die doch auch ihre schönen Seiten hat !!!!

 

Der Charme von dem Rattenkasten

nicht nur was  für Cineasten

Stadt unter tintigem Himmel

hinter dem Haus : manch Pimmel

in diesem wilden Pissoir ist schwarz

wenn nicht schwarz gehört er einem Harz

4 ler mit Bier vor dem 1 Euro shop

was für ein Biotop Prokop

wurde grob als man ihn abschob

auch ein Sperrmülldepot von Rumänen

ist noch als Farbtupfer zu erwähnen

ein Gebrauchtwagenmarkt für Menschen mit Mut

vorm Haus bricht sich die Asylantenflut

ins Nachbarviertel einen Straßendurchbruch

hier wirft die Polizei das Handtuch

wenn auf dem Negerstraßenstrich

sich Streetworker mühen ehrenamtlich

 

nun sind Sie im Bild über Koblenz am Rhein

man will ja auch realistisch sein

etc

 

 

12

Ja , vom Leben kriegt man schon eine Hornhaut , zumindest , wenn man in großen Städten wohnt , denkt Starbacks .

Seine Kabine ist zur Landseite gelegen . Hinter dem Geräusch des Turbinenanlaufens hört er auch die Vögel im Geäst der Uferplatanen . Brauche mir gar keine Volière anschaffen , denkt er.  Er mag dieses Geräusch von Kommunikation , wahrscheinlich dringlicher .

Zeit meines Berufslebens , denkt der Schiffsführer  , habe ich irgendwie mit Turbinengeräuschen gelebt . Nein , ich bin nicht verheiratet . Das muss mit meiner Perspektive auf das Land und die Leute , die da wohnen , zu tun haben . Meine Flüsse sind immer eine Art Andreas-Graben ; jeden Augenblick kann ja der Kontinent in der Flussmitte abbrechen und verschwinden . Was an Land geschieht , ist irgendwie vorläufig , nimmt sich zu wichtig . Auch auf dem Land kann man sich voneinander entfernen oder aufeinander zu fahren , aber auf dem Fluss ist die Fahrt ernster gemeint . Und Seeleute auf dem Meer sehen das Land nicht , kommen nur von Zeit zu Zeit in Landnähe um zu schauen , ob es noch da ist  .

Von der Brücke des Flussdampfers ist man immer auf Kontrollfahrt , fährt Inspektion , studiert ungläubig beide Ufer ; nimmt Stichproben , solange die Ufer noch nicht von beiden Seiten in den Fluss abgekippt sind .

 

„ Herr Starbacks ,“ fragt Steffika schelmisch , „ habe ich Sie nicht gestern aus dem Pornokino Werthstr. kommen sehen ?“

„ Die mit dem Sondertarif :1x für Samenspender ?“

Alle sehen den Käptn an .

„ Ja , wollte ich gerade erzählen ,“ entgegnet dieser ungerührt . „Eigentlich war ich auf dem Weg zum Augenarzt , und da sehen Sie

mal , wie dramatisch mein Augenleiden mittlerweile ist : Ich habe mich glatt verguckt und bin in der falschen Türe gelandet.“

 

Tja , dieser Starbacks . Klein , untersetzt , Glubschaugen , immer mit Baskenmütze auf dem Kopf , glubschige Lippen und viele Pockennarben im Gesicht . Ein guter Kapitän , offensichtlich .

 

„ Und : Haben Sie auch Herrn Ratzy gesehen ? Der war zufälligerweise ebenfalls in der Gegend ; genauergesagt auf dem Bürgersteig  andere Straßenseite .Machte da Photos .“

 

13

Details werden in der  Branche der Geschichtenerzähler meist überschätzt , deswegen hier nur die Kurznachricht  :

 

Der Lord singt zum Zahnarzt- `Get Together´, wie Kongresse neuerdings heißen , auf der `Cythera´ , Hauptboot des Vergnügens . Und seine Hymne stößt erwartungsgemäß auf  Beifall  :

 

 

Dem Zahnarzt sei gedankt

wenn das Lächeln blitzt und funkt !

Das Lächeln dieser Maiden

das sie nobilitiert das alle beneiden

wär sonst schwer zu unterscheiden

vom Kartoffelacker

Du Motherfucker

 

der Perspektive entlang

eine Reihe Unschuldsvermutung

Unschuldsweiß

macht alles andre gleich mit erotisch

den Dentisten gebürt der Preis

 

Ja dem Zahnarzt sei gedankt

wenn das Lächeln blitzt und funkt !

Lippen schmollen oder

sich zum Kuss erbieten

oder stur wie Buster Keaton

oder heiß wie Marilyn und

andre Leinwandmythen

 

 

Giaco reichert , wie man gerade wieder hört , das Bordprogramm durch anzügliches Allerlei an . Nicht wenige der  (Spezial-)Kongressteilnehmer kommen wieder als allgemein Kontaktfreudige  und verbringen dann manch weiteren Abend und Nacht in professionellen Armen  .

 

Herr Störtebecker etwa kam das erste Mal auf die `Cythera´ anlässlich einer Entziehungskur . Das erste Treff der

 

`Monologisten auf Entzug ´

 

hat der Organisator nach langer Beratung mit den anderen Vorstands-mitgliedern mit Absicht auf unserem Dampfer anberaumt . Wohl weil der Fluss sie daran erinnern sollte , dass Rede`fluss´ (  ! ) sich als  ihr gemeinsamer Gegner  herauskristallisiert hat .

 

Die Vereinsmitglieder sind erst einmal Menschen , die ihre Einsamkeit als Folge einer Monologie-Besessenheit diagnostiziert haben . Zum Anderen jene , die sich als unschuldige Opfer dieser Obsession ausweisen konnten ; zahlenmäßig überwiegend Ehemänner .

 

Ich erinnere mich , dass am Morgen des dritten Kongress-Tages bereits

Erfolge zu verzeichnen waren . Menschen , die ich vor zwei Tagen noch als `normal ´ ,  soll heißen robust  dialog-unfähig , wahrgenommen

habe  , verteilen sich jetzt freundlich nickend an den Tischen ,  schauen einander in die Augen , bekunden offensichtlich Interesse an ihrer Umgebung ; bringen freundlich , aber lang-, geradezu bedachtsam und leise ein gewispertes `Guten Morgen ´ über die Lippen ; es dauert , bis sie die Frage ( ebenfalls zart und mit spitzen rhetorischen Fingern dargebracht ) äußern : `Wie geht es Ihnen ?´

 

Wobei ich ihnen glaube , dass sie dieses Interesse aufrichtig empfinden . Hartnäckigere Charaktere , deren Heilung noch nicht weit fortgeschritten ist , schieben an dieser Stelle vielleicht , nach eher kurzer Sprechpause , den Folgesatz  nach : `Haben Sie gut geschlafen ? Das Boeuf Bourguignon war ein wenig schwer , nicht wahr ? Bei unserem

Stamm-Franzosen in Bergheim , sie wissen schon ..´ ; und da werfen

sie den Kopf hektisch herum , fühlen sich ertappt , laufen schamrot an und schweigen jetzt in innerer ehrgeiziger Verbissenheit so lange es

noch eben geht .

 

Auch andere sind jetzt so gut therapiert , dass ein Gespräch ( wie

gesagt :  Schon am dritten Tag der Reise ! ) nur schwer in Gang kommt . Auf die Frage des Kursleiters dann , als wirklich niemand  einen Anfang machen will , „wer möchte denn einmal das Eis brechen und erzählen , wie das ist , damals , als Sie das erste Mal merkten , dass schon Ihre  allerersten Worte Startsignal für Massenfluchten waren  , die Menschen aus Ihrer Umgebung auf Parties zentrifugal in den Raum wegkreisten : `Ach , Müller , da ich Sie gerade sehe , altes Haus …´:

Und wie ist das JETZT , und was hat sich jetzt geändert für Ihre Sozialkontakte ? Wie wollen Sie die gesteigerte Zahl Ihrer neu gewonnenen Freunde in Ihren kommunikativen und sozialen Alltag integrieren ?“

 

Kurzum , auf diese Frage meldet sich niemand . Alles druckst herum , taucht unter den Tisch um imaginäre Schuhbänder neu zu binden etc .

Die Situation wird ein wenig entkrampft , als eine Frau den Saal betritt , sich suchend umsieht , langsam (wie widerwillig) auf den Leiter zugeht , sich räuspert und sagt :

 

„ Ist das hier der Therapiekurs ?“

 

Der Leiter strahlt auf und sagt : „ Ja , natürlich , bei uns sind Sie richtig ; keine Sorgen, Sie sehen , Sie sind in bester Gesellschaft ! Frauen sind auch nicht zu knapp vertreten in unserer Runde , hier , wo man sich schon recht erfolgreich das Monologisieren abgewöhnt hat .“

 

Die Neuangekommene stutzt , schaut noch einmal auf dem Raumplan des Schiffes nach und sagt dann :

„ Nee , schon gut , bin falsch hier ; wollte zum Kongress der Morgenmuffelschweiger ;  Motto : `Schweigen als Waffe – nie wieder ´. Aber das ist wohl auf dem Deck hier drüber .“

 

Sie hat sich allerdings vertan : DER Kongress ist erst nächsten Monat .

 

14

„ Und Steuerberatung geht auch ?“

„ Ach ! Daran hatte ich noch gar nicht gedacht ,“ sagt Giacomo Neuhaus

höflich ; „ aber…. ja , warum nicht ? Wir haben schließlich auch eine Psychotherapeutin an Bord . Nein , nicht für alle Fälle , wie Sie vielleicht denken . Aber die Dame ist von gewinnenden Umgangsformen , Ihnen sehr ähnlich  !“ ( never one for forgetting compliments !) „ und Vanessa bietet …..eine ganzheitliche Vorgehensweise an . Der Erfolg gibt ihr und uns recht .“

„ Ich heiße übrigens Steffika,“ sagt sie . Sie hat ein herbes Gesicht  bei

etwas spitzer Nase und pechschwarzen schulterlangen Haaren , ein bisschen wie die Hexe Gundel Gaukeley , die notorische Widersacherin von Dagobert Duck in Entenhausen . Ihr Lachen ist aber vergnügt  , ihr Körper sportiv ; kein Gramm Fett zuviel , vielleicht eine gute Läuferin : Langstrecke.

 

„ Mein Deutsch ist  schrecklich , weiß ich , aber  der Chef meinte , ich hätte so einen – wie sagt er ?-  erdigen (!) kroatischen Akzent . Ja , ich bin aus da unten .“

Weshalb sie viel erzählen kann über den Jugoslawienkrieg , den sie als

Kind erlebt hat . Sie kann , aber sie besteht nicht darauf . Eigentlich ist es egal worüber sie spricht , es ist sofort und unweigerlich eine exotische Szene , findet Giacomo . Sie lächelt gerne und verschmitzt .

Studiert habe sie in Ljubljana . Ihr erster Mann ist Russe gewesen . Und wieso ER  den Balkan kennen lernen wollte . Durch das Land der Skipetaren ?

Ach , Sie kennen Karl May ? Sie können sich denken , das ist bei mir schon 40 Jahre her , das ich mich in diesen Büchern kundig machte über die Welt.

„Durch die Wüste ,“ murmelte sie  ( studiert aber gerade das Menü auf der Schiefertafel . )

 

15

Das war letzten Monat .

Und heute ?

Business as usual and delightful . Draußen wird es  langsam dämmeriger , sie sagt : „ Hier müssen wir das Licht  aber auch noch viel romantischer machen .“

Schon zieht er  die roten Boxershorts aus und hängt sie über die Wandlampe .

„So besser ?“ fragt er.

„Haben Sie nicht was in Blau ?“ fragt sie .

 

Sie hat sich jetzt vor ihn gelagert ; er knetet ihre Schultern und kann ihren frischen , erstmals für ihn entkleideten Körper  im Spiegel sehen , seinen Kopf an ihrem Ohr . Er reibt sein Glied an ihren Pobacken vorbei und gleitet irgendwann von hinten in sie ein . Es schmatzt . Sie seufzt nur anfangs , ist dann  bei seinem Ausholen , Ausloten , Schieben und Stoßen , kokettierendem Rückzug …….ziemlich leise ; ganz leise .

 

16

Eines frühen Morgens  in Mülheim . Allgemeines Hähnekrähen . Ein Auto wird gestartet und das Scheinwerferlicht fällt auf einen Straßenreiniger in gelber Alarmmontur , der gerade Scherben zusammenkehrt und überhaupt die Reste der Nacht , die eine große Verschmutzerin ist .

Ach ja , und in der Etage über mir beginnt die Raumpflege ; wo der Staubsauger sein traurig Lied singt , da bin ich zuhaus  oder nicht ? Der Tag füllt sich mit Antwort , mit  Entwurf , Fluch und Fluchtweg.

Ich gehe zu Fuß zum Schiff  . Das Wetter bietet  Schneeregen und heftigen Wind ; winterliche Feuchtigkeit findet  sachverständig ihren Weg zur Haut .  Tauben drehen Spiralen über den Dächern und bestehen ruhelos auf der Stadt : Hier ?  Dort ? Hier !

 

Und ich genieße es , die Sicht auf das Rheinknie ganz für mich allein zu haben . Der Fluss führt Hochwasser ; an den Ufern kreiseln Wirbel , die nicht vorankommen . Die Tischplatte schwamm hier gestern auch

schon  . Was sich endlich an Strandgut auf den Weg gemacht hat , wird nach hundert Metern wieder zurückgezogen .

 

Ein anderes Passagierschiff , `Dalmatia Queen ´ , liegt , besser gesagt tanzt , an seinen Trossen da vorne , in  Fanfaren-Weiß . Auf windüberlassenem Parkplatz steht ein Paar umschlungen , bei Näherkommen als älterer Mann und jüngere Frau zu erkennen . Sie umarmen sich inniglich . Dann steigt jeder ins eins der beiden hier

einsam geparkten Autos . Sie fahren ab und der Parkplatz ist leer , außer mir , der ich ihn gerade erst betreten habe .

 

17

Einer der Kunden grübelte gestern über dem Prosecco :

„ Sie sagen sündig ? Ich meine eher , ich habe ein Unschulds- Abenteuer , Abenteuer IST Unschuld ! Gute Lüftung , und Fenster

auf ! Das gute Gewissen , der Frischefaktor ! Wie ein  Startschuss , den wir beide gleichzeitig gehört haben .“

 

„ Und ? Wie war ich ?“  ist eine Frage , die Steffika niemals stellen

würde .

Die Kunden ? Schon eher. Schließlich ist man ja nicht nur Kunde hier – nicht nur ` nicht nur´ , sondern eigentlich eher gar nicht , eher Gönner , Gesprächspartner , höflicher Reisegenosse im selben Abteil , der beim Hantieren mit dem Koffer behilflich ist .

Eher möchte man von Steffika wissen ,  ob sie sich nur in Betrieb genommen , bedient,  angestellt fühlt , oder begehrt , umworben , geschätzt , respektiert .

„ Wie bin ich ? Wie finden Sie meine  Unterwäsche ? Meine erotische Ausstattung ? Dieses Modell ? Fühle ich mich gut an ? Rieche ich gut ? Bin ich ungestüm , gierig , ist mein – ja – Bedürfnis nach Samt und Seide spießig ? Komme ich zu langsam ? Atme ich zu laut ?“

 

Alle diese Fragen sind – wie man weiß – möglich , werden hier in der Regel aber nicht gestellt . Steffika fragt  belustigt : „ Soll ich Ihnen ein Zeugnis ausstellen ? Haben Sie mal einen Stift ? Und was zum Ankreuzen ?“

 

Erpressung , möchte man meinen , sei nicht gut möglich in dieser liberalen Klientel . Vielleicht aber doch ein gutes altes Eifersuchtsdrama .

Und dann gibt es ja tatsächlich auch diese Papparazzi… überall in der Stadt , nein ich bin nicht paranoid ; auch auf dem Kai vor unserem Anleger .

 

18

Steffika zieht den Vorhang beiseite . Der Fluss liegt glänzend in einer

kleinen Notration von Sonnenschein da . „ Irgendwas zwischen Lametta und Kokain . Und Aspirin ,“ denkt sie .

Licht schimmert noch einmal auf dem Fluss auf wie auf einer

Vitrine . Dann , binnen Sekunden , unter dem dunklen Geschiebe der Wolkenbanken , liegt der Rhein in grüner Tunke da .

Auf dem Nachbarschiff hat die Mannschaft eine Frühstückspause eingelegt . ` Dalmatia Queen´ ist auch nur ein Flussdampfer , aber ehrgeizigerweise  gemeldet mitten im Mittelmeer , in : Malta , La Valetta. Hat eine philippinische Besatzung ; die Matrosen werfen den Möwen Krumen zu . An Land versuchten sich Jogger auf der Uferstraße .

 

Giacomo wartet im Bordrestaurant , umschwappt von seinem Reich-Sein mit dem Stil , um den ich ihn beneide . Er hat heute , bei noch überraschend intensivem Dezembersonnenschein , einen verknautschten Strohhut  auf dem Kopf , der irgendwas dreistelliges gekostet hat , aber trotzdem verknautscht aussieht ( Delle nicht ab

Werk , wohlgemerkt  ) . Seine erlesenen Eigentüme haben erzählerische Patina um sich , eine unverwechselbare Narben- und Hornhaut

vielleicht , anders als die diamantenbesetzten Handys im Oligarchen-milieu . Oder die SUVs der Anlageberater .

 

„ Willkommen auf unserem Kahne , im Reich der Scharlatane,“ begrüßt Starbacks die Gruppe von fünf zusteigenden Passagieren in Ingelheim .

„ Stimmt es , dass Sie Künstler vom Zirkus Conralli an Bord haben ?“ , fragt einer der Herren und hält seinen Hut im letzten Augenblick fest , bevor die niedrige Tür seine Kopfbedeckung abstreift .

 

Und Denise fängt Giacomo ab : „ Was tun , wenn der Kunde offenkundig nur eine Möglichkeit sucht , sich  auszuweinen ? Da fühle ich mich nicht zuständig , das langweilt mich auch nur .“

Giacomo  verspricht also , das Angebotsprofil in der Werbung deutlicher zu nuancieren .  Was herauskommt , ist die optisch schön aufgemachte Seite :

 

 

` Do´s and Don´ts :

 

Oder : Was Sie von uns erwarten können …und was nicht .´

 

 

 

`So wie wir keine Sado/Maso-Bude sind , wollen wir auch andere Serviceleistungen von vorneherein unseren Konkurrenten überlassen : Nein , wir sind nicht in Jerusalem und dies ist nicht die Reise dorthin ; DORT würden Sie die Klagemauer gegen geringes Entgelt nutzen können .

Unsere Crew ist hervorragend darin qualifiziert , Klagen gar nicht erst entstehen zu lassen . Wir fühlen uns hingegen nicht berufen , Ihnen ausführlich zuzuhören über frühere Fährnisse und Leidens- und Jammerszenarien .

Dazu sind wir zu teuer , und unsere fröhlichen Angebote verschmähen wäre : Reine Verschwendung .´

 

Für das Gespräch in Kabine 26 kommt dieser Eintrag zu spät .

Herr Ganser  , eigentlich ganz attraktiv , aber eben auch der vom Schicksal kleingemachte Typ , erzählt Klara von seiner Frau .

„ Am schlimmsten  – aber sie hat auch andere Pfeile im Köcher . Irgendwie ist  jeder Ehepartner Folterexperte , was die aufgerauhte

Seele des Anderen angeht ; – am schlimmsten , sage ich – mein Gott , ich rede so viel , sagen Sie mir wenn Ihnen das auf den Wecker geht –

wenn wir ein Gespräch haben ; was sage ich `Gespräch  ´; wenn halt irgendwas geklärt werden muss oder organisiert  : Ich muss ihr jedes Wort aus der Nase ziehen , und sie redet dann so leise , dass ich auch noch fünf mal nachfragen muss : `Was hast Du gesagt ?´

Also : Sie verlangt eine Unterwerfung , auf den Knien muss man rutschen , um ihre huldvolle Antwort zu erlangen – so , dass ich sie dann

 

-endlich!

-irgendwann!

-keine Sekunde zu früh !

 

verstehen kann .“

 

Klara kann wirklich gut zuhören , aber ihr fällt nicht unbedingt etwas zu dieser Sachlage ein  . Sie ist eigentlich auch mehr auf Tilman Riemenschneiders Altäre eingestellt  ; jetzt seufzt sie und versucht den thematischen roten Faden via `Der Schmerzensmann in der unter-fränkischen Hochgotik ´ zu knüpfen .

 

19

Da wird es vielleicht bald ein Jahrhunderthochwasser geben. Was ich zunächst spüre  : Der Fluss wird lauter . Akustisch ist das vielleicht  nicht messbar , aber der Pegelstand setzt sich um in akustische Präsenz und Dringlichkeit  .

Ja , an den Ufermauern sehe ich , dass die  Wasseroberfläche näher gekommen ist . Hier zwischen den Mauern von Lüttich merkt man davon mehr ; draußen auf dem Land wird sich der Fluss in die Breite verlaufen . Und von Lüttich aus flussab wird der Schiffsverkehr ohnehin auf ruhige Kanäle umgeleitet , den Prince Albert Kanal zuerst . Dort liegen Kilometer weit auseinandergezogen die Frachtmotorschiffe , die auf Aufträge warten . Wäscheleinen flattern besten Gewissens , die Schifferfamilie verpasst gerade nichts . Ab Maastricht mündet der Güterverkehr wieder zurück in das Flussbett , Hochwasser auch hier , die Zeit läuft aus , denkt  Bypass .

 

Aber der Fluss steht trotzdem für Friede , für  Großbuchstaben ,denkt Starbacks . Es geht schon irgendwie weiter, der Fluss weiß , wohin er will . Er gibt sich zwar als Mäanderthaler , scherzt der Kapitän öfters ; aber wenn er sich windet , bedeutet das nur , dass er sich seine Entscheidungen nicht immer einfach macht , dass er die Einwände

kennt , Kompromisse eingeht , aber ein Tuch über alle legt .

 

 

IV  Die `Cythera ´ hat , wie nicht anders zu erwarten , gefährliche Konkurrenz

 

 

1

Giaco registriert :

„ Morgens um 7 bin ich auf dem Weg  zum Schiff ; die ganze Welt ist auf  dem Weg zur Arbeit oder zur Schule . Vor allem hat es keine Frau zu Hause ausgehalten , scheint es , und alle ( nun ja fast ) Frauen , wenn sie alleine gehen und nicht in ihre beste Freundin gesprächsweise eingehakt sind , fast alle also sind in sich gekehrt und noch gar nicht darauf eingestellt , Blicke zu erwidern .

Sie kommen vom Spiegel , haben eben erst die Haarbürste beiseitegelegt und noch einmal den Lippenstift nachgezogen , zupfen an der Strumpfhose oder  helfen sich halbbeinig in hochhackige Schuhe . Alle frisch und zum Ansehen . Alle wollen frisch an die Startlinie in Büro oder Schule , mit Schwung , selbst im Halbschlaf .“

 

Na wartet , sagt auch Giacomo , womit er beileibe nichts Schlimmes meint , nur , dass sie gleich irgendwann merken würden , dass wer anders sie ansieht , in der U-Bahn oder am Bus , und dann fängt der Tag erst wirklich an , wird es spannend , offen , knisternd , auch wenn irgendwann der Lippenstift dann noch einmal nachgezogen werden müsste .

 

Mein Bruder steht vor dem Konditoreistand an . Eine der Bedienungen kommt , wie er vermutet , aus dem Iran : Sie hat pechschwarze Haare und dunkelste Augenhöhlen , ein orientalisches Gesicht mit Kirschmund und ist offensichtlich männerverachtend . Jedenfalls hier .

Gerade fragt sie ungehalten : „ Wer ist jetzt dran ?“

Eigentlich wäre das Giacomo , aber , geschickt wie der ist , zeigt er auf die alte Dame neben ihm ( nach ihm gekommen ) , auf dass er noch eine Minute länger die Maid aus Schiras in Bewegung bewundern

kann .

Diese hat – da halten wir alle Wetten – sein Manöver durchschaut , jedenfalls führen wir eine plötzliche Röte auf den Wangenknochen auf  Giacos treuherziges Schauen zurück .

 

Für ihn ist der Anblick schöner Frauen oder Mädels dann auch im Café

Rossini ( sein Hauptaufenthaltsort nachmittags ) wie ein Treff unter dem Weihnachtsbaum : Noch die Schwarzhaarigsten haben etwas von Rauschgoldengeln an sich ; Lametta und Kerzen , Lippenstift und

Rouge , überdeutlich schönste Zähne und milchrosa Schultern zu kraftvoll bejahenden deutlich verdeutlichenden Brustlinien .

Wenn Giaco hier sitzt , fühlt sich das Lokal sensorisch zersägt durch seine Fluchtlinien und Perspektivschneisen .

 

2

Sie telefoniert , er umarmt sie von hinten und legt seine Hände auf ihre Brüste . „ Telefonsex, you know ,“ sagt er . Der Erfinder der A.P.S.K.A. ist gierig nach ihr .

Sie sitzt vor dem Schminktisch und macht ihren Lippen Beine , bewegt

sie wulstig , um den Lippenstift fair zu verteilen .

 

„ Was ist das eigentlich , wofür Sie so berühmt sind : A.P.S.K.A. ?“

„ Steht für : Automatische Phonetische Selbstkontrolle für Amerikaner.

Bewirkt , dass noch der überzeugteste Bürger von Idaho klingt , als sei er nüchtern . Und ausgestattet mit ganz normalem Artikulations-werkzeug . Aber lassen wir das Berufliche . Ich stelle mir gerade vor ,“ sagt er , „wie diese ( Ihre !) tiefkirschroten , saftigen Lippen sich schließen über meiner Eichel , als wollten sie mich strangulieren ; luftdicht abschließen und saugen was das Zeug hält .“

( Wie damals bei den Pfadfindern trainiert : Das Aufblasen der Luftmatratze , alle Luft in der Matratze mit den Lippen blockierend und im Mundraum Schwung holen .)

 

Was er will ist nicht  Missionarstellung oder  Blowjob , eher vielleicht bzw. wahrscheinlich ein bisschen Stimulation und Entdecken und seine Hand zwischen  ihren Schenkeln ,( un-)hörbares Knistern an ihrer Strumpfhose : Nicht schlecht .

 

Aber :

Mehrvielvielmehr will er ! Das Lächeln der Sich-gefunden-Habenden , der Urknall der Erlösung : Albtraum vorbei , Hauptgewinn da ; der Null –Meridian : `Hier ! von hier ! hierher !´ :

 

Soviel zu wissen und zu erzählen , ein Lächeln das befreit und beteuert ,

fast ein Kokain in Augen und Mundwinkeln ; wissen der Zeiger ist der Feind , aber wir lieben den Zeiger gleich mit , der diese Minuten so rauschhaft elementar anders macht .

 

Sie liest ihm dann noch vor aus diesem Roman von de Sade :

„ Barbara trägt heute ein leichtes Sommerkleid , dessen Stoff zwischen ihren Beinen spielt . Sie  nehmen Platz auf zwei Hochstühlen vor der Mauer , die vom alten Klostergarten einen Blick auf die Seine freigibt.

Des Essaintes lehnt  sich zu ihr herüber , sein rechter Arm hat sich aus der Entfernung über ihre Schulter gelegt . Links umfasst eine Hand ihr Knie und schiebt sich unter das Kleid . Die Hand  erreicht ihr Untergewand und pausiert am Gummistriemen  an der Innenseite ihres Schenkels . Sein Daumen schiebt sich unter diesen elastischen Zug , der Daumennagel hebt den Stoff an und die ganze Hand gleitet über Barbaras `bijou ´ . Nur jetzt kein Härchen ziehen !“

 

3

Wieder die ` Dalmatia Queen ´ aus La Valetta .

Weiter runter den Fluss , hinter der Krümmung , im dritten Nebel rechts ( Karte und Satellit wissen es genauer ! ) liegen Inseln , die es nicht wissen  ( nicht wissen , dass sie Inseln sind ! ) : Sie sind nur durch Kanäle , manchmal durch Flussarme von einander getrennt . Es gibt Brücken , aber eher erst neuerdings ; vorher gab es Schiffe , Kähne .

Sie schwanken ; der Mensch setzt etwas aufs Spiel , wenn er ein Boot betritt,  wie am Roulettetisch . Für eine gewisse Zeit gelten andere Regeln als an Land . Wieder gerettet , an Land , am Anleger , in der Hafenbucht ; aber während der Fahrt wurden wir angereichert durch eine zweite Hälfte von uns , die wir sonst nicht in Betrieb nehmen . Inselhopping .

Wie erwähnt  kommt uns einmal mehr die  ` Dalmatia Queen ´ ent-

gegen . Sie gehört einer Frau Doktor ( wie heißt sie doch gleich ?

Ach ja . Zu ihr gleich mehr ) , allerdings erst seit kurzem .

 

Auf dem Fluss liegt noch ein Schubverband  . Ein Matrose geht , Eimer in der Hand , auf dem Schiff Richtung Bug . Das Schiff fährt , der Matrose in gedoppelter Bewegung . Der Schiffsname `Aurora ´ prangt über breitem  Kielwasser . Schiffe sind Smaragdschneider .Und berechenbar wie ein treuer Hund : Der Bug sozusagen die Hundeschnauze mit Durchblick . Die Wellen , die der Bug durchschneidet , sind gebändigt , unterworfen und anschmiegsam .

 

„ Was Sie da anhatten ,“ sagt Starbacks zu einer mir noch nicht bekannten Dame , „ als ich Sie heute morgen bei der Sicherheitsübung sah – war einfach so Vorschrift – stand Ihnen  aber sehr gut .“

Es ist eng im Restaurantdeck der `Cythera´, als das Schiff ablegt und die Modenschau der Agentur Drenthe stattfindet .

Interessenten aus der Lingerie-Branche , vereinigt Euch ! Die Firmeneinkäufer und Designer haben jeweils Kataloge in den Händen und konnten sich schon vorbereiten und austauschen .

Als besonderen Clou hat Giacomo aber : Malevitch ! den Sänger ! ins Spiel gebracht .

 

„ Werte Damen und Herren , sehen Sie selbst – wer könnte so gut sehen wie SIE ! aber unser Sänger hat seine Impressionen in markant

schwerwettrige Zeilen gebracht : Welche Cloud betritt da mit Ihnen , werte Damen , den Saal , tragen Sie erst eine unserer Créations

( Ausprache :krieischns  ) .

 

Schauen Sie etwa mit Gefallen und Gewinn auf Yvonne ( Nr 1 ) :“

 

Und Malevitch lutscht am Mikrophon , weist mit dem Arm auf das Szenario und gibt dem Ereignis eine Stimme .

 

„ Im Touristenschlenderschritt , gesetzt-gespannt-gemächlich , so wandelt der Tiger.  Halsdrehfunktion maximal , Neige-und Dehnlatenz , gern un-allein , immer mit Tasche über der Schulter : Jasmine ( Nr. 2 ) : spielend  verspielt . Rücknahmebereit ; blinzelnd ; symbolisch Grenzen einziehend ; beste Freunde der Realität sind Spiel , Umweg ,

Ablenkung , Finte , umso deutlichere Hervorhebung ;“…..

 

In der Pause zur Modenschau  floaten die schönsten Frauen wie in einem Aquarium durch den Saal – mit Ausblick auf  Köln-Mülheim .

 

Geben wir das Wort wieder an Malevitch :

 

„Nr 5 : Sventja : Der Rock ist zurück , schau nur , nein , dreh Dich nicht so auffällig um ; die Kunst ist immer , dem eigentlichen Objekt der Begierde auf die Schnelle noch andere Attraktionen zur Seite zu stellen , ein treues Echo ; guck mal die da drüben , oder das Auto da ; so , jetzt kannst Du ohne aufzufallen noch mal zurück zu Deiner ersten Sensation:

sie winkt ; winkelt ; schaukelt , schaufelt ! über schwarzen Strümpfen , angeweht  und geweitet im Schritt , zwischen den Schenkeln im Schritt immer ein wenig zurückknickend .“

 

„Diese jungen Akademikerinnen ! Überhaupt nicht eingebildet ,“ sagt Schlupkothen hinter vorgehaltener Hand ; „ packen mit an ; neulich war bei mir im Office ein schwerer Schrankkoffer zu transportieren ; beide Sekretärinnen gingen in die Knie ; beide zeigten mal so eben – Not kennt kein Gebot – den Zwickel ihrer Strumpfhosen : „ Uff , ist die schwer !“ -packten an , wie ich schon sagte , und geritzt war das Ding .“

 

„Sehen Sie Nr 6 , Danae ,“ sagt Malevitch : „Die Witwe in schwarzem Crêpe , sie sägt mit ihrem Lachen an der Caféeinrichtung . Aber ihre Brust : Ein Schiffsbug , vielleicht der Bugsteven jenes Seglers , der Robinson befreite .“

 

Am Nebentisch höre ich gerade einen  Eheberater sich mit den markanten Worten auskennen : „Lernen Sie alles über die Laufwege des Partners !“

 

„Die Damen , die Herren ,“ sagt Malevitch , „haben Sies schon gemerkt : Schauen Sie auch Malvina an , Nr 7 : Ich wiederhole mich : In dieser Saison trägt Frau wieder Röcke ! am Eiszeitende taut es in der Tundra und man schnuppert Methan : Reicht das schon zum Leben ? Was weiblich ist trägt Röcke –  und Shiva mit den vielen Armen zappelt wie unter Qual .

 

Die Radfahrerin da vorne“ ( in der Tat !  Audrey , Nr 8 , ist per altem Holländerzweirad in den Saal geschwenkt )  : „Die Wippe wippt  auf/ab/auf/ab ; aus Gesäßes-Tiefen auf und ab  ; am Schamdreieck vorbei , das hat der Ecken drei  ; als ob sie ausgeflippt nach mir hin winken .

 

UND !

Nr 9, Elisawetha , beherrscht wie keine Andere den  Trick mit

der …….: Spitze ! Spitze , Verniedlichung , aus angeblicher filigraner Verletz- und Zerbrechlichkeit  : subtile Stärke durch einfaches : Locken , eine Präsenzbrücke , Schichten schimmern dahinter , die Treppe zur Haut : ICH der Eroberer , DU opferst Dich zum Ziel .

 

Und , vor der Pause , Nr 10, das ist abermals Audrey , wie Sie sich erinnern :

Wie ein Navi : Ein Spitzensaum geneigt geschwungen im Décolleté:

der Zündfunke ; ein sehnsuchtsvoller Schrittweiter (!) und man würde

zurückwollen. Hier bin ich also ganz besonders wie nie wieder : oh , jäh , je !  Elektrisiert die Ortsbestimmung ,Spitze  ( wie Rauhreif am Winterfenster sagt der Erotomane . )

Das waren Nr 11 und 12 ,also – äh , genau : Albertine und Sventja . BHs für die Gestretchten  , Gezerrten , Gezupften ! und Fessel-Lover !

 

Und , letztlich , für unsere Einsatzbereitschaft :

Demonstrativer BH-Träger  ( Nr 13 , Elisawetha  noch einmal )

auf der nackten Schulter gern einer verspielten Nymphe vor lauter prätendierter Stern-Thaler- Armut ! aber : deutliche Lawinengefahr ! Meine Hand auf diesem Marmor und besagter Film änderte im Abgehen ( BollyHolly!)  diese Fliesen und natürlich mein Leben hiesiger Spätsommertage , wie sie sich bis zum nächsten Jahr behauptend hinterlegen (vage ) .“

 

Giacomo lallt mir nach dem nunmehr siebten  Christine-Keeler zu :

„Wohin wir unterbewusst  reisen , wenn wir so ein Décolleté sehen : Es hat was mit Unsterblichkeit zu tun , Du Banause ; man will nie wieder zu spät kommen , die Spitze ist ein Vortäuschen von : gleichdanochnichtda

sogutwieda warum dann eigentlich dahin ?

 

Elastizität also ( hick ) der Zeitmodule , ewiger Vortäusch von gut wie gleich , also immer fast , ewige optische Täuschung des

 

davor ; nie : danach , zu spät .

 

Décolleté und  Unsterblichkeit  oder : nie wieder zu spät kommen ,

nie schon dagewesen sein . Danke , ich finde schon allein nach Haus .“

 

Malevitch hustet und räuspert sich , ist seinerseits bereits ziemlich mitgenommen , legt aber noch einmal seine ganze Sehergabe in die Worte : „ Betrachten Sie auch noch  Nr 14 , meine Damen und Herren , noch einmal die göttliche Dame Gala :

 

Sie sehen und nicht begehren wäre ein  Akt von An-Alphabetismus ,

gnädige Frau . Frauenskizze : Sie  stempelt sämtlich alle Umständlich-keiten ihrer Personality . Frauen finden , sie plazieren ; und der Mann : der zu befestigende Ort .“

 

Giacomo hält sich nur mühsam an der Theke .

 

 

4

Ichweißichweiß. Ichweiß . Was jeder Mensch auf dem Seitensprung

weiß .

Sie sagt :

„ Stellen Sie sich ein Messer vor , scharf , eine lange Metallklinge , ein Holzgriff . Und stellen Sie sich vor , sie legten die Metallklinge flach an ihre Wange . Kalt , nicht wahr ? Manchmal vertreibt so was auch einen Schmerz , wenn man sich verbrannt hat zum Beispiel . Unmöglich , nicht eine besondere Art der Kälte zu spüren , besondere  und unfehlbare  Erfrischung . Ab hier . So ist das jetzt gerade . “

 

Er ( der Erfinder der nicht-klebenden Marmelade )  sagt :

„ Ich weiß , irgendwo gibt es eine Alice , und auch einen Ehepartner von Heike . Klar auch , dass WIR es wissen ; dass  diese Bannerträger  oder Bettpfosten des Von-uns-gewusst-werdens  sozusagen um die Ecke von uns sind , einen Handyanruf entfernt . Sie sind aber jetzt doch nicht da, und haben es in den letzten zwei Wochen auch irgendwie verschlafen , dass Heike und ich eine ganze Welt leergeräumt haben , falsch , sie räumte sich von selber frei ; einen Korridor freigeräumt haben , um uns (DICH/MICH) zu sehen , uns zu begegnen , uns ( UNS ) zu umarmen , in einer Umarmung das Wesentliche überhaupt zu finden .“

 

Sie sagt :

„ Bis gestern war da Starre . Auf einmal gibt es da einen Weg . Und auf diesem Weg die Ekstase des Noch-Nicht . Noch ist ja Nichts passiert ! Wie gut , wie verschwenderisch ! Denn : Es WIRD passieren . Nur noch nochnoch nicht . Aber ich kenne die Vorzeichen , WIR kennen sie , können die Partitur lesen . Hören . Riechen . Wie frisch alles ist !“

 

Er sagt :

„ Sich zurücklehnen , machen lassen . Ich habe den Platz gefunden , wo sich Sachen von selbst regeln . Untreu ? Bin ich wem untreu ? Das war doch alles bisher nur Vorbereitung . Gute Vorbereitung . Alice und Du , ihr seid keine Feindinnen . Wie könnt Ihr Feindinnen sein .Ihr seid nicht auf demselben Planeten .“

 

Das Wesentliche . Ein neues Buchstabieren .

Das Wesentliche findet jetzt in einer Kabine auf einem Flussdampfer statt . Draußen die Maaslandschaft , links und rechts , backbord und steuerbord , wie zwei Schienenstränge , keine großen Überraschungen , alles  geht seinen absehbaren , parallelen , entschärften Gang .

 

Womit hat man das verdient . Und hier die Kabine . Wirklich schön . Aber wir gehen noch einmal an Deck , ja ? Und ich freue mich schon auf das Abendessen im Restaurant mit gebuchtem Tisch auf der Backbordseite an den Fenstern vorne . Und …. noch leichter wird das Öffnen der Kabinentür danach und .

 

 

5

Dies ist , wie ich gerade bemerke ,  nicht der Tag , an dem Menschen freundlich miteinander verkehren . Der serbische Beamte von gestern und vorgestern kommt erneut türeknallend herein , immerhin mit einem Dolmetscher heute . Er traut seinen Englischkenntnissen mittlerweile doch nicht mehr so ganz . Wieder die gleichen Fragen .

 

Was ich auf jenem Schiff zu tun gehabt hätte . Eigentlich die blödeste Frage ; die `Cythera´ gehört meinem Bruder ! Warum soll ich nicht damit

fahren ?

 

„ And se ear(—-). How came the ear in your car ?“

„ I don´t understand your question .“

“ And se boy . Where is he now ?“

Das wüsste ich auch gerne , sage aber vorsichtshalber :

„ What boy ?“

 

Zeit schinden , scheint mir das Beste . Und ein gebotener Akt der Fairness gegenüber Noah .

Wer ist Noah ? fragt der Leser .

Nun….

 

„ You know sat se German police also search se boy for attacking cars

from se bridge in your home town ?”

 

Das weiß ich , und ich sage , ich wette meine letzte Möhre darauf , dass er unschuldig ist .

:ear ?

6

Es ist ein Märzabend gegen sieben . Abend , wie er so unver-

wechselbar , ganz anders als MaiJuniJuli , bedeutungsvoll  optisch riechen kann .  Märzherbst .

Ich sehe  auf die Uhr , habe aber die falsche an : Die , der man die Botschaft nicht glaubt ; man muss zwei Augenblicke später wieder auf das Zifferblatt schauen , die Zeit haftet sozusagen nicht auf dieser Uhr .

 

Es hat zum letzten Mal dieses Jahr geschneit . Der Schnee hält es als solcher nur bis 9 Uhr morgens aus , dann taut er weg ; wo er liegt , ist er fett nass .

Immerhin erscheint der Park noch winterlich kühl mit weißen Flächen ; Gänse warnen den Spaziergänger mit schrammender Stimme vor Näherkommen . Vielleicht sind sie schon auf Balzspiele und Frühling eingestellt .

Wenn der Schnee von den Bäumen tropft , entsteht ein kleines Regengebiet ; abgezirkelt von der Reichweite der Äste trieft es ,

wie von einem Duschkopf  .  Dicke Tropfen fallen in den See und bringen das Wasser zum Hüpfen .

Ach Aimée .

 

Wärst Du hier . ( Und dann ? ) Aber  diesen Park  kannten wir damals

nicht .  Aber wir hatten damals keinen gemeinsamen Winter .

Wärest Du hier , Deine Backen wären knallampelrot ; ich hätte Dich in die Luft gehoben , Du hättest eine tropfende Nase gehabt , lass mich runter , meine Nase läuft , aber auch Du bist ohne Zweifel glücklich , fröhlich , unbesorgt , sogar mit mir einverstanden .

 

Wir hatten damals keinen Winter , aber aus diesem kalendarischen Nichts heraus heute ist alles sehr schön ; ein Leben kann nicht umsonst gewesen sein , das solche Gedankenspiele ermöglicht . In diesem Park , wo ich Dich erst traf , als alles zwanzig Jahre zu spät ist .

 

ICH tauche tagelang nicht wieder aus meinen Tagebüchern auf : Bin ICH das ?  Wer ist dieser groteske Held  ?  WEM eigentlich schreibt da dieser 30 jährige Homunculus in allen Hilferuf/ Verzweiflungsschnipseln ; Rufer in welcher Wüste , Klagelieder gerichtet an jemanden , der es richten

soll ? Ich , der heutige  Leser , voyeurisiere  wie beim Betrachten eines Flohzirkus oder Fußballspiels : Nein ! wie niedlich ! die Marionetten/ Miniaturen damals waren .

Und : Warum bin ich jetzt so unansehnlich ? Natürlich , sage ich mir , WÄREN wir damals zusammengeblieben , hätte sie nichts von ihrer knackigen Jugendfrische eingebüßt . Ja , ich bin schuld , wer sonst . Ich

drehe mich um , es ist kein anderer da .

 

Ich bin seit zehn Jahren mit Anne zusammen ( habe neulich nachge-rechnet und war überrascht ). Gefeiert haben wir das Ereignis dann doch nicht , damals im November  ; so etwas Spektakuläres hätte auch nicht  in unsere irgendwie aquarelliert vornehm-bleiche Lebensart gepasst .

Wir haben eine unaufgeregte Beziehung , die uns beiden mehr nutzt als schadet , und wir wissen , dass diese Definition eine unpassende Gemeinheit ist . Wenn sie morgens als erste aufstehen muss , und ich ihre Bettdecke noch über meine ausbreiten kann , und ihre Nachtwärme noch spüre : Schlafe ich gleich noch einmal .Und besser .

 

Wir haben Freunde und unsere jeweilige berufliche Leidenschaft . Wie die Zeit vergeht . Neulich sah ich auf einem Photo , was sich in unserem Bungalow am Park geändert hat  : Die neue Schrankwand ; der Rohlfs hing damals da drüben ; in diesem Aquarium herrscht Ruhe .

Ach ja , und der Wintergarten . Und dort haben wir schon einmal Platz gemacht für das Bild von Norahs Kunstlehrerin .  Wir sahen es in der Vernissage und Anne war sofort begeistert . Es heißt

 

`Die Tafeln des Moses ´

 

und zeigt :

 

–  zwei Frauen , die einander an einem Bistrotisch gegenüber sitzen

–  sich aber  nicht ansehen ;

–  stattdessen auf das I-Phone starren , das die jeweils andere ihr vor

die Augen hält .

 

Moses Tafeln eben .

 

Dafür haben wir den Sisley in die Eingangshalle gehängt . `Winter in Asnières ´ . Ja , eine gute Geldanlage.  Außerdem  stehe ich auf Winterlandschaften : Ausgiebig Weiß neben schwarzen Schlamm-

spuren , Wege im Dreck , graue Himmel , kahle schwarze Bäume .

Bekanntlich haben wir ja gar keinen Winter mehr hier .

 

Sieh es ( Deine Nostalgie ) doch durch den Filter des Heute : Heute , den 9.3.2018 , ist alles viel molliger , weicher , kieselig abgeschliffen ; Du findest Dich heute halbwegs verantwortbar ? Na , dann warst Du es damals bestimmt auch . Besser nicht so genau hingucken .

 

Wenigstens meine Fahrschulen haben Stil : Nicht wie neulich ein örtlicher Konkurrent , der mit dem Slogan wirbt : Gib Gas/macht Spaß/bei Claas . Und dann mit so einem Volvo-Monitor unterwegs ,

`Ein feste Burg ist unser Gott´.

 

Geschäftliche Konkurrenz kennt Giacomo übrigens auch .

Der Betreiber der `Cythera´ hat ein Déjá-vu  .  So musste es ja kommen

( oder so ) .

 

7

Die Frau vor seinem Schreibtisch , Ende 30 , Hosenanzug , Brille , Kurzhaarschnitt , hat ihm gerade ihre Karte herübergereicht .

 

Dr. Isolde Brummer-Koch  .

 

 

Sie kramt in ihrer Präsentationsmappe und hält ihm einen Hochglanz-katalog hin .

 

„ Lass die Wäsche gleich an !“

 

ist da zu lesen  , darunter :

 

`Dessous die wild machen ´ .

 

Sie sagt :

„ Vielleicht haben Sie uns bisher nicht wahrgenommen , Herr Neuhaus . Früher hieß unsere Modellreihe – wenig einfallsreich , wenn Sie mich fragen –

 

`Walk on the wild Side ´.

 

Aber , was der Rauswurf eines alten Redaktionsteams  so bewirken kann : Jetzt sind wir wirklich wild . Unsere Dessous stören

 

 

nicht nur nicht

 

beim Vögeln ? im Gegenteil , sie sind Erfolgsgarantie , Gleitmittel sozusagen .“

 

Giacomo hat im schnellen Überblick ausreichend viel wahrgenommen und reicht ihr das Heft wieder hin .

„ Vorschlag zur Güte : Sie nennen die Produktreihe : `Lass die Wäsche am Baum ´. Und was hätten wir sonst noch zu jenen Erfolgen beizutragen ?“ fragt er höflich .

 

„ Nun , Ihr Service hat ja bereits einen gewissen Ruf , das geht manchmal ganz schnell .Wenn WIR nun an Bord Bilder machen

könnten , bewegte Bilder , oder ein bisschen Product Placement einbauen ….Mir scheint , es ergeben sich doch viele Möglichkeiten zur Zusammenarbeit .“

 

Heraus mit der Sprache ! Also …..

Giacomo mag , wie man ahnt , einen bestimmten Frauentypus NICHT . Diese Dame zum Beispiel .

Es wäre

 

 

GANZ . FALSCH .

 

 

den Betreiber der `Cythera Escort ´  als  ` Feind emanzipierter Frauen ´ anzusehen , und es kommt Giaco nicht in den Kopf  , Frauen nicht zuzutrauen , selber genial zu sein .

 

„Wenn Emanzipation immer über die gleichen Dörfer gehen muss,“ sagt er öfters , „oder sich gleich in schlechten Umgangsformen artikuliert ;  und zur Not wackelt im Ärmel der letzte Trumpf  ` Wir sind noch viel zu freundlich zu Dir ,  habe endlich ein schlechtes Gewissen ! Dein Vater und Dein Großvater waren so schlimme Chauvis , und Du bist nur ein als Frauenversteher getarnter Heuchler , geh in Sack und Asche ….´“ :

 

Dann mag er das nicht . Irgendwie . Kann das irgendwie nicht so richtig schätzen .

 

Frau Doktor lehnt sich leicht herüber .

„ Oder sind Sie auf Ihrem Dampfer wirklich so gut finanziell gepolstert ? Ein Maschinenschaden , ein Hochwasser , ein Chemieunfall, ein geiles Vergewaltigungsvideo mit Minderjähriger : Ich meine ja nur . …

und schon sitzen Sie in der Klemme , Sie sind raus“ ( Sie verwendet eine drastischere Formulierung für ` in der Klemme sitzen ´) .

 

8

Um diesbezüglich noch ein wenig weiter auszuholen :

Auf hiesigen Autobahnbrücken stehen immer öfters Lastwagen weithin sichtbar geparkt mit großen Werbeaufschriften : 100 Girls . Manchmal `Maximum Girls ´ oder gar ` The biggest ´( wahrscheinlich ist nach Sprachgefühl der Betreiberbanden `Auswahl´  gemeint ? ) .

 

Sie stehen da oben , sind Leuchttürme erotischer und allgemeiner

Verkehrskultur ,  vor allen Dingen für die einsamen männlichen Fahrer ; Trucker , die ( husch!) unter der Brücke vorbei gerauscht sind , sich aber überlegen können, wo eine Pause machen , wo übernachten : Die können dann gern bei so einem Club an der nächsten Ausfahrt vor-fahren .

 

Besagte Kette von Clubs gehört zu jener Dame im  Hosenanzug , Frau Doktor Isolde Brunner-Koch ( Brunner , nicht `Brummer ´, wie fälschlich oben behauptet ), und die Etablissements heißen bekanntlich alle `Villa Vertigo ´.

 

„ Aber .“

Sagt  Frau Brunner-Koch . Schon im Rausgehen , an der Tür .

„ Sie machen auf gediegen und Gesprächskultur …..Ist dieser Dampfer nicht das Schiff der Lüge ? Dass sich die Balken biegen ? Der Kahn der ewig gleichen Stories ? Wie viele Lebensgeschichten werden hier noch mal und noch einmal erzählt und ausgekocht wie ein Markknochen für die Suppe ?“

 

Giaco fehlen zunächst die Worte . Sie dreht weiter auf :

„Rechthaber trifft Immer-schon-Rechthaberin , die mal so richtig tief in der Erinnerungskiste kramt . Was bisher als Story gehalten hat , taugt auch noch ein bisschen weiter . Präsentation der weißen Weste . Ich Unschuld , Du Tarzan oder so . `Veronika´, das wäre der bessere Name für Ihre Dschunke ;  Schweißtuch der Veronika , nix weiße Weste . Normalerweise haben Ihre Kunden die längere Jeremiade ,

aber die Hostessen können auch gut auspacken , oder ?“

 

„ `No boring intros´, ich weiß ich weiß “ sagt Giaco ; „ Sie verkaufen das als die hygienische Tour . Die blanke Mechanik ? Starter-Kit for Bondage

bringt  Treuestempel im Kundenkärtchen . WIR bauen darauf , jetzt habe ich es , dass die Konstellationen sich jeweils andere Geschichten erzählen . Vielleicht sollte ich unsere Gäste künftig darauf hinweisen , im Kleingedruckten , dass dieselbe Story nicht zweimal erzählt werden

darf .“

 

 

9

Hast Du eigentlich keine Lust auf einen Ball der Ehemaligen , frage ich ihn schon mal . Ohne die jeweilige Gegenwärtige ? Oder gar mit ? Die dann im Triumphgestus auftritt ; oder vielmehr von allen bedauert   : Sie hat es noch vor sich ?

 

Nein , sagt Giaco, ICH würde dann im Ring stehen ;  die Nabe , um die sich die Speichen drehen : Mir würde unweigerlich schwindelig .

Was ich ihm nicht glaube ; er fühlt sich wohl in seinem Hotel Zentral .

 

Und eine Metropole wie Köln hat ja auch etwas Hygienisches .

Menschen sind da leichter zu bewältigen , Vileda wisch und weg ; man sieht sich mit einiger Sicherheit nie wieder . Natürlich ist das auch die Geschäftsebene von Frau Doktor Isolde Brunner-Koch .

In Mainz heißt die Bordellstraße `Antoniusstr.´ Giacomo findet dies eine sinnige Namensgebung ; von den dortigen Etablissements gehören gleich zwei auch Frau Doktor .

 

„ Ich bin ein Nachfahre von Antonius ,“ sagt Giaco . „ Ich bin ununterbrochen von Versuchungen eingekreist , lebe  hermetisch in einer Welt der Lockung ; und besagter Patron bleibt innen in seiner Versteinerung , was ihn aber nicht vor Qual  schützt . Odysseus darf gucken , hat aber die Ohren zugestopft ; Antonius stelle ich mir vor als jemanden , der die Versuchungen eher noch übertreibt ; vielleicht hatte er ein Fernglas und ein Hörrohr , damit er alle Zusetzungen so intensiv wie möglich wahrnahm .“

 

Einerseits ( so Giaco) stehe er also in der Tradition dieses selbstquälenden Heiligen :

„Ich nehme alles wahr . Und ich sorge für Frischluft , für freien Atem , Ein-Aus ; weil ich  aller , na ja , fast aller Versuchung nachgebe .“

 

Ein gemeinsamer Freund , Kunstmaler von Beruf , erzählte :

„ Als Thema der Kunstgeschichte sammle ich alles , was sich beschäftigt mit den Versuchungen des Heiligen Antonius  : Qualen des Auto-Erotismus , Auto-Satisfaktion  . Und nach der Masturbation ist das Leben ist eine Wüste , ein wüstes Land ; ganz wie beim Heiligen Antonius . Überall , jahreszeitenunabhängig , lagert sich bleierne Schwere ; ich spüre Stumpfheit nicht nur in den Fingerspitzen , im ganzen Apparat . Alles wird zur Bedrohung , die Häuserfronten neigen sich wenn ich die Strasse entlang gehe ; es gibt keine Anrufe . Es gibt nur Isolationshaft ; kalte Schultern und eine belästigte Welt  . Der Kaffee schmeckt nicht ,

wie Bratensoße , eine taube Brühe . Ich bin schwach in den Kniekehlen,

Wege werden länger ,  ich komme kaum aus dem Sessel ; stehe dann aber vom Strahl der Lähmung getroffen am Fenster .  Lots Frau , die Salzsäule : Auch das bin ich , allerdings in `Mann ´.  Alles scheppert leer und blechern . Das ist die Testosteron-Lücke des Nachmittags ?  Ganz normal ? Meinetwegen .

Deshalb aber male ich gerade ` Die Versuchung des HLG. Antonius : Soft-porno-Dezenz ´ und als Gegenbild :`Katerlandschaft ´: Viel Müll .

Mein Therapeut entpuppte sich als Zyniker und sagte : Sie haben die freie Wahl zwischen PCG und PCG .  Wie bitte ? Ja . Zwischen Pre-und Post Coital Gloom . Vielen Dank auch noch .“

 

Oder , wie Käpn Starbacks sagen würde : NACH dem Samenerguss ist….

( Sie wissen schon ) .

 

 

10

Und Raben zirkeln über der Containerbatterie , die ich morgens aufsuche ;  den Bloodlands des Viertels. Papier , Flaschen in Grün, Braun , transparent  , fast wie ein Farbkasten oder eine Bastelanordnung für die Kita . Die Container stehen mit den Füßen im Schlamm ; jede Menge anderer , unkon-ventioneller Müll und Dreck drumrum , man muss aufpassen wo man hintritt . Müll-Insider und Outsider .

So eine Batterie senkt die Immobilienpreise im Radius von 300 Metern . So wird das nichts mit der Gentrifizierung , die unsere Gründerzeitviertel-Initiative als progressives Projekt auf Versammlungen, gerne auch im Internet  behauptet . Na ja , es ist und bleibt eben ein farbiges Viertel . Szenebuchladen mit dem Sortiment an Geschenken für die

Onkels ,Tanten und andere Best-Ager  ;  Türkenfriseure und Pennerecke.  Ja, farbig . Aber berührungsscheu . Am meisten ergebnisoffen sind die Müllwerker mit ihren Sammelwagen , die nun wirklich für  alles zuständig sind . Oder der Gemeindepfarrer der St. Emmerankirche .

 

Ein Zufall will es , dass ich den fallen gelassenen Lokalanzeiger vom Boden aufnehme .

 

Aha , ` Dalmatia Queen´ wird nächsten Samstag ihre erste Ausfahrt machen . Wird sie der `Cythera´ eine Konkurrenz sein ? Wird sie , wie die Insider vorhersagen , als schwimmende Sex-und Eventmesse den kleinen , aber feinen Escort-Service vom Markt für Vergnügungs-und Flitterreisen verdrängen ?

Ich erinnere mich an die unangenehme Frau im Hosenanzug , weiß : Giacomo ist beunruhigt ( oder doch nur belästigt ?) , Käptn Starbacks eher nicht . Eher unterhaltsam gestimmt .

 

Eine Frau tritt neben mir an den Container heran , jung , gut

aussehend ; sie hat hohe Absätze , was ihr die letzten schlammigen Meter vor dem Behälter nicht erleichtert .  Mir kommt die Frage : Wie lebt es sich eigentlich so , wenn frau  `gut aussieht ´ , vielleicht sogar sehr ? Wenn ab dem 15 . Lebensjahr sich alles , männlich wie weiblich , darin einig ist : `Die sieht aber gut aus !´ ?

 

Giacomo hat darauf drei Antworten :

 

a ) Frau ist sich dessen bewusst , weil sie wenig anderes hat , um ihre Persönlichkeit zu definieren ; diese Type beantragt sozusagen Gemeinnützigkeitsstatus , `ohne mich und meinesgleichen wäre doch der Planet unterbevölkert ´.

  1. b) Frau hat durchaus noch andere Existenzmarkierungen , ist vielleicht intelligent – gebildet –sensibel – solidarisch , womöglich leidensfähig , trägt vielleicht sogar schwer an mindestens einem Verlust , vielleicht am Zusammentreff mit einem unmöglichen männlichen Fatzke , der sie

( sagen alle ) nun wirklich nicht verdient hat .

  1. c) Frau lebt ganz normal und reagiert unbekümmert rundum wie auch

der Gemüsehändler , sagt zwar nicht , könnte aber sagen : `Wieder ein Tag ohne Zahnschmerz ! ´ oder :`Diesmal ohne Schlangenbiss !´  Dass Frau privilegiert ist , ist nicht weiter auffällig ; erst wenn man in den Abgrund sieht , wird man schwindlig .Gut dass wir auf dem platten Land

leben bzw. in der platten Stadt .

 

Ausserdem ?

In besagter Stadt habe ich weiterhin heute morgen schon den dritten Aufdruck auf Stromkästen gesehen  : `The Nudge was here ´. Über der Schrift zu erkennen : Michelangelos Gottvaterfinger , wie er sich Adam als Touchpoint anbietet . Damit fing alles an ! meinen die Bibeltreuen zu verstehen . Im Guten wie im Bösen .

 

 

11

Abermals ein paar Wochen später  treffe ich Geli wieder , mit der ich einst ein Wintermärchen lang zusammenlebte .  In ihrer kleinen Altbauwohnung, besonders in der Miniküche mit Gasboiler , roch es

gut  ; der Boiler imitierte das Schnurren einer dicken Katze  .

Ich verstehe nicht , warum Geli jetzt so sauertöpfisch auf mich reagiert

( merkwürdig sauertöpfisch konnte sie schon damals sein , eine   nordisch blonde Sexbombe mit Dauerschmollen  , Typ verwöhntes Kindchen ) : Wenn ich mich damals ihr gegenüber – vielleicht/wer weiß/wer will es ausschließen  – miese verhalten habe : Dafür kann ich mich doch jetzt entschuldigen und sogar selbst anklagen etc . Warum soll ich  jenen Menschen von damals verteidigen ? Aha , deduziere ich  , es war halt alles überall und jederzeit ein Spiel , no bitter feelings .  Hinter mir aufräumen , sage ich , ist doch mindestens eine ästhetische Leistung .

 

Wo bin ich ? Wo bin ich stehen geblieben ? Zur Selbstvergewisserung:

Was an mir würde Anne vermissen , wären wir getrennt ?

Unser Vokabular von Suchen , Finden ; Du brauchst Dich nicht zu suchen , ich habe Dich für Dich gefunden . Ich weiß , wo Du bist ; das reicht für zwei ; und umgekehrt . Ich weiß , wie sich der Marmor Deiner Kurven für die Hand anfühlt . Ich weiß dass Du weißt dass ich weiß .

Gut , dass Du so klein bist ; meine großen Hände haben dieses Schachbrett in Reichweite und im Griff ; wie oft ich Deinen Nacken mit meinen Fingerknöcheln abklopfe , Deine Hüften mit meiner Handfläche poliere ; wenn ich meine gerundete Kieselhand zwischen Deine Schenkel lege ; mein Kinn an Deinen Nippeln : Wir freuen uns an einer gemeinsamen  Tanzfigur , einer Schrittfolge , die man vor dem Spiegel macht , dort wiedererkennt , die erst dort komplett wird oder sichtbar .

Du bist so klein , mein halber Arm reicht für eine Brücke über Deinen

Bauch ; die Haut meiner Elle legt an auf Deinem Madonnenoval . Wir gleiten aneinander wie Schiffe  zärtlich im engen Hafen nebeneinander anlegen . Zur Not gibt es da Fender , die uns zurückwippen lassen , die Fahrt wegnehmen , wir gleiten mit ganzer Körperlänge aneinander und passen aufeinander .

Eine andere Frau würde eine andere Sprache sprechen ; Sprachen sind aber

 

 

-so oder so

-nun einmal

-for better or worse

 

zum Verstehen da .

 

 

 

12

Als er zurückkommt , ist ein Platz schräg gegenüber freigeworden  ; eine Frau setzt sich auf diesen Hochstuhl , hat die Beine angezogen ; sie trägt  Strümpfe mit aschenfarbenem Filigranmuster . Ihre  Hände sind verschränkt auf ihren Knie abgelegt , manchmal bewegt sie beim Zuhören ( neben ihr sitzt ein Langweiler und Vielredner ) ihren Oberkörper zurück , als wolle sie dem Publikum ihre Knie , ihre Beine  zuschieben : Hier , bitte .

Das Treffen findet auf Deck C statt  und endet in einer der ungeraden ungebuchten Kabinen auf Deck C  , die für besondere Ereignisse

( C wie : Spontan ausbrechende Sympathien ) reserviert sind.

 

Die `Cythera´ hat sogar ein Gästebuch . Diesen Spaß hat Giacomo sich gemacht , ungefähr so , als hätte er bajuwarisches Design  ( rot weiße Gardinen , Stuhl mit Herzausschnitt , Senftopf etc ) ausgelegt . Wohlanständig . Nicht wahr .

 

Im Gästebuch steht natürlich nichts von Interesse . Eher : Haben uns sehr wohlgefühlt . Schöne Aussicht . Am Frühstücksbuffet gehen schnell Bacon und  Rührei aus . Ein ehrliches , authentisches Gästebuch ( wie Starbacks seufzen würde : `authentisch aber fiktiv ´ ) hätte vielleicht folgende Einträge gezeigt :

 

„ Haben unserer Mutter nach dem Ableben des häuslichen Tyrannen einen netten jungen Mann gemietet . Für Alf , den Sohn , ist der junge Mann dann ZU nett , lesen Sie die Zeitungen bzgl. der weiteren

Ereignisse.“

 

„ Intimrasur  ist eine tolle neue Erfahrung . Herr Meier ist sehr

vorsichtig dabei : Zu empfehlen .“

 

Sado und Masospiele sind übrigens an Bord verboten ; jede Begleiterin /jeder Begleiter verpflichten sich per Unterschrift darauf , diese nicht anzubieten /sie abzulehnen falls gewünscht .

 

„ Karl-Friedrich hat mich kaum berührt , sozusagen nur zum Händeschütteln . Ich war ausgekleidet und musste ihm zusehen , wie er masturbierte . Er sah mir zu , wie ich ihm zusah . Und das Ganze

im Stundentakt mit Duschen , Trinken , Rauchen am Kabinenfenster , Bewundern der Lichterlandschaft an den Flussufern  . Hat irgendwann dann wieder Hunger , aber der Roomservice kam nicht .“

 

„ Ich stehe auf Strumpfhosen .Ich werde mit Elvira einen Film darüber  drehen, ohne Ton , wie sie eine halbe Stunde immer wieder  beim

Sitzen , Hinknien , sich nach etwas auf dem Regal recken , sich auf dem Bett ausstrecken  ……ich werde rappelig beim Erzählen : Wie sie immer noch fast unerwartet  , obwohl natürlich genau solche Sekunden erwartet sind , sich unter den Rock sehen lässt , den Zwickel ihrer Strumpfhose zeigt , verlegen eifrig , rot werdend ( verstehen Sie ? Sie wird regelrecht ROT ! Wie trainiert man so was ? vielleicht als Karnevals-Mariechen ) ihren Rock wieder zurecht zieht . Und dann irgendwann in die Strumpfhose über der Scham einen  Riss zerrt  , und dann …oh Mann !“

 

13

Unsere Abfahrt verzögert sich noch um eine Stunde , aber keiner ist deswegen genervt , anscheinend . Ich stehe mit Malevitch an der Reling und gucke auf die Uferstrasse . Die Maschinen laufen sich schon einmal niedrigtourig warm , gleichmäßig , summbrummsumm ; alles ist gut , wird gut , mehr scheint nicht in ihrem Vokabular . Sie wissen , was hinter der

Flussbiegung liegt und sagen : Don´t worry , brummmbrummmsumm , wir schaffen das , Du schaffst das .

 

„ Ich bekomme eben ein Angebot  aus den Niederlanden , das  interessant klingt ;  werde es aber ablehnen ,“ erzählt uns Giacomo ,der auch auf die Brücke gekommen ist . Das Uhrenmuseum in Schoonhoven am Lek werde zur Zeit renoviert , wohl für mindestens 1 Jahr . Ob die `Cythera´ sich nicht dort ortsfest als schwimmendes Ausstellungsareal plus Hotelbereich etc vertäuen lassen wolle . Abgelehnt .

 

Und ein anderes Angebot , das nicht so lange bindet und irgendwie dynamischer sei , also besser zu  sonstigen Alleinstellungsmerkmalen (sic !) des Dampfers passe :

Auch der Historikerkongress ( WAS ?!) wolle die `Cythera´  chartern , Dauer immerhin eine Woche .

„ Mir nicht klar , was Historiker sich so eine Woche erzählen könnten ,“ sagt der Eigner .

„ Diese Herrschaften sind schon  grundsätzlich sympathisch,“ erwidere ich , „ sie sind so hervorrragend negativ : Geschichte ! als die große Show vom ständigen Scheitern der Gegenwart .“

 

Was die Gegenwart angeht , die ewig kreative und junge . Auf der Uferstrasse  kommt eine  juvenile Gestalt näher . Dame mit Rollkoffer , damenhaft ( obwohl jung ) , seidenes Halstuch , schwarze Brillengläser obwohl der Morgen gerade erst dämmert . Nein , sie geht an unserem Anleger vorbei .

Männer dürfen Entgegenkommende immer direkt , interessiert , kontaktfreudig ansehen . Ist Interesse nicht eine Art der Höflichkeit ? und im Noch-Nicht –Ganz-Vorbeisein studieren .

Frauen werden darauf trainiert , noch in der menschenleersten Wüste an Männern vorbeizugehen , als hätten sie Scheuklappen auf :

„Ich gucke IMMMMMER schon geradeaus , in der dritten Generation bereits “ , sozusagen .

Sie würdigt unser schönes Schiff also keiner Aufmerksamkeit und steuert auf die U-Bahnstation an der Ebert-Brücke zu . Dort geht sie dann in die Knie , will sagen , stöckelt recht steif die Stufen herab und hat einen Abgang aus meinem Blick . Hätte man sie fragen können : Wer bist Du ? Hätte sie geantwortet : Name soundso , diese und jene Freunde , Adresse, Beruf , unmittelbare Ambition und Perspektive , Aversion Aktion gleich Reaktion Ton in Ton.

Und man hätte gerne sofort weiter gefragt : Damit Du diese Antworten geben kannst , dies alles also bist : Welche Möglichkeiten in der Vergangenheit hast Du nicht gewählt , welche Kandidaten abgelehnt , welche Häutungen hast Du vollzogen , was davon blieb übrig ?

 

14

Oh diese Nachmittagsstunden , sagt der Heilige Antonius . „Hat was mit Biokurve zu tun , sagt mir Hammelrath ,“ meint Frau Öztunali , die Dame aus dem Uhrengeschäft.

„ Seit mein Mann ein Sabbatjahr genommen hat ….“

( was für ein schwarzer Humor ! Ihr Mann sitzt seit dem Putsch letztes Jahr in einem Gefängnis in Ankara….. )

„seitdem dehnen sich diese Stunden zwischen Mittagessen und  5-Uhr-Tee endlos ; wenn ich  die Rolläden herunterlasse und mich meinem Dildo anvertraue , wird vielleicht mal eine halbe Stunde animiert und beschleunigt ; aber der Rest dieser Stunden ! Als wäre ich ein Insekt , das versucht , auf dem Leim eines Fliegenfängers ins Freie zu kriechen .

Sie sieht aus dem Fenster . Nein , heute kein Dildo ,“

das Geschäft bleibt offen ; sie schaut auf den Fluss .

 

Es hat nachts tatsächlich noch einmal gefroren , und ich rutsche auf Reif und Glatteis den Hügel herab Richtung Rhein . In der Strasse der Ärzte komme ich zwangsläufig an manch hell erleuchtetem Wartezimmer vorbei . Ja , ich bin ein öffentlicher Erfolg ; man nimmt mich durch die

Wartezimmerfenster  – rutschend, gleitend, nach Balance suchend – interessiert zur Kenntnis . Es ist ja auch sonst langweilig beim Warten.

Nicht nur im Winter .

Da! Wieder ein neues Graffitti von `The Nudge ´ . Geht ihm die Farbe aus ? Der Druck ist schwächer geworden , scheint mir .

 

An der Bushaltestelle angekommen , denke ich noch einmal ( dann muss aber gut sein ! ) an das Wiedersehen mit Aimée zurück . Aimée , die  jetzt fast eine ältere , verbrauchte Frau ist , aufgeschwemmt und verbittert .

Verflossene , die jetzt nicht mehr schön sind , flößen mir ein schlechtes Gewissen ein . Die Frauen , die schön geblieben sind , geben mir das panische Gefühl , nie einen größeren Fehler gemacht zu haben , als jene damals zu verlassen oder zugelassen zu haben , dass sie mich verließen .

 

„ Aber so wird man nicht froh,“ , lächelt Giaco und räkelt sich in den neuen Tag . Wieviel Geschichte und Rekonstruktion braucht der

Mensch , wie viel tut ihm gut ?

 

Aimée ist damals sehr hübsch gewesen , eine Szenen-Queen .

Es hätte ja anders laufen können . Ein Wiedersehen nach 20 Jahren !

Du stellst fest : Die einsame Insel ist bewohnt ! Wir liegen uns in den Armen , erlöst,  haben `es´ (?) geschafft  (das Leben ohne einander ) .

Giacomo würde sagen : Wieso setzt Du so einfach voraus , dass SIE sich ausgerechnet in freundlicher Art und Weise an Dich erinnert ?

 

Aber , sage ich , auch gemischte Gefühle werden nach solchem Abstand weichgezeichnet . Damals …welche Masken man aufgesetzt hat ! Jetzt ist Schluss der Vorstellung , kein Rollenzwang mehr  . Ein entlarvender Satz ist mir in der ersten Verwirrung unterlaufen , trotzdem natürlich vollkommen unverzeihlich : Du warst soooo schön ! ( Leicht überraschte, wohl aber auch pikierte Reaktion ) . Ich hätte vorschlagen können : Komm , gehen wir einfach hier gegenüber in den Tschibo , ist am nächsten ; leckerer Kakao , zuverlässig immer die gleichen Pegida-

Opas  , aber egal .

 

Wie gerührt wir jetzt sind ! Was wohl heißt : Wir sind die Überlebenden , alle anderen sind tot . Wir erklären durch unsere Rührung , unser

`ein bisschen aufgelöst ´ sein , die anderen für tot . All die anderen , die mir jetzt einfallen : Unsichtbare Geschworene . Aber die eigene Biographie ist immer ein Achtungserfolg .

 

Wie hätte das Treffen mit Aimée auch ausgehen können ? Man hätte sich verabreden können , wir wären umzingelt gewesen von lauter

Themenfallen  : Was man vielleicht nicht sagt ; aber was einem ehrlicherweise auch schnuppe ist : Welcher Beruf , welcher Mann , wie viele Kinder ….

 

 

15

Giacomo und ich sind natürlich beide kinderlos . Während ihm dies nichts ausmacht , bin ich zumindest Bewunderer von Familien , wie sie da gerade die Promenade entlang flanieren . Samt Trostpflastern ,  in endloser Geduld , unter Zurückstellen der eigenen Eitelkeit . Und unterirdisch die Magma-Schlote .

Wie bitte ?! , fragt Giacomo auf meinen Neid hin.  `Mein Kind ist am schönsten , der Lateinlehrer tut ihr soooo unrecht ; für meinen Sohn bin ich der Größte ´ … …schon vergessen ?

 

Ich  bin treulos , denke ich mir , wenn ich gerade Anne heimlich kritisch

mit dem Blick verfolgt habe . ` Meine Kinder ´ : Das sind allenfalls meine Erinnerungen , ja , das ist meine : Geschichte !

Die Leute , die ich damals kannte und nie wieder gesehen habe ; deren Spur ich verloren habe. Ich bin einer Epoche treu .Behalte alles . Kann alles mit Jahreszahl versehen . Hilde 1999 . Ich , die Glucke .

 

 

16

Das ausgeloste Traumpaar hat Platz genommen ; Malevitch der  Stimmungsmaler bastelt noch an der Anlage vorne .

 

„Ich bin die Yvonne Berleburg“ , sagt die Dame und faltet ihre Knie .

„ Devonport  . James , “ sagt  das  sportive , gebräunte , schmallippig lächelnde Gegenüber .

„ Aus Plymouth in Britain“.  Er setzte hinzu : „Nein , ich bin kein amerikanischer Ölmillionär . Und Sie können mir alles erzählen über die romantische Rheinstrecke ab Fluss- Kilometer 653 ?“

 

So ist es anscheinend vereinbart . Sie nippen ihre Aperitifs aus und gehen vor dem Dinner an Deck , höchstens verstohlen gemustert von  anderen Passagieren . Er atmet weit durch .

„Es riecht nicht nach Meer , aber irgendwie …..nach dauerhaftem

Frühling ,“ sagt er .

„Heinrich Heine über die Lorelei … ; apropos dauerhafter Frühling :

Er starb auch – und das in Paris in einer miserablen Mansarde“ .

 

Das Essen ist in allen fünf Gängen erlesen französisch und überschaubar ; aber wie ein Hauch von Essay , und gelungen .

Ja , es war eine schöne Situation , da können sie übereinkommen ; jeder fühlt sich aufgehoben , als draußen der Abend fällt ; das Schiff fährt langsam und ruhig ; aufgehoben aber auch mit entfalteten Flügeln , im Aufwind ; sie lächeln unangestrengt . Um 9 sehen sie sich wie verabredet noch einmal auffordernd an , nicken stumm und gehen zu ihrer Kabine .

 

17

Morgen ist auch noch ein Tag  ….Und es stimmte !

Der Weg zum Marktplatz in Nijmwegen geht leicht bergauf . Giacomo und Starbacks werden in ihrem Schlendern überholt von einer jungen Radfahrerin . Sie trägt einen kurzen schwarzen Rock über schwarzen Strümpfen ; und die Mühen des Pedaltretens zwingen ihr Hinterteil in

sehr betonte Globalisierung . Wahrlich , nie sah Giaco solche perfekten Rundungen , wie sie über den Sattel  streicheln ; man sei erinnert an die Kugeln eines Rosenkranzes , wie sie durch eine Hand laufen , gleich-mäßig und glatt .

 

Wir sind in einer katholisch geprägten Stadt angelandet. Unter den Kirchen , die hier mangels Christenheit neuerdings umgenutzt werden , ist auch Sankt Egidius . Bislang finden sich St. Eustachius in neuer Funktion als großer Büchertempel , die Kreuzherrenkirche als

Luxushotel ; St. Gerberan etwas schnöder als öffentlicher Fahrrad-hangar :  Aber man ist ja auch in den Niederlanden .  Sankt Egidius ist noch in der Verhandlungsmenge , und einer der aussichtsreichsten Kandidaten ist der Bordellkonzern der Dame im schwarzen Hosen-

anzug .

 

Giacomo schreit ( insgeheim ) Frau Doktor Brummer-Koch noch

hinterher  :

„ Noch mal langsam zum Mitschreiben  . Erotik : Das braucht Risse , Eros….im Sinne von Erosion . Lachen Sie nur !  Wo eben noch Hochglanz , glatte Oberfläche , Wohlanständigkeit und hermetische Sterilität : Da ist jetzt etwas angedeutet ; ganz wenig kann man vielleicht auch : sehen . Da wird etwas passieren.

IHRE Politurläden , Frau Doktor , lassen keine Risse zu. Konform bravbrav .Chrom Metallic Hochglanz .Schwamm drüber . Warum leben .“

 

Was Giaco sonst noch und im Doppelpack dazu meint : Erotik baut auf eine Art Tollpatschigkeit ! auf Überraschung und Verlegenheit oder Zögern , natürlich wie sattsam und allüberall  bekannt : Verzögerung ; Husten , Erröten , Räuspern ; sozusagen Un-Eleganz ! Oder : Eleganz zwischen den Bewohnern des Fettnäpfchens . Wie zum Beispiel auch der Satz hinterher : „ Wie konnte ich nur so blöd sein , dies SOOO

( oder : nicht ) zu sagen .“

 

Zögern Verzögern Verschlampen – und dann gerade deswegen aufgefangen zu werden . Spitzenbesatz und Rüschen über der fiebrigen oder straffen oder sonnenungewohnten bzw.-abgewendeten Haut .

Über , wie Malevitch einmal spottet : `Silicon Valley ´.

 

 

 

V Stadt und Flughafen

 

1

Neun Uhr morgens  .

Die Morgenhelle . Man wacht auf und findet sich bereits seit Stunden von der Helle angestarrt . Auf der einen Seite des Humboldtplatzes geht eine Mutter in zügigem Tempo Richtung Kita ; die Dreijährige an ihrer Hand muss viele kleine Schritte trippeln , konzentriert tippeln ; auf ihrem Rücken wuchtet ein beachtlicher Rucksack . Die Kleine will nichts falsch machen : Die Mutter hat ihr gerade erklärt  , dass sie es eilig haben .

 

Neun Uhr  Zehn .

Auf der anderen Seite des Platzes ist es auch gerade erst neun Uhr

soundsoviel , und ich wundere mich , dass da schon vier Penner

stehen . Jeweils mit Kippe in der einen , Flasche in der anderen Hand , Kapuze auf dem Kopf ;  aus Langeweile und Kälte scharren sie mit den Füßen  . Oder schreiben sie etwas in den Sand ?

 

Ich wundere mich . Eigentlich dachte ich , diese Obdachlosen müssten bis in den Vormittag ihren Rausch ausschlafen : und jetzt sind sie schon hier ? Vielleicht  hat sie einfach ihr Nachtasyl rausgeschmissen , weil da jetzt ` klar Schiff´ gemacht wird .

Oder , tristere Erklärung : Diese Leute schlafen nachts gar nicht so gut , haben Albträume , hängen Erinnerungen nach oder  grübeln über vertanen Chancen .

 

Dort dann , dritte Seite vom Platz  : Zwei Teenager  an der Bushalte-stelle , frisch verliebt , wie man an ihrer fiebrigen Innigkeit bemerkt ; und schon mit dem Schicksal geschlagen , dass sie sich gleich für die Länge eines Schultages  trennen müssen . Und noch einen Kuss . Sie turteln . Als ob sie die verschiedenen Enden eines Schnürsenkels verschluckt hätten und nun versuchten , ihn in der Mitte zwischen beiden Mündern durchzubeißen . Ich denke an Aimée und dass und wie ich ihr das erzählen würde .

 

Immerhin macht mir die Frühe dann auch einige Versöhnungs-

angebote . Im Bäckerladen lässt eine alte Dame die Verkäuferin zutraulich in ihrem Portemonnaie kramen , weil sie selber nicht mehr gut sieht . Im Autoradio werde ich informiert , dass eine Norah sowieso gerade interviewt werde , Schülerin , erfolgreich als Künstlerin mit Konzept .

 

Radio Originalton . Wichtignehmend .

„ Norah , sagen Sie uns doch bitte zunächst , was wir hier sehen .“

„ Also auf den Bildern , es sind mehrere , eine Sequenz , sind nebeneinander jeweils zwei Quadrate angeordnet ; zwei , das ist

wichtig . Mal ist das linke größer , mal das rechte , manchmal sind sie fast gleich groß oder wirklich in der Fläche identisch . Hier ist das kleine gleichzeitig weiter nach unten verrutscht , hier hängt das große rechte Quadrat irgendwie schief , fast aus dem Rahmen heraus .“

„ Unsere Hörer können sich bestimmt ein Bild machen . Da ist aber noch mehr zu sehen , Norah .“

„ Ja , eigentlich genauso wichtig : Über dem linken und dem rechten  Quadrat steht jeweils ein Wort , und damit ist der Schlüssel zum Konzept gegeben .“

Norah klingt reflektiert  . Angeblich ist sie erst 17 , wirkt aber wie

` Mitarbeiterin mit eigenem Verantwortungsbereich ´ . Sie ist – wollen wir wetten ? – schlank  , hat einen hellen Teint und braune Augen , eine neugierige Nase und, wie Starbacks sagen würde , `Zähne wie ein Speerwerfer ´,  sprich : Eine sehr deutliche Zahnklammer für ihre fast nach vorne geklappten Beißerchen .

„Ja , sollen wir es den Hörern sagen , was da steht ? Oder ist damit die Spannung geplatzt ?“

„ Das müssen die Betrachter dann doch selbst entscheiden . Nein , reden wir ruhig über das Konzept .

Also , das Wort jeweils über dem rechten Quadrat ist : Falsch ; das über dem linken : Richtig . Und hier in dieser Teilsequenz sehen wir die gleichen Worte in einigen Fremdsprachen : Right/wrong ; correct/faut

etc .“

„ Aha . In der Tat . Eine optisch intensive Zusammenwirkung von Farbe ,

Form , Buchstabe …auch von Botschaft , Norah?“

„ Darüber muss  jeder selber nachdenken . Aber es hat wohl was damit zu tun , dass wir  in schwierigen Situationen manchmal beide Möglichkeiten als gleich gut , gleich schlecht erleben ; mal ist aber auch das eine viel deutlicher und eine Versuchung ; mal ist unsere Perspektive einfach verzerrt , wir sind verführbar . Es hat zu tun mit unseren Lebensentscheidungen und dem Nachdenken darüber .“

 

„ SEHR schlüssig ; vielen Dank , dass Sie unseren Hörern das einmal so nahe bringen . Noch zwei Fragen : Bis wann können wir diese

serielle Kunst betrachten ?“

„ Die sind noch zu sehen bis zum 8. Januar , hier in der Galerie Brülls am Neumarkt .“

„ Und , Norah , Sie sind ja erst 17 ; wie geht ihr Weg weiter nach diesem doch sehr frühen Erfolg? “

 

Ich stelle das Radio ab und fahre los zum Treffpunkt mit meinem ersten Fahrschüler heute morgen , einem gewissen Noah , Treffpunkt Jahnstraßenring .  Und da hängen bereits Plakate , die auf die eben besprochene Ausstellung hinweisen :

` Gordische Quadrate , von Norah Söhringer ; Galerie Brülls ,

bis 8. Januar ´.

 

2

Einen Tag vor Annes Abflug . Wahrscheinlich schlafen wir beide

schlecht . Ich jedenfalls . Wie ich so wach liege und sie leise schnarcht , zutraulich wie ein gemütlicher Vulkan , kommt mir der Gedanke , nächtlich verkramt und überdreht :

Was für einen Unterschied ein einziger Buchstabe machen kann :

`Die Verlassende ´, `die Verlassene ´.

Dass ich meine Frau Anne liebe , merke ich- man glaube mir das – häufiger . Ist ja auch gut so und in der Ordnung . Und allerspätestens , wenn ich sie zum Flughafen bringe oder von dort abhole .

 

Heute begleite ich sie zum Abflug nach Kanada . Ihre Heimat ist

Magdeburg in der ehemaligen DDR ( Starbacks spottet über die ostdeutsche Rechtsradikalisierung , Pegida und so , und spricht von der `zukünftigen DDR ´) und ihre Familie hat sich , wie gesagt , nach Ende des Kalten Krieges in ganz Westeuropa und Amerika verteilt . Viel zu lange hat sie nichts von ihren Verwandten in Kanada gesehen und möchte sie jetzt besuchen , innerhalb ihres Sabbatjahrs .

 

Wir haben Zeit auf der Anfahrt zum Flughafen und ich ordne mich  auf dem Ring friedlich und freundlich auf dem rechten Fahrstreifen ein : Man muss auch gönnen können , sage ich den überholenden Rasern nach ; oder , wie es eine frühere Generation zu formulieren pflegte : Jaja , ihr sollt es einmal besser haben . Noch haben wir nicht den Autobahnzubringer erreicht , ab dem spätestens ich mit Rührung zu kämpfen habe , und der Wagen kommt im stockenden Verkehr jetzt nur noch langsam voran.

 

In mir klingt  ein wenig Genervtheit  nach als Resultat von unserem gestrigen Verabschiedungsempfang mit engen Freunden und Familie .

Zu solchen Gelegenheiten besteht Anne immer darauf , kulinarische Expertise ` zu leben ´, wie man so sagt heutzutage ( `Ich lebe meine Steuererklärung ´ ).  Und so schwelgt sie laut in Erinnerungen an Boeuf Bourguignon , wie zuletzt im Beaujolais gegessen:

„ einfacher Routier  an der Route Nationale ;  aber auch der (boeuf )im Dingue in Montmajour ist nicht schlecht .“

 

Unlängst , im heimischen Mülheim , ist die Empfehlung `unseres ´

( = IHRES ! ) Chef de Cuisine  grob irreführend gewesen , und die Schweinelendchen hatten einfach nicht den Biss , das Nussige , wie – weißt Du noch ? damals in Marseille ? wie hieß noch das Restaurant ? Ach ja richtig , `Le Chalet´-  am Vieux Port….

 

Leider ist unser Freundeskreis so gestrickt , dass viele diesen Handschuh aufnehmen und das Amt der allerberufensten Küchenkritiker Anne nicht kampflos überlassen wollen .

 

Welche Fehlinvestition !

 

von sozialer Energie , schreit es in mir  : Die meisten von ihnen sind

Intellektuelle , Ärzte , Journalisten ; ein Richter , eine  Romanautorin –; sie haben etliche Semester an Unis zugebracht , und jetzt fällt ihnen nichts anderes ein als Jakobsmuscheln in Gorgonzolasauce an……(vergessen was) , sicher aber gekauft bei der korrekten Frau Söhringer .  Von der später .

 

`Ihr verwechselt Kultur mit Fresskultur ,´

 

habe ich schon einmal entnervt in die Runde gestreut , was sie in Minutenstarre versetzt hat und mir einige Zeit Quarantäne einbrachte .

 

Nur auf meinen Bruder Giacomo kann ich mich verlassen . Gestern hatte der wieder den nötigen  Mut zur Einsamkeit  und irgendwann gesagt :

„ Können wir nicht mal über was so richtig Wichtiges sprechen ? Über

mich ? Politik ? Sex ? Oder das Wetter ?“

 

und veranstaltete prompt ein nachkulinarisches Experiment , das alle  gut erzogenen Kochadepten stirnrunzelnd den Kopf schütteln ließ .

Er grübelte laut : „Überraschend manchmal , welche Frauen einen Rock tragen : Oft sind es die mit den weniger auffallenden Gesichtern – aber der Rest stimmt . Manchmal legen sie es auf eine besondere Art der Balance an : Je sündiger die Beine ( unter einem vielleicht  konventionellen , bewusst spießigen Rock ) , desto harmloser , fast bäurisch –landluftig das Gesicht . In der Körpermitte dann der Ausgangs-

( oder :Null?) punkt .“

 

Er hielt uns zwei Fotos mit Frauenköpfen vor , beide etwa gleichen

Alters , Ende 20 , mit etwa gleich freundlichem Gesichtsausdruck ; beide nicht unbedingt hübsch , aber auch nicht unangenehm .

Giacomo fragt also : „ Jetzt der Test . Wir sehen hier nur die Köpfe . Welche ( nur EINE !) der beiden Frauen ….hat einen Rock an ?“

Dekadent , das alles .

 

4

Zurück zur eben verlassenen Situation Richtung Flughafen .

Über den Fluss hinweg !  erstreckt sich die Einflugschneise . Alle drei Minuten gleitet ein Klipper verlangsamt nur noch hundert Meter niedrig von West nach Ost über den Fluss . Wie der zweite Zeiger , neben dem Fluss ,  auf diesem morgendlichen Zifferblatt . Mir fällt der Flugzeugunfall auf dem East River ein , als ein Pilot nach Fehlstart den Airliner sanft auf dem Fluss landet und wider Erwarten alle Menschen gerettet werden .

 

Ankunft in Köln/Bonn Airport .

Wichtigtuerei ! Nennen wir es so : Als ob immer gleich  der ganze Planet verlagert würde ! Alles fliegt halt , jawohl , sozusagen selber , nach kurzem Ankunftsstutzen und Nachsehen auf dem Screen : Richtig! Antalya Gate 7 . Auf der Reklametafel lacht eine Zwölfjährige mit schlechten Zähnen und erinnert entfernt an Anne Frank  : „ Mein Vater macht , dass alle gut zum Flughafen kommen“ ( wg. Thyssen/Krupp ).  Sag ich ja .

Airport ist wie Kirche , denke ich mir , und empfinde das besonders

nach  zwei Tagen mit Terroranschlägen in Frankreich hintereinander .

Jeder hier kann schließlich Dein Töter sein . Oder der , der mit Dir stirbt . Der oder diejenige , deren Gesicht Du als letzten Zeitgenossen wahrnehmen oder mitnehmen wirst ins Jenseits . In die große Einsamkeit . Dann .

Sicherheitskontrollen ? Die ändern nicht viel an der Wahrnehmung . Nicht für die Ankunft-und Abflugterminals , wo jeder mit beliebig großem Gepäck unbehelligt durch die Gegend schiebt . Destineischen ?

So viele Leute in Sondersituationen , die ich leider immer noch nicht lieben kann . Obwohl das hier schon sehr wie Kirche ist .

 

Immerhin gibt es auf dem Flughafenlaufsteg unweigerlich auch schöne

Frauen , die in Dschihadzeiten nicht  aufgehört haben , schön zu sein . Ja , wir leisten Widerstand ……gegen die Lebensverächter …in our own little ways . Macht Flugvor-oder- nachbereitung Frauen unweigerlich schön ?

 

So repräsentativ zusammengestellt  scheint  die menschliche Palette auf dem Flughafen : Behinderte ,  Urlaubssüchtige , Urlaubsernüchterte , Businessclass , Großmütter , Kinder . Klein und staunend oder in der Pubertät schon voll cool . Ein älterer Mann ist mit seinem I-phone wirr tastenaktiv  , spricht aber prägnant Kölsch . Und nicht  erschrecken ! Der Mann mit diesem länglich schwarzen Ding am Hosenbund – ist nur ein Kellner , der seine Geldtasche in einer Art Pistolenhalfter trägt .

 

Verschiedene Sprachen vor einem Höhleneingang zu verschiedenen Erfahrungen . Redliche Menschen , die hier ihr Geld verdienen . Security-Toilettenfrauen-Schildhochhalter . Backwarenverteiler .

Einige Abholer mit Blumen . Für wen ? Welches Verdienst wird da belohnt ? Der Mann hat zwei exakt  identische Blumensträuße in der Hand ; das wirkt einigermaßen absurd . Hoffentlich kann er sich gleich entscheiden . Die Türen  an der Ankunftrampe schieben sich auf ,  und zu jedem Wartenden gibt es  einen Ankommenden ; beide zusammen brechen in zusammenpassendes Lächeln aus . Wie beim Memory , dieses Finden von Entsprechungen .

Und dann und wann wird ein Krimineller in Handschellen , flankiert von zwei Polizisten , über die Rampe gezogen : Nein , auf den hat sich hier niemand gefreut .

 

Babylon  Airport . Die Asiatinnen sind (höre ich ) deutschen Männern

am liebsten , aber Balkan geht auch . Welche Macht dieser Flughafen hat ! Jeder hier will und bekommt Menschen im Arrival ; Menschen  wollen Ausland und bekommen es im Departure ; vulkanisch mutet uns diese Schleuder planetarischen Lebens an. Jede Anlieferung/Abholung von Flugpassagieren macht mich klein . Vom Parkhaus bis zum Gate bin ich durchgängig labyrinthschwindlig ; alles wirbelt beschleunigt um mich herum ; vielfältigste Kürzel und Code verlangen den jeweils komplett Initiierten , Parkticket ist Steinzeit , buchen Sie über Handy –

 

Und Melanie , die da vielleicht jetzt aus Vancouver kommend landet , hat irgendwie doch damit gerechnet , dass ihr hiesiger Liebhaber sie überraschend erwartet . Es ist aber nur ihr Ehemann , der da ohne Blumen steht .

 

Ich stehe irgendwann allein in einem Glasaufzug mit einer Diva , die vielleicht gleich behaupten wird , ich hätte sie begrapscht .

Alle bleiben nur so lange wie nötig am Airport , vom Rhythmus der Pünktlichkeiten oder Verspätungen diktiert . Aber ich genieße es , hier in aller Ausführlichkeit so viele Menschen zu sehen , von denen ich mich nicht unterscheiden muss , über die ich mich nicht erheben muss – erst recht nicht mehr seit den Mordanschlägen vorige Woche . Alle sind überdurchschnittlich gut erzogen und konzentriert in ihrer Wachsamkeit . Eine kurzfristig organisierte Gemeinschaft der Seligen – aber ein Gottesdienst dauert auch nicht kürzer  als hier der Aufenthalt am Gate oder in den Shopping Malls .

 

Giacomo sagt : „ Tourismus ! dieses bracchial wahrgenommene Recht auf Heimat : anderswo ! irgendwo , jawohl , je nach Laune , durchaus mit dem Ellenbogen und last Minute . Immer irgendwie knapp an den Flüchtlingstrauben im Fischerboot vorbei.“

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Natürlich ist es eher unwahrscheinlich , dass wir uns alle am Terminal an den Händen fassen und ` we shall overcome ´ singen …. lauter Weltbürger , auch in der Economy-Class um uns herum ; und die

Kinder , die klammern….aber : Zeigen Flughäfen die Menschen nicht von ihrer besseren Seite ?

 

 

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Eine doppelte Handlänge , misst Steffika aus .

Du übertreibst , sage ich .

Und mehr ! als eine nette Handvoll , meint Steffika .

Krieg Deine mütterliche Rührung in den Griff , sage ich .

Liegt gut in der Hand , sagt Steffika .

Das bringt mich auf einen guten Namen für Malevitchs neue Band : `Molested Testicles ´.

 

 

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Am nächsten Tag .

Ich beeile mich möglichst schnell die Bank zu verlassen und haste hinter einer Frau her , die vor mir ein anderes Drehtürkompartment

schiebt . Wie wäre es, wenn wir – eigentlich doch ganz ähnlich – in einer Duschkabine versammelt wären ? Oder in einer Telefonzelle , meinetwegen ?

 

Die Dame dreht und schiebt ( die Zelle vor mir ) . Das Glasgewölbe ist wirklich aus Glas ; sie sieht nicht , dass die Drehung noch nicht abgeschlossen ist , und  geht ohne mein Einwirken ( aber auch ohne Hilfsmöglichkeit meinerseits  ) an der falschen Stelle heraus aus der Glaszelle bzw. versucht es und stößt ihre Nase an der Rundscheibe  .

Ich bin zur Stelle und tätige manch mitleidige Bemerkung , was sie im Schwindelgefühl dankbar lächelnd annimmt . Sie trägt einen auffälligen Seidenanzug, wehend , und die Drehtür fächelt weiter Luft , ergiebig und produktiv um ihre Konturen . Das Textilmuster ist von Zebrastreifen oder Kassenregistraturschraffur abgekupfert . Die Dame hat einen Jungenkopf , recht kurze , ans Ohr gefräste blonde Haare , eine aufmüpfige Nase :

 

PPPPPÖ!

 

( als sagte sie das öfters ) .

 

„ Und ? Wie geht die Geschichte weiter ?“

fragt Giacomo mich . Wir sehen beiläufig , dass die Kellner gewechselt haben .

Das Schicksal hat es gut mit uns gemeint : Wir sind insgesamt doch eng befreundet , und wir leben immer noch in der gleichen Stadt

( wenn Giaco auch oft auf der `Cythera´ unterwegs ist ) . Und viele unserer Résumées und Treffs finden im `Chien Andalou ´ statt , unserem Lieblingscafé  , künftighin manchmal auch als `C&A´ abgekürzt .

 

Eine  andere Serviererin ist also jetzt für diese Sektion in dieser Schicht

zuständig . Sie trägt ihre blonden Haare in einer Art Brezel um den Hinterkopf gewunden ; visibility von  Schultern und Hals gut , Hals an dem eine Goldkette die  frische Hautfarbe noch betont .

Giacomo folgt meinem Blick und sagt dann nach einer Weile :

„ Ich muss an das Paragraph-Zeichen denken, “( er malt es auf den Bierdeckel ) :

 

 

 

 

 

„ nicht wegen juristischer Bedräuung  , sondern weil bei ihr die Rundungen so herrlich ineinander übergehen , vom Schwung der Backen zu ihrem Busen“ ,

im weißen T-Shirt mit wirklich kurvigem Décolleté , meint er .

Dieser Busen ist für uns , die wir hier gerade mit Blick auf das Wesentliche sitzen , eine Art Kommandozentrale im Raum , und der Kerzenschein ( weiße Kerzen ) bewirkt Echos angenehmster visueller

Art .

 

Und jetzt steht die eben abgelöste Serviererin  auf einmal im Mantel da !

Das Restaurant hat vielleicht den Namen oder die Strasse gewechselt ?

gleich ist SIE Gast , Besucherin , die ihr Handy konsultiert :

Wann kommt endlich ihr Chauffeur vorbei ; sie winkt ihren Eben-noch-Kollegen zu und stöckelt an uns vorbei in den Abend hinaus  . Der Mantel weht großzügig , sie trifft da draußen irgendwen , nicht uns .

 

 

 

 

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Giacomo bemüht sich ( unangestrengt ) , wo er geht , steht , trinkt und plaudert ,  weitere  Hostessen für `Cythera´ zu gewinnen . Er denkt dabei

etwa an Rita , die Anwältin ; und auch an Klara Rukova mit ihrem tschechischen Akzent , ein Hochsommer-Spätnachmittagshauch von Weichzeichner in der Sprache . Am meisten aber drängt sich meinem Bruder Frau von Söhringer in die Wahrnehmung . Felice von Söhringer .

 

Die hat den kleinen Laden gegenüber vom C&A , und ist dort

Hoflieferantin der Toskanafraktion . Führt also alles möglich Tönerne,

Keramische und Überflüssige aus Volterra ; Oliven  und Wein  natürlich , Spezereien und Nudlwerk ( sic ) aus Etrurien .

Alles für den beflissenen Mittelstand , der nichts falsch machen und sich nichts nachsagen lassen will , was etwa den falschen Einsatz von Pfifferlingen ( geht gar nicht ! ) anbetrifft . Preußentum , so richtig ! und up to date .

Felice lebt gut von ihrem Nippes-Verkauf ( in Köln- Nippes !)  und man gönnt es ihr . Man gönnte ihr aber auch einen anderen Gatten . Wehret den Anfängen ! ( würde der sagen ) .

Felice v.S. ist um die vierzig , schlank , und trägt eine strenge Lehrerinnenbrille ; versucht ihre Kunden mit Geduld zur Gänze auszuhorchen , was denn da vielleicht an Anschaffung gemeint sei . Sie schaut sodann selber wie  ratlos über ihre Regale ; lächelt nicht selten , aber stets  genau abgesteckt  ; ihre Lippen laufen seitwärts genau einskommafünf Zentimeter auseinander ( nicht zwei !) . Sie hat  einen hellen freundlichen Blick und eine leise Stimme , trägt Jeans , oft Seidenblusen ; ist Mutter und Tante und dies sehrsehr lieb .

Ihre spitze , aber gute Nase ist gut auch fürs Geschäft ,  und

sie ist  überaus kultiviert – was jedenfalls Toskanisches angeht .

Noch dazu , was auch auf anderweitige Vollkommenheiten schließen lässt , läuft in ihrem Laden immer dezente Jazzmusik .

 

Einmal (ach leider nur einmal , aber Giaco war hingerissener

Zeuge ) schaute sie wieder wie beschrieben kokett überfordert ratlos über die Angebotspalette ihrer Ladenregale . Ein Kunde hatte sie nach einer exotischen Kaffeemarke gefragt . Sie zuckte die Schultern .

Nein , sagte Giaco , das sei eine irreführende Aussage .

Sie zog in bieder-lasziver (!) Motorik die eine Schulter hoch an ihr

Kinn , daraus wurde ein nachdenkliches schultriges Streicheln von Wange und Kinn , und Giaco sah , dass noch ihre Hüfte fern ! fern! diesem Impuls folgte , und die ganze Körperlänge sich wellte , wie in  choreographischer Interpretation . Der Kunde fragte nach Abessinien-Blabla-Aroma feinherb, und daraus wurde ihrerseits ein ziseliert körpersprachliches

 

`Wir bestätigen hiermit den Erhalt ihrer Nachricht und verbleiben

in vorzüglicher Hochachtung und Erwartung Ihrer weiterhin

geschätzten etc ´ :

 

Als schmiegte Frau von Söhringer ihren Körper einer vorgegebenen Linie eines anderen Körpers an . Welchen Impuls genau hatte sie da bekommen , welche Schwingungen durchliefen ihre Fallhöhe ? Sie reagierte nicht einfallslos wie ein Spiegel : Sie interpretierte / der Betrachter rätselte . Es war faszinierend .

 

Ach wäre da nicht der Gatte !

Seines Zeichens ….man könnte meinen , er sei Hardwarevertreiber …. jedenfalls spricht er gerade mal wieder zu seiner Gemahlin fast lustvoll von der neuen Rechnergeneration . Ansonsten ist er ein Garant mieser Stimmung ,in kategorischer Weigerung , sich von der guten Laune anderer anstecken zu lassen . Mittags kommt er immer mit Rennrad , in Biker-Montur , also in Sportschuhen mit Noppen , die auf dem Parkett in Felices Laden kratzen und poltern . Nein , seine Eifersucht möchte man eher nicht wecken : Nicht eben eine Ulknudl .

Von da her passt er vielleicht gut in die italienische Landschaft , wie sie auf den Werbepostern in Frau von Söhringers Laden evoziert wird .

Nein , Stilettos verkauft sie nicht . Die hat der Gatte aber alle unter dem Kopfkissen .

 

Giacomo grübelt lange über eine mögliche Anwerbung der Inhaberin .

Das Unmögliche ( völlig Unmögliche !) ist uns halt Provokation . Jedenfalls grübelt er fast regelmäßig beim Espressogenuss nach der Mittagsmahlzeit .

 

Der Zufall will dann , dass eine nähere Kontaktaufnahme ganz einfach wird . Frau von Söhringer , Felice , ist eine vervollkommnete

( accomplished ) Tango-Tänzerin , leider – welch beklagenswerter  Mangel an Originalität ! – ausgerechnet mit ihrem Gatten im Duo eingespielt . Und sie nimmt ( zu Giacomos Überraschung ) an der Tango-Soirée auf der ` Cythera´  teil , auf einer Freitagabendfahrt zwischen Köln und Lorelei .

„ Event , event , ein Lichtlein brennt! “ murmelt Starbacks .

 

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Die `Cythera´ müht sich also stromauf . Rolandseck-Koblenz .

So wie sie hinter der Theke ihres kleinen Ladens sehr sparsam ist mit Bewegungen , nimmt Felice auch auf der Tanzfläche nur engsten Raum

ein .  Giacomo sagt : „ Magnet : Genau ! Das Bild passt . Bzw. magisches Loch !“ , weil sie noch mehr als ihre Konkurrentinnen den Blick ganz aus der Umgebung abzieht und nur Augen hat für den halben Quadratmeter ihrer Wirbel und Spiralen , Ausfälle und  Absetzmanöver . `Ihrer ´ heißt natürlich : Ihrer Choreographie und der ihres Partners , der leider ihr Mann ist .

Was mich tröstet , sagt Giacomo  : Sie kann wenigstens nicht von ihm ,

diesem Unverdienten , so gesehen werden  wie von den urteilsfähigen Männern im Publikum mit qualifizierter neidbenagter Wahrnehmung .

Ach , die Frau von Söringer .

Giacomo schlägt ihr kurzerhand vor , an Bord doch eine Filiale aufzumachen….mit all den schon in der Festlandszweigstelle

verführerisch ausgestellten Dingen , die unbedingt erwerben sollte wer-

egal.

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Am blauen Himmel kreuzen sich zwei Kondensspuren und komponieren  eine schottische Fahne. Ich bin  unterwegs , beruflich , mit dem alten Herrn Schnuller in der Autobahnunterführung am Flughafen . Noch fließt der Verkehr stramm , vielspurig , dicht , aber doch gerade noch zügig .

Langsamere Frauen aus den Vororten in straffer Obacht!- Haltung auf der rechten Fahrspur , und das ist auch gut so .

 

„ 4o bei Nässe !“

 

Ich vermute , diese Mahnung gilt speziell meinem Bruder , wenn die Beifahrerin auf dem Nebensitz gerade sehr erotisch stimuliert ist .

 

Dann eine Ampel .

Die lässt den Fahrlehrer über sein Tun nachdenken . Im Stau kann man sich auf die wirklich wichtigen Fragen konzentrieren . Auf das , was man in den Aussenspiegeln so sieht , was da hinter einem hergekrochen kommt . Wie originell : Ich fahre zwei Meter : Die Anderen dann , wenn sie an der Reihe sind , auch ! Na so was ! Grüne silbrige graue schwarze Limousinen , jede Stoßstange eine Reißkante : Bis hier und nicht weiter ; hier ende ich hier fängst Du an . Da wo ich jetzt bin bist Du

gleich . In einer Autokolonne ist jeder irgendwie  des Andren

Originalitätsdieb . Was man dem Hintermann voraus hat ,  ist nur der

Rückspiegel . Das kann uns keiner nehmen . Weitere zwei Meter . Irgendwann , kommt mir die Idee , wird sich die ganze Welt , die je einmal gespiegelt worden ist , rächen ! Sich vor einem aufbauen und sagen : So , Schluss jetzt  mit dem Kleinmachen im Spiegelglass ! Hier sind wir in voller Größe , und verlangen von Dir Rechenschaft für Dein kleinmachendes Sehen .

 

Über die B38 , vierspurig , geht hier eine Fußgängerbrücke , aus gutem alten 50er- Jahre Spannbeton . Das Bauwerk  ist äußerst großzügig angelegt ; wenn man im Stau langsam auf sie zurollt , scheint die Konstruktion die Spannweite eines Flugzeugs zu haben . Nur ein Fünftel der Brückenlänge geht über die Fahrbahn hinweg , der restliche Weg läuft lange sanft aus , von eiserner Balustrade von langsam immer näher kommendem Hundeacker getrennt . Freier Blick auf alles , auch auf den neuesten `Nudge´ ( diesmal in Rot )  und eine Einladung , dieses Fußgängerparadies  als Bühne oder Rednertribüne zu nutzen .

Was die Penner /Stadtkenner/ Obdachlosen öfters tun .

Einige stehen ständig auf dieser leicht ansteigenden Passerelle , hinter den Verstrebungen , fühlen sich zu Reden eingeladen ;   untermalt von wackligen undoder resignativen Gesten , positioniert in Wind oder Benebelung , auch im Verkehrskrach ; und unten gibt es vielleicht auch ein Parterre , das Aufmerksamkeit bietet .

 

Ja die Pennerszene .  Menschen , gelegentlich hysterisch ,  sonst verschlagen in eine Knautschzone von Resignation und Alles-egal-Haltung , in softer Betrübtheit über der Bierflasche.

Noah ( mehr von ihm später ) wurde schon öfters auf nen Schluck eingeladen und weiß , dass dieses Bier selten gekühlt ist . Ein Teil der Wärme kommt vielleicht auch von der kumpeligen Speichelbeimengung .

 

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„ Ich muss mal ,“ sagt Botswana zur erstbesten Vorbeikommenden , genauer gesagt zur Ersten von der Toilette zurückkommenden Dame .

„ Können SIE mal einen Augenblick auf das Geld aufpassen ?“

Frau v.S. meint nicht recht zu hören , stutzt , faltet sich dann aber

wohlerzogen an Botswanas Arbeitsplatz .

Die Vorbeikommenden staunen- ein wenig , Frau v.S. sieht vorsichtshalber auch mal in die Bibel ( Ecclesiastes ) , um Blicken auszuweichen . Die Männer halten sich links vom Treppenabgang , haben also nicht den schnellen Sichtkontakt zur Angestellten und zum Klingelbeutel . `…und das Meer wird nicht voll´, liest Frau v.S. gerade

( Botswana lässt sich wirklich viel Zeit ) , da gibt es ein Rascheln vor ihr . Ein 50 Euroschein liegt da , nicht geknüllt , aber auffällig , in der Schale . Und Frau v.S. erschrockener Blick fällt auf Giaco , der höflich eine Lüftung des Panamahuts andeutet . Frau v.S. steht rotgeworden auf , wird im Aufstehen rot , protestierend : `Ich bin hier nur zufällig!´ – und dass ein 50 Euro-Schein da liegt und auf unschuldige Art irgendeine Art von Symbolik ausdrückt  – macht sie entschieden noch roter .

Botswana kommt zurück , aber gleichzeitig Herr v.S. von oben . Botswana flötet : `Danke auch noch mal ´ und dreht bewundernd den Geldschein .

Herr v.S. schnellt auf Giacos Rockschöße zu , biegt dann in einem hektischen Armmanöver um und sackt den Geldschein ein , Botswana kreischt fragend , Giaco lacht , Frau v.S. trippelt in hektischer Flucht die Treppe hoch .

In der Folge verlassen die Söhringers das Schiff , noch vor  der Siegerehrung in Wiesbaden , und Herr v.S. ist in der Folge , fotografisch dokumentiert vom Fotografen Herrn ( `Pappa´) Ratzy , öfters in Konsultationen mit Frau Doktor (Brunner-Koch  ) zu sehen : Womöglich wird dort ein Racheplan bzgl. `Cythera´-Unternehmen und -Eigner ausbaldowert ?

 

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`The proof of the pudding is in the …´ ?

 

: In the streetlife . Die Nagelprobe für  eine gelungene Gesellschaft liegt in der Frage : Wieviel Zeit kann man auf der Straße , vor dem eigenen Haus , auf dem Platz vor dem Haus , auf dem Markt zubringen , so dass es Spaß macht ?

 

Sagt jemand , der eine feste Adresse und eine schöne Wohnung

hat .  Obdachlose oder Flüchtlinge auf der Landstraße denken anders .   Wenn es regnet , kaltgrauwindig ist , eigentlich wie immer an diesen verweigerten Tagen im deutschen Herbstwinter Winterherbst , dann haben die Leute keine Zeit auf der Straße für ein Schwätzchen , für

lechzendes Hinterhergucken vom Straßencafé aus .  Etwa nach

Frauen frühmorgens an der Fußgängerampel . Sie warten bei Rot ,

einfach so , selbst wenn nicht viele Autos unterwegs sind .  Da sage einer , es gebe nichts umsonst in unserer Welt  . Ich zappele , habe es eilig ; ach , was doch Ampeln den Stadtbürger misshandeln , beschnippeln , gängeln !

Eigentlich  ist der Schillerplatz ein Silbertablett für schnelles Gehen : Morgens zum Bahnhof , zur Arbeit ; nein , die Schulkinder haben Zeit . Abends Besorger und Sich( mit was Schönem )-Belohner . Menschen in Deutschland : Durchentlarvt .

Aus den Häusern treten die Frauen ( die Männer nimmt wer wie Giacomo nur wahr als Blick-Zwischenstop ) . Jetzt sind sie ganz neu auf den Laufsteg geschickt , am schönsten ; tragen dieses oder jenes Textil zum ersten Mal . Sie kommen frisch vom Frisierspiegel , haben noch ihre Freunde, Klicke , Mitarbeiter nicht getroffen : Treffen nur den Flaneur .

 

Die Stadt ist wie der frische Print einer erstgeöffneten Illustrierten .

Kater liegen stoisch auf den Mauern des Abrissgeländes. Kein Kater liegt bleiern auf meinem Schädel ; der  Weißwein gestern Abend  war ein freundlicher .Vor dem Postamt schwirren Zusteller auf gelben Fahrrädern aus . Sie wirken munter ,  alle im Studentenalter .  Was sie da an guter oder schlechter Botschaft austragen , ist nicht für sie bestimmt  , von daher – . Die Frau mit dem schlechten Start ( `eilig ´) wird einen von diesen anfahren , auf dass er im Krankenhaus lande ; weswegen einer der Briefe erst einen Tag später eintreffen wird ;

 

– da er eine gute Nachricht bringt ,—

– da er eine schlechte Nachricht bringt ,—-

 

Tja , was ?

 

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Hohnhold ist als erster da zum Rendezvous im verabredeten

Restaurant .Gutes Vorzeichen ist : Dass er noch einen Tisch bekommen hat ! In dieser angesagten Location .

Er gibt dem einen Kellner den Mantel , schiebt die Manschette hoch und sieht auf die Uhr ; nun ja , selbst wenn Marianna  pünktlich ist , muss er noch zehn Minuten umkriegen . Und er folgt dem anderen Servierer

zum reservierten Tisch . Überall sonst ist das Lokal gut ausgelastet , nur hier in der hinteren Fensterecke sind noch zwei Tische frei . Auf dem einen das Schildchen `Hohnhold´, das der Kellner jetzt einsammelt ; und auf dem Nebentisch ebenfalls ein Reserviert-Schildchen : ` von Söhringer ´.

Wie bitte ? `von Söhringer , 19 Uhr , 9 Personen ´.

Der Kellner wartet , dass Hohnhold sich auf den bereitgestellten Stuhl fallen lässt , und wundert sich über dessen starren Blick auf den Nachbartisch .

Wie viele Leute mögen Söhringer heissen ? VON Söhringer ? Und er greift halb nach dem Ärmel des Kellners : Soll er die Reservierung abblasen ?

Und : Heißt das …. sie hat nicht mehr geheiratet , oder den Namen trotz neuer Ehe beibehalten ? 9 Personen . Klingt nach : Mittlerweile Großmutter und Enkelschar ; Zeit gut genutzt ?  oder nur so was wie : Teamsitzung nach erfolgreicher Präsentation ?

 

 

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An der Kasse im Supermarkt gegenüber staut es sich bei einer neu einzuarbeitenden Mitarbeiterin . Die ältere Dame vor mir blättert in ihrer Geldbörse , in deren Sichtfenster zwei Familienbilder stecken ; ein älterer Mann und eine weitere ältere Frau , vielleicht ihre Schwester ? Oder Schwägerin ?  Die Dame zahlt und merkt nicht , dass sie von jemandem hinter ihr , einem Mensch ohne Familienbildchen im Portemonnaie , in dieser x-beliebigen Supermarktschlange beneidet

wird .

Draußen stehe ich im Bahnhofssoziotop . DAS Kuschelbett für Fakire : Wieviel beschädigte Typen es gibt ! nennen wir es den allgemeinen Arbeitslosentreff . Und zwei Penner spielen Nachlaufen .

Nein . Es ist natürlich viel schlimmer . Sie zetert , er rennt ihr einige Schritte voraus . Für sie , im Augenblick ,  ist die Stadt eine Wüste oder eine einsame Insel , auf der es höchstens Möwengeschrei  und keinerlei menschliche Zuhörer gibt  . Jedenfalls ist zumindest in IHRER Welt niemand , der nicht zuhören soll :

„ Ich hab Dir doch gesagt , das mit dem Antrag …Du  verschlampst immer alles .“

Er macht eine abwehrende wegwerfende Handbewegung , schreitet eilig weiter , das Bier in der Flasche schwappt entsetzt .

Andere hiesige Scherben sind die Babies im sozialen Wohnungsbau, wie sie sich ins Delirium schreien, gewissenhaft  ; gewissenhaft Stadien und Hierarchien von Missvergnügen einhaltend und ausdrückend .

 

Ach , und trotzdem !

Sie ist unterschätzt , die Gastlichkeit unserer Städte : Die kleine tägliche Freundlichkeit , etwa wenn die Ampel von grün auf gelb springt , und Du genau weißt , doch ! Du kommst noch mit durch . Vor dem Rot . Da spricht wer zu Dir . DU schaffst das , ich , Ampel , weiß es genau . Wenn Du Dich beeilst. Ampeln lassen die Stadt atmen .Geben Dir  genau abgemessen ein Quentchen Zeit , manchmal nicht genug  , aber sie haben sich sicher was dabei gedacht ; sie wissen , was Du verpasst , wenn Du diese Grünphase nicht mehr zu Ende nutzen kannst .

Die Stadt atmet . Und wenn die Ampeltakte schneller werden und man  Rotgelbgrün verwünscht: Wahrscheinlich sind das die Albträume ,  die wir Fahrer und Fußgänger nicht nachts , sondern tagsüber haben .

Die Caféterrassenbesucher sind mit den Ampeln am engsten

befreundet .  Sie haben was zu gucken . Auf die Gezeiten der Stadt .

 

Ich liege noch im Bett und denke :

Warum dieser Zufallstreff mit Aimée im November so wichtig war . Vor dem Zähneputzen , beim ersten Blick in den Spiegel kann ich das

nachsortieren . Ich erinnere mich an meine Herzensbrecherzeiten , als eigentlich recht viele Frauen und Mädchen mal einfach nur so nachgucken wollten , was ist das denn da für ein Typ , der ja immerhin irgendwas , weiß auch nicht genau , an sich hat .

` Der Typ ´ , strenggenommen also gar nicht ein Individuum , eher eine Art Botschafter für …..Angesagtes ; das bin ich , das gehört wesentlich zu meiner genetischen Definitionsmenge , wenn Sie so wollen , sollte irgendwann mal jemand mich rekonstruieren mögen.

Und dann, noch wichtiger : Aimée und ich – wir trennten  uns sozusagen im Unentschieden , wurden getrennt , verloren einander, waren beide redlich Besiegte und Verlierer damals . Ja , es war ein Geschlechter-kampf , unter progressivem Tarnanzug ( versteht sich ! man ist im ausgehenden 20. Jahrhundert ) , und es hatte Verlierer und Sieger zu geben .

Wenn ich sie jetzt wiedersehe , möchte ich anknüpfen ; die Antworten austauschen , die man mittlerweile auf nie gestellte Fragen gefunden

hat ; solch archäologische Liebe, solche Sehnsucht muss doch Gnade finden .

 

Ich gehe bei weiter geschlossenen Augen noch einmal auf Reisen . In meinem Lieblingsort in der Picardie , erinnere ich mich für Sekunden , suchen die Einwohner ( meistens Rentner als die Letztverbliebenen im Dorf ) morgens die Klippen ab nach Muscheln ; das Meer zieht sich diskret zurück und sagt : Nun guckt mal , ob für Euch was Passendes dabei ist .

 

Und in dieser wie jeder Stadt füllen sich morgens die Briefkästen mit der Flut : Druckwerk konkurrierender Pizza- Lieferanten und ähnlicher Müll . Und morgens findet nicht nur Giacomo auch eigentlich jede Frau attraktiv –  wie diese Frau jetzt da vorne : Morgens um 8 hat die ganze Stadt etwas Stöckelndes .

 

Sie heißt Rosa , ist sonst eher funktional in Kleidung und Schreiten ( ich weiß von ihr , dass sie zwei Kinder allein erzieht  ) , trägt heute einmal etwas anderes : Ihr T-Shirt , man sollte es wohl doch schon Bluse nennen , lässt auf dem Rücken durch ein Sichtfenster Haut sehen , das Gewebe über der Haut in spanischer Mantillen- Spitze . Sie möchte

( doch! schon !) begehrendem Blick einen Verweilort anbieten .

Ja , die Mädchen verbreiten Hochglanz :  Schaut auf diese Girls , Bürger der Welt . Wir sehen ihnen an , dass sie längere Zeit vor den Spiegeln in Badezimmer und Flur zugebracht haben : Die Stadt ist ihretwegen morgens eindeutig sexy , weil unverbraucht und lippenstiftfrisch , lipgloss happy .

Was für ein glückliches Ende nach den Alpträumen und Düsternissen der Nacht , den schlaflosen Rechenschaftsbefehlen bei den Leuten , die nicht schlafen können .

 

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An einem der Autos ist die Alarmanlage angesprungen . Sie tut ihr lautes Werk , bis ich um die Ecke bin , und dann auch noch 300 Meter in die Königsstraße hinein : Tonleiter im  Schwungbogen hinauf , zusammen-fallen , von vorne , rauf , Absturz , Schwung und rauf , in sich

zusammenfallen .

Ich wünschte , ich könnte noch ein paar Ecken hinter mich bringen , um den Ton loszuwerden , aber dies ist nun mal der kürzeste Weg zur Firmenzentrale .

 

Zur Belohnung , als ich dann in den Park einbiege , ist die Alarmanlage nicht mehr zu hören  , stattdessen ein Vogel , der eine freie , ziemlich unberechenbare , fröhliche Tonfolge in den Morgen stellt ; ein Erlöser , eine Zauberflöte . Der Tag ist nicht gerettet , aber erst mal nicht

verloren . Danke Birdie .

 

Und gleich , auf dem Firmanparkplatz , werde ich in meinen neuen Alfa

Nosferatu einsteigen ! Mein ganzer Stolz , gerade neu eingetroffen , vom Transporter gerollt .  Mein Lieblingsauto vorher, meine verflossene Augenweide , war ein alter Peugeot . Ein französischer Nostalgieroller ; wie sie immer den Parkstreifen in der Rue Poissonière oder den Place du Marché unsichtbar , aber fühlbar um sich herum mittransportieren . Alte Peugeots oder Renaults machen in ihrem Film Noir die Welt immer ein bisschen kleiner , wärmer , handlicher  . Pech für sie , dass  ich bei der letzten Automobilausstellung auf den neuen Nosferatu stieß .

 

Bei anderen Autos ist das Design wie die Antwort auf eine nichtgestellte Frage …..oder nicht ?  Nicht so bei meinem Nosferatu. Natürlich teuer , was fürs Renomee von Hammelrath Fahrschulen , aber seit wann käme es darauf an . Dieses Prachtstück ist einfach das beste Phantom in der allgegenwärtigen Oper , das man für sein Geld kriegt ( technische Details auf Nachfrage  !)  .

 

Wichtiger ist , dass man dem Ding sagt : So , Du warst  sooooo teuer ,

 

jetzt mach Dich mal bezahlt . Du bist in dem Sinne mein Ein und Alles , auf dass Du mich ernährst , mir die Welt übersichtlich machst , mein Werkzeug ; ich und Du , wir nehmen es mit der Welt auf . Du bist die Kuscheldecke , die ich an meinen Körper heranziehe , ohne Dich würde es mir kalt . Du bist mein Werkzeug , sozusagen meine Hacke oder mein Beil ,  Buschmesser oder Schreibmaschine ; und mit der Zeit kriege ich Deine Macken schon raus !

Die ich Dir dann verzeihen werde , weil Deine Vorzüge mir ja viel wichtiger sind , weil die mich begleiten und mir die Einsamkeit  vom Hals halten ; Anti-Einsamkeitsgarant . Du hältst den Wolf draußen . Ich nehme Dich ernst ,  Du bist die Garantie , dass ICH ernst genommen werde , zumindest meine Anmeldung . So will ich denn  auch mein Bestes tun  , für diese Welt , die mit Dir etwas schöner und plausibler geworden ist .

 

Allerdings , und was ich irgendwie erst beim fünften Einsteigen merkte : Für die Wagentüren bräuchte man eigentlich einen Waffenschein : Wenn sie geöffnet werden , ist es als ob eine Lanze erigiert wird : Eine wirklich teuflische ( wenn auch luziferisch elegante ! ) Türspitze offeriert sich in die Straße hinein ; wie im Herbst Blätter aufgespießt werden ,  könnte ich demnächst Radfahrer von der Tür herunterpellen . So was merkt man erst beim Gebrauch , sagte auch der Verkäufer .

Als Starbacks den Wagen das erste Mal sieht , sagt er sinngemäß :

„Wer so ein Auto fährt , hat auch eine Meinung zu Fenchelsalami.“

 

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Ist das ein Morgen ! Wie damals , als man sich noch zum Geburtstag eine neue Uhr wünschte . Uhren sind doch immer  Startuhren .

Am Nebentisch im C&A sitzt ein junges Paar  , höchstens Anfang zwanzig , die ein riesiges Frühstück bestellt haben . Der Tisch kann knapp alle Servierplatten und Teller unterbringen . Ich schließe aus ihrem Riesenappetit auf Intensität lustvollen nächtlichen Agierens .

 

Und gerade vor mir traten da zwei Zwanzigjährige ein , von einem verblüffend anderen Stern , oder sagen wir Breitengrad .

Sie rümpfen nicht ihre netten gepuderten Nasen über das , was sie nicht sehen brauchen ; nichts kann sie zwingen , alles zu sehen .

Die eine zwirbelt ihre Lippen um gerade nachgezogenes Rouge , die andere schüttelt energisch den Kopf zu einer Bemerkung , die soeben gemacht worden sein mag . Beide sind chic , nicht sehr chic wohlbemerkt , ein bisschen Bohème- im- Winter- mäßig , aber von guten Marken .

 

In diesem und überhaupt jedem gediegeneren Stadtteil mischen sich auch schon mal (Fehler passieren !) Individuen in die  Straßencafé-gesellschaft , die weniger Geld haben . Man merkt dies an ihren sparsameren Bestellungen oder langen pro- Capuccino-Verweildauern . Die Einkommensunterschiede sind nicht an der Garderobe oder nicht notwendigerweise an Gesprächsthemen abzulesen, wenn auch die kritische Bemerkung zu einer  ` Cepage ´ eher auf den Zahnarztberuf verweist .  Ansonsten sind arme Dichter , stellungslose Schauspieler , Frauen die gerade erst eine Boutique aufgemacht haben usw. durchaus kulturell unter Gleichen ; man sieht der zerfledderten Jeans nicht an , ob sie gleich auf einen Fahrradsattel gehievt  oder in einen Ledersitz im BMW-Cabrio versenkt wird .

 

18

Im `World of Sex ´ am Bahnhof gibt es Dienstags morgens keine Kundschaft ; oder kaum . Ungesehen machen manche einen Großeinkauf  auf die Schnelle ; zahlen mit Karte , klar aber Spuren im worldwideweb hinterlassend . Die Verkäuferin weiß , dass manch aufgedrehter Kunde schon mal seine Bankcodes mehrfach eingeben muss : Fehlerfertil , aus Nervosität und Dringlichkeit .

Dafür hat das Beerdigungsinstitut an der Ecke zugemacht  , und stattdessen wird dort ein Friseursalon einziehen  . Na also ! Geht doch !

 

Eine Sirene liegt über die Stadt . Das Geräusch kommt wie immer aus der Fußgänger-und Einkaufszone . Warum erwischt es so viele fragile Menschen gerade hier , frage ich mich , im Kaufmob .

Aber das kann ja kein Argument gegen `Stadtleben ´an sich sein . Unlängst fragte mich Noah :

„ Wohnen Sie eigentlich auch in so einem Siedlungshaus , draußen ?“

Ich sagte dass nein .

Und ich versetzte weiter :

„ Mit diesen Häusern im Goethe –und Schillerweg verbinde ich

instinktiv : Du hattest eine Chance : Du hast sie verspielt .

Was ich an großen Städten hingegen so mag ( komischerweise am meisten im Dunkeln !) : Sie sagen : Wir geben Dir eine zweite Chance . Und das nicht nur ein Mal.“

 

Starbacks würde anmerken :

„ ? Nicht ganz logisch . Aber : Städte produzieren gute Verlierer .Das Land macht aus schlechten Siegern schlechte Verlierer .“ Was immer er damit meint .

 

Das meiste in dieser Stadt kann man bekanntlich vergessen , aber die gelegentlich vorbeikommende attraktive Frau lässt einen aushalten . Hätte ich gestern gesagt ;  Hochmut kommt vor dem Fall .

Da unten an der Bushaltestelle lungert sozusagen trotzdem eine

Schöne . Sie kriegt gerade nicht mit , dass sie schön ist ; unter ihrem Poncho von langem schwarzen Haar , hinter dem Bollwerk ihres Busens ( doch doch ) . Sie hat Augen und Finger ausgerichtet auf  ein Display , über das sie hektisch hinwegwinkt ; als gelte es mit bloßen Fingerkuppen Runen auf einem verwitterten Grabstein freizukratzen und nachzubuchstabieren .

Fingerkuppen auch hier . `The Nudge ´ hätte vielleicht seine Freude .

Die Fußgängerbrücke wringt  sich dann über ihr in Betonspiralen hoch zur Stadtautobahn , die den Rhein kreuzt . Ich setze mich auf eine

Bank  ; bleibe dann aber nicht sitzen . Der Fluss will etwas anderes von mir als mein Gucken von der Uferbank ; spontan fühle ich , ich muss gehen , in Bewegung die Wellen sehnsüchtig solidarisch begleiten .

Schiffe kämpfen sich wieder flussauf voran , da das Fahrverbot

nach dem Chemieunfall aufgehoben ist . Die jeweilige Bugwelle mit ihrem Geschäume ist  anzuschauen wie eine dramatische Unterschrift oder ein dahingeworfener Fehdehandschuh .

Der Rhein glänzt silbrig  ; ein silberhelles opulentes Mahl . So breit ist der Strom in seiner Schleife , dass die Frachter , die um die Ecke

biegen  , sich klein machen wie um ein Versteck bemüht  .

 

Ein Auto hält hinter mir . Zwei , die sich verstehen : Fluss und Auto . Es gibt nicht viele solcher privilegierten Parkplätze  ; man sollte diesen Uferstreifen  `Autohimmel ´nennen .  Autos halten hier Picknick : Die Natur , der Fluss , die Himmel sind rauschvoll unterworfen . Pudelzüchter müssen diese Gefühle öfters haben . Hallo , grüß Dich , Unterworfener !

Das Glück am Fluss macht  jeden zum Schmuggler , und zwar zum Erfolgreichen .

 

19

Sie sonnt sich , die Sonne meldet sich zur Stelle in blondem Haar und auf ihren hellen Schultern ; ihre Haut wie stolze Leistung , ein Triumph gar . Als sie gerade zu einem Windstoß aufsteht ,ist ihr T-Shirt  weit genug , dass der Stoff sich im Wehen leicht riffelt . Der Wind tut , was meine Hände gern täten ; der Wind umgibt sie wie ein Tanzpartner ,

sagt : Es ist Sommer , Deine Umarmungsbereitschaft grenzenlos . Schaut her , dies ist SIE  ; der Wind tanzt mit ihr , kennt sie , umschreibt sie ,  umarmt.

Und wir sind im Café ` Zum geschenkten Blick ´. Gefühlte Meilen weg vom Bildschirm, vom Formular ; den Blick auf Leute , Autos ( parkend und vorbeifahrend),  auf Kellner ( sind ja auch Leute ) und Kellnerinnen

( sind ja viel mehr als Leute : einen Blick wert ) und den Blick auf das , was frühsommerliche Windstöße so anrichten und verschieben .

Da drüben das historisch älteste Exemplar des `Nudge´. Immer noch hat niemand enträtselt , wer diesen Michelangelo-Gottvater-Finger da an die Wände oder auf den Bürgersteig druckt , und : Warum? Malevitch hatte neulich die Idee , dass es ` was  mit Lichtschranke´ sein könnte : Werbung für ? Warnung vor ? Keiner weiß mehr .

 

Schieres Warten hat in besagtem Café etwas Produktives , nicht nur Stabilisierendes . Giacomo etwa  sieht eine Frau mit Rock beim Einsteigen in das Auto . Diese Bettler der modernen Zeiten warten darauf , dass sie einen Blick unter eben jenes Textil werfen können . Aber Frauen sind sparsam , oder das Schicksal , oder die ökologische Verknappung von allem GutenWahren undSchönen . Männer sind sparsam mit Geld , Frauen mit Gewähren von Einblicken . Eine unter zwanzig trägt einen Rock ; unter fünfzig Rockträgerinnen steigt eine genau vor Dir genau so in ein Auto , dass der Saum zwanzig Zentimeter zu hoch rutscht , oder die Knie zu weit auseinander gehen  , oder der Wind etwas Unvorhergesehenes geschehen lässt . Sagt Giaco , der sich auskennt .

 

Die Studentin , die  per I-phone in die Welt hinaus kommuniziert , spricht nebenher mit dem Café-Inhaber , einem Iraner . Sie hat große dunkle Augen und einen großen  Mund von zentraler Bedeutung in ihrem Gesicht . Ihr Haar ist von besonders intensivem Schwarz , wie verkohlt : ` Die Dame aus dem Rauchfang ´ , will ich sie ab jetzt nennen .

 

Am Nebentisch links bemüht sich ein weiterer Jungakademiker um Wirkung im Gespräch mit einer Kommilitonin , vielleicht einer Hilfskraft an seinem Institut . Aus dem studentischen Permaleben in dieser Stadt ; Generation nach Generation von Wandervögeln : So unglaublich jung , pochend  auf bereits so pralle Welterfahrung .

Der Werbende , die Umworbene . Ersterer lädt sie ein in seine Villa Fernblick : Er habe doch wirklich Interesse mit Perspektive und Tiefgang an ihr . Sie weiß , das gehört zur Grundkonstellation , und sie hat keinen großen Bedarf am Aufwachen im Zimmer mit Aussicht auf Hinterhof nach einem One-Nighter . Sie zuckt die Schultern . Der liebe Gott ist Platzanweiser  und wird wissen , was er an diesem unentschiedenen Morgen tut .

 

Auch am hintersten Tisch sitzt eine Schöne . Jung , lieb , freundlich . So zeitlos klassisch harmonisch kirschlippig lächelnd und dunkeläugig meinend ! : Man möchte mit ihr auf die einsame Insel , ja , auch um Insulaner zu erzeugen ; aber eher in dem Sog des Schönen und

Jungen , dem man sich nicht widersetzen kann . Einfach nur , um rauszukriegen , wo sie wie und wann sie denn vielleicht ihre Tarnung fallen lässt . Schau nur , dieses treuherzig gehorsamsbereite Gesichtchen der Maid , auf Entdeckung durch das Modeblatt wartend , harrend der Lautsprecherdurchsage :

 

Wo ist sie nur , die Schöne ?-

 

bereit zu sagen :

 

 

Hier ! Hier !

 

wosonstwersonst .

(verschieben !)

 

20

Der Gang einer Stadt ( habe ich irgendwo gelesen  ) : Hier wiegen sich die Heroinabhängigen dynamisch um die Ecke , raumgreifend , auf dem Weg zur Metadon-Abgabe , zum Dealer , weg von der Frau mit den Alimente-Forderungen. Viele mit eingefallenen Backenknochen , fragil , anscheinend von  Glasknochenkrankheit im Gesicht befallen . Neuerdings die Mode der roten Schuhe . Frauen gehen wie Turbopuppen : Weg da , keine Zeit , schnell über rote Fußgänger-ampeln , gerne am Busbahnhof .  Hunde  liegen zwischen den Scherben einer Bierflasche .

Diese Menschen sind auch schon deswegen immer gut sichtbar , weil Normalos gerne einen weiten Bogen um sie machen und ihnen die Bühne räumen : Als hätte man sich eingestanden , da eine Schlacht verloren zu haben .  Sie sind das personifizierte schlechte Wetter ( aber andere haben doch auch Streetwear an ? ) , ja aber die hier aus innerer Überzeugung , aus Affinität . Raumgreifend rotbeschuht dynamisch wiegend , dabei schnurgerade vektoriell , nichts wie weg , jetzt aber schnell , voll straight  kürzester Weg von A nach B.  Dorthin ! Wo sie schon erwartet werden , am Busbahnhof , auf den Wartebänken , nach vorne gebeugt auf den niedrigen Sitzgittern , Bierflasche auf dem

Boden ,  rechts auf dem Schenkel ruhend die nachdenkliche Zigarette  . Man guckt nach vorne auf den Boden , da wo man gerade hin gespuckt hat ; so entblößt man nach hinten , in den Wind hinein , Sitzschwarte  . Weißt Du noch  , damals als Oma immer Eisbein mit Sauerkraut kochte : Daran muss ich , Arne Hammelrath , kannibalisch denken angesichts dieses roten Fleischwulstes .

 

21

Die Uhrmacherin sitzt an der Quelle . Die Armbanduhren , die sie selbst an verschiedenen Tagen der Woche um das Handgelenk fesselt , nimmt sie nicht aus dem Schaufenster , sondern aus ihrer eigenen kleinen Uhrensammlung . So wie andere Männer je nach Tag , Wetter , Lust und Laune mal diese mal jene Krawatte umbinden , wählt Frau Öztunali eine `instinktsichere ´ Uhr .

„ Ein Akt von Hygiene ,“ sagt sie . „Jeden Tag eine andere Uhr .“

Nur wenn der Tag gut wird , so richtig , trägt sie diese Uhr auch noch einen zweiten , vielleicht einen dritten Tag .

Gibt es doofe Ereignisse , sieht sie in der falschen Wahl , im verspäteten  Neuanfang mit einem anderen Chronometer den Grund für das Parkticket , den ungünstigen Steuerbescheid , den Kopfschmerz oder ein verweigertes Lächeln eines Mannes vor ihrem Schaufenster .

Ja, sie ist abergläubisch . Oder eine hellwache Haushälterin und

Treuhänderin ihrer Zeit : Welcher Sekundenzeiger dreht da gerade diesen Tag weg , der seine 24 Stunden als Chance und Geschenk , als Verpflichtung und Dekor aus dem Kalender nimmt ?

 

Sie sagt  bzw. würde sagen :

Wenn sich der Sekundenzeiger dreht , ist das wie ein Berieseln einer trockenen Ackerfläche . Hier wird die Welt in Gang gesetzt , in Betrieb genommen , in Fruchtbarkeit gewendet . Urbarmachung der Welt durch einen Sekundenzeiger , der nicht im Leeren dreht , sondern in Sinn .

 

 

22

Draußen derweil ein nicht von der Wettervorhersage vorhergesagter Schauer ; eine veritable Sturmböe geht durch das Land ; peitscht die Straße , Hagelkörner sprühen und spritzen über den Bürgersteig . Ich sehe das aus komfortabler Position , von der geheizten Bankvorhalle , wo es die gemütlich plätschernde Innenfontäne gibt .  Politessen in Kap-Horn-Südwester kämpfen sich am Parkstreifen entlang .  Ein Leichenwagen hält an der Ampel . Hier drinnen schwirren  weibliche Angestellte mit attraktivem Körperbau zwischen Schließfächern und Wirbeltür in den Schaltersaal .

 

Ich habe mich untergestellt für die Dauer einer Schauer . Wie lange dauert diese Zeiteinheit ,`Schauer´ ? ` Wir treffen uns in einer

Schauer ? ´

Ich hangele mich schließlich weiter unter ortskundiger Nutzung aller Arkaden und Vordächer ins Café Andalou . Wo ich auf meinen Halbbruder stoße .

 

„ Die Korrespondenz zwischen Gesichtsausdruck und Körperspannung  : Dieses Irgendwie ……..oder ?“

Die Kellnerin , der Giacos investigative Worte gelten , hat ein Mariengesicht , oder das eines Engels ; unzweifelhaft  würde sie von etlichen minder begünstigten Frauen als schön beneidet . Aber ihr Wirken ist ohne Gewürz , es gibt keinen – wie soll ich sagen , sagt

Giaco –  angesengten , branderfahrenen Rand , keine Prise Essig oder Nessel . Jetzt , wo sie gerade nicht lächelt , weil niemand guckt ,  sieht sie ( flachsblond ,  blass himmelblauäugig) matt aus wie eine Dulderin , aus Dostojewski´schem Personal .

 

Eine andere bindet ihre Haare über dem Nacken zusammen , was ihren Hals freilegt und den Busen nach vorne rafft . Draußen fällt  Regen mit Hagel . Wenn die Tür aufgeht , gibt es eine widerliche Zugluft, die jeden  etwa entblößten Hautfleck sofort chillt . Hektische rote Flecken entstehen auf Wangen .

 

Ich wäre gern ein Mobile , sagt Giaco, immer bewegt bei Anblick einer Frau . Oder Teil eines Mobiles . Ich sammle noch .

Die Haare im Nacken bündeln : Eine ähnliche Bewegung wie bei Aufknöpfen eines BH hinter den Schultern , eine Art  Aufgeben , Flagge

streichen .

 

Jetzt , gerade , da eben ,  haben die Mundwinkel der russischen Magd etwas Schmunzelndes ,  sie genießt einen `private joke ´. Giacomo

agiert als `King Leer ´ , zu deutsch :  König der lüsternen Gaffer . Die andere Jungfer steht auf , schaut für einen Augenblick besorgt drein : Ist die Toilette jetzt hinten links ? ( oder habe ich sie vorne rechts über-

sehen ? ) .

Eine Frau weiter drinnen : Sie harret . Wartet auf wen , fragt man sich

vielleicht . Wohl verabredet mit einer Freundin , die draußen gerade an der Tür erscheint  . Die Neuangekommene wiederum kennt sich in dieser Stadt, in diesem Café nicht aus ; weiß nicht , ob `drücken ´ oder `ziehen ´ bei dieser Tür erfolgversprechender ist . Kommt rein , wird durch eine Öffnung des Gesichts der Freundin , breites eigens für Begrüßungen reserviertes Lachen empfangen ; beide strahlen , noch durch zwei Meter getrennt , getrennt  auf .

 

Neben mich setzen sich dann andere junge Leute , ein Mann , zwei Frauen , zum Brunch nieder . Kritische Verbraucher ! Sie studieren eingehend  und ausdauernd die Speisekarte .

Als ich jung war , hatte ich vor dieser Art von Entscheidungsnotstand , Fehler bzw. womöglicher Fehlentscheidung noch nicht so viel Angst .

Ja , jede Generation hat so ihre Probleme zu lösen . Ich hätte ja –

nicht nur heute morgen – lieber kritisch-existentialistisch- französische Filmschaffende zu Nachbarn gehabt , aber :

Es hat nicht zu mehr gereicht in meinem Leben , résumiere ich .

Jetzt kommen zwei zusätzliche junge Damen herein . Ist ja ganz natürlich , dass sie sich sehr ! ausgiebig umsehen nach einem freien Platz : So viel Bühne kommt so schnell nicht wieder . Ihr Reinkommen hat  Raum- und Weltgreifendes an sich : Was habt Ihr uns nur für eine Welt übrig gelassen ! Aber jetzt kommen halt wir , alles wird anders , alles fängt strenggenommen jetzt erst an . Versager Ihr.

 

Neben mir hebt jetzt der Mann an : „ Als ich in Südafrika war…“ und im Sekundenbruchteil bereue ich alles bisher In-die-da-hinein-Gedachte  : Der Mann ist bestimmt bei den `Médecins sans Frontières ´, arbeitete in Flüchtlingscamps und überlebte Ebola nur knapp  ;

„ als ich in Pretoria war , gab es zum Frühstück immer ….“ – und ich bereue nichts von meiner Galle .

 

Mir gegenüber sitzt ein Pärchen ; die Frau hat uns den Rücken zugekehrt . Er ist unrasiert , aber ganz Sonne : Strahlt sie an ; erstes Treff . Wetten ? Aber sie sind ein Spielball für die schlechte Laune der sie bedienenden Kellnerin.

 

Fassen wir diese etwas lang geratene Fallstudie zusammen :

Das eigentlich würdige Untersuchungsobjekt ist eine Kellnerin , also Dienstleistungssektor , Servicewüste deutsche Lande . Schlecht geschlafen , genervt :  Sie zählt die Sekunden der Schicht , müht sich in ein Lächeln bei Anpreisung von Frühstücksangebot zwei .

Wenn unbeachtet , hat sie auf  ägyptisches Profil geschaltet . Hier bedient Sie gleich Frau Dulderini . Manche Serviererinnen sind ja auch anders .

 

23

Die Stadt im falschen Gang , sozusagen : Zu langsam vor mir , zu schnell hinter mir ( ich rede von den Mit-Fußgängern ), zu lange im gleichen Tempo neben mir , womöglich redend , viel Ellenbogen .

Leute , die auf einmal stehenbleiben ; Leute , die außer aus Ellenbogen nur noch aus Rücken bestehen . Lauter Leute , von denen ich nicht sicher bin , dass sie alle mit Namen im Einwohnermeldeamt oder überhaupt irgendwo registriert sind . Oder wissen , wo sie eigentlich hin wollen .

 

Ich bin früh zum Schiffsanleger unterwegs , wenn ich ein Wochenende an Bord verbringe . Diesmal will ich auch die Flaschenreste vom gestrigen Weinabend zum Container  bringen  . Die Schrottabteilung des Viertels , auf einer Müllbrache gelegen,  zwischengenutzt  durch anarchisch geparkte  Autos , liegt zu einer Hälfte auch im Dunkel ;

 

 

watch your Step !

 

man sieht nicht viel und wählt seine Fußstapfen mit Bedacht . Glas und Papier sollte hier in die Container geworfen werden , aber die Zielgenauigkeit im Viertel ist schlecht . Vielleicht grassiert eine Augenkrankheit , und manch Mitbürger nutzt diese Fläche gleich als Schiffsfriedhof , oder , in Ermangelung von Schiffswracks , für Möbelstücke und Gegenstände , die nicht mehr auf den Sperrmüll warten können. Ah , eine alte Stehlampe ,ah leere Schinkenpackung , ah Anstreicherfarbenreste , ah , eine Leiche .

 

Nichts könnte mich morgens wirklich überraschen ; die Albträume der Nacht haben mich nur vorbereitet für einen aktiven Tag in Mülheim , so sage ich mir auch nur : Ah , eine Leiche ; ein Mann , gekrümmt ,

Stiefel , Mantel , Kopf in den Kragen versenkt .

 

„Vielleicht ist er ja gar nicht tot ,“ meint Malevitch, „ Sie sind immer gleich so drastisch.“

Stimmt ja , obwohl ich instinktzutraulich weiterhin an eine Leiche denke , wenn ich mich an diesen Morgen erinnere ; und ich habe nicht Polizei oder Krankenwagen angerufen ; nein , habe ich nicht . Und ich lese sowieso kein Lokalblatt , und niemand von meinen Bekannten kommt auf einen Leichenfund zu sprechen , aber für mich ist der Weggeworfene , Weggebliebene ,Wegwollende , Weggegangene vom Container eine Leiche , und ich habe den Container in den nächsten Tagen gemieden  .

 

Richtig , jetzt fällt es mir wieder ein : Auf dem Container über ihm

war der Stempel des `Nudge ´.

 

„ A propos Alibi ,“ sagt Giaco . “ Wo ich mir meines wirklichen Da-Seins besonders sicher bin , egal wie viel unerklärte Leichen gefunden

werden : Ist im Fitness-Center . In diesem Land , das einen tendenziell immer unter Belegungspflicht legen will . Ich zähle , wie oft ich die Stemme noch hochkriegen muss ; ich fühle mich jetzt schon schlaff , habe aber den Ruderautomat noch vor mir ; fühle meinen nicht mehr ganz so duschfrischen Körper und schlauche mich durch den Saal : Aber DA bin ich , ausgelotet , setze überall mein Gewicht eben auf , bin DA .

Ich zähle 17,18,19 mal die Hantel stemmen- und ich bin ohne zweifel genau hier .

Dann im Kontrastprogramm der Blick auf den Bildschirmturm mit seiner Programmvielfalt : Einer mit dem Abo auf Schreckensnachrichten aus Mexiko , eine Unterhaltungsshow mit vielen grübelnden , dann lachend jubelnden Menschen ; eine Verkaufsberatung . Dazu  überflüssige Musik , die sich aber tiefsinnig tarnen möchte :`Without you ´. `I don´t know ´. `There is no limit .´

Und ein Diplom-Physiotherapeut , der heute aussieht , als habe er Kummer . Auch er einer von meinen diplomierten Mitmenschen . Hast Du , lieber Bruder ,  schon mal überlegt , wie viel Prüfungsabsolventen und Zertifizierte , jeder nach jeder Menge Examensangst und Prüfungsjubel , Dir an der Fußgängerampel ins Gesicht sieht ?“

Eine gut aussehende Postbotin radelt uns da gerade entgegen . Wenn sie so gut aussieht – eigentlich möchte ich den Satz nicht beenden , tue es dann aber doch : leidet sie dann unter dem unterprivilegierten Image ihrer Tätigkeit ? Fühlt sie die Diskrepanz ? Wie lotet sie das aus , ihre Erwartungen an das Leben und ihren jetzigen Strampeljob ?

 

 

 

24

Logischer Dreischritt , sagt Starbacks , wenn er nach Abschalten der

Maschinen-Systeme abends über dem dritten Bier an der Bar philosophisch wird .

Freude-Frevel-Verletzbarkeit : Die drei Fs , wie Starbacks sagt : Das Ausmalen einer Freude erscheint  dem Unverdienten als Frevel ; Wünsche zu haben ist schlimmste Verletzbarkeit .

Ich höre ihm zu und denke nach über Freude und Frevel und Verletzbarkeit . Denke an König Midas . Der hat morgens Zeit für alles , alles findet seinen Platz auf der Agenda ; die Zeit füllt sich mit Projekten und ihrer Ausführung ; die Zeithöhle hat sich trügerisch freundlich weit und lockend geöffnet . Natürlich hat Gott mir noch viele Tage auf Erden geschenkt , ich betreibe einen gesunden Lebenswandel , esse Bio , rauche nicht , jogge ab und an . Geschlechtsverkehr wenn möglich regelmäßig . Psychiatrieaufenthalte sparsam .

 

Nachmittags hingegen : Au weia . Für alles was ich tun könnte

( wohlbemerkt : in der Theorie ! ) ist zuviel Zeit da . Leere Zeit . Bleierne Zeit . Hämische Zeit , Verhörzeit ; Wüstenzeit ; ein endloser Sanddünenhorizont von Zeit :15 Uhr ,15 Uhr 30 ;16 Uhr …Zeit um Fehler zu machen ?

Noch nicht mal das ! Zeit um Fehler gemacht zu haben und sie nicht revidieren können ; schlimmer : Egal ob man jetzt Fehler oder Richtiges tun würde : Es würde nicht den Berg an Zeit mindern , er bleibt unbezwingbar steil vor Dir , Sisyphos  kommt nicht hoch , kriegt keinen hoch ; was tun ? Nichts hält . Nichts hält mich . Nichts hält mich aus . Nichts hält unter meinem Gewicht . Nichts hält Wort .

 

Wann fühlt man sich einsam , wenn man allein ist  – und wann nicht , vielleicht sogar eher jubilierend frei ? Wer ist dann bei einem , der das schlimme Alleinsein , die Leere verhindert ? Leere , die einen die Zeit empfinden lässt wie etwas zäh Klebriges , das einen nicht loslässt ? Mal ist der Kulissenschieber  ( = das , woran man das Vergehen der Zeit merkt ) im Streik , mal ist er nicht da und man rennt ihm hinterher .

 

Nicht selten ist die eigene Wohnung der Bleikeller , ein Verbannungsort  voller Skorpione , deren Biss einen zu Blech verwandelt .

Mal ist das Zimmer wie ein sonniger Palazzo ; was vor dem Fenster passiert ist eine freundlichstmögliche Entsprechung zu , oder

Interpretation  von , Dir : Man versteht Dich und liest das Beste aus Deinen Goldsänden .

 

Ich gehe abends noch durch die Fußgängerstraßen , die Einkaufsmeile . Sie zieht sich vom Kapuzinerberg herab zum Hauptbahnhof ; meine Schritte hallen , ein bisschen Wind schiebt Plakat-und Zeitungsreste vor sich her . Außer mir kaum ein Mensch . Die Beleuchtung scheint jetzt dezent , MIT Passanten wäre sie womöglich greller . Besonders auffällig ist das Licht aus den Wohnungen im zweiten oder dritten Stock ; dort wohnen nämlich Menschen einer besonderen Art : Sie kommen hierher nicht zum Einkauf , sondern zum Wohnen , so richtig , zum Leben mit allem was dazu gehört :

 

Tatortkrimis , Treffs mit Freunden , Ehekrach , angebrannte Koteletts ,

Sonntags ausschlafen . Ich kürze ab . Das Licht ist nach innen zurückgestaut , muss nur der jeweiligen Wohnung genügen , soll nicht die Straße beleuchten , zeigt aber doch nach außen an , das hier das Leben Spuren setzt . Von dort oben im zweiten Stock  – erst recht von dem Balkon im dritten ! auf dem man sogar in die Nachbarwohnung hinübersetzen könnte ! – sieht man tagsüber auf die Einkaufsströme herunter ; Angebots-und nachfragestimuliert , den Hügel hinauf , herab ;

selten hektisch , meist bummelnd , oft mit den Armen verschränkt , in großen Schlieren : Einkaufsbummler , Einkaufs-Entdecker und-

Eroberer ; besonders an Wochenenden und  `verkaufsoffenen Sonntagen ´ schwemmen die Bazarbesucher herauf, herab und durcheinander , dass die Bewohner der Straße ab Stockwerk zwei wahrscheinlich an die Bilder vom Tsunami denken , der schmutzige Wasser gemütlich landeinwärts steigend durch die Strassen drängt , auf denen Autos , herrenloses Gut , Marktstände und auch verzweifelte Menschen in eine Tinktur vermengt werden .

Dort ist der Tod dreckig und gemütlich und schrecklich zu sehen , von oben , vom zweiten und dritten Stock .

 

Wenn ich Anne das alles kommunizieren würde , müsste sie zu der Konsequenz kommen : „ Nie wieder werde ich Dich für einen Freundinnen-Besuch verlassen ! Was bist Du doch einsam ohne mich !“

Gott schuf sich eine Welt , weil er einsam war ? Oder war er eine andere Art Midas , der wo er auch war : Schlimmes verbreitete ?

 

25

„ Berührt  geführt!“ zitiert Starbacks eine alte Schachspieler-Regel .

„ Vielleicht ist ` the Nudge ´ jemand , der mal beim Schachspielen  durch eine Regelwidrigkeit empfindlich verloren hat .“ Vielleicht .

Besagter Finger Gottes könnte auch eine Geste sein , wie sie entsteht , wenn am Roulettetisch wer einen Stapel Jetons auf das alles zum Unheil entscheidende Zahlenfeld quinze-rouge-impair schiebt , sich selber an den Rand des Universums und aus dem Spiel heraus .

Die ganze Stadt – womit haben wir das nur verdient ?- genießt in jenen Monaten die unverbindliche Teilnahme an einem Rätselspiel .

Neu ist heute , dass der Stempelaufdruck einen Countdown verspricht :

`5 Tage !´ wie man es von Werbestrategen kennt .

„ Nein ,“ sagt Giaco . „ Es ist das Dokumentieren eines durch erotisches Berühren größer und härter werdenden Brustnippels .“

Vielleicht . Was soll er auch schon sagen .

 

26

Immer mehr Mercedesse !

Mercedes ist der Normalfall für eine Wohlstandsgesellschaft  und außerdem werden wir schließlich – haben Sie es gemerkt ? – alle

älter . Normalfall : Älterer Mann in Mercedes mit Hut und unsicherem und/ oder schläfrigem Gesichtsausdruck , Gattin abholend vom Friseur , dann zu den Enkeln .

Auf der Rechtsabbiegerspur im Semi-Stau ; gern blinken stoische Opas den ganzen  langen Halbkilometer vor der Ampel zutraulich in die Gegend , fahren dann überraschenderweise (!) nach rechts .

Man sieht von hinten , dass die beiden Ehegatten nicht miteinander sprechen . Vielleicht schonen sie ihre Kräfte  für das Spiel mit den Enkeln gleich . Albtraum : Mit den Kleinen ins Restaurant , ihnen da Benimm beizubringen ( Maximalprogramm ) , ihnen da nach einer halben Stunde wieder entkommen können ( Minimalprogramm ) .

 

Im Parkhaus kurbele ich den Wagen durch die Etagen , immer höher , nirgends ein freier Platz ; dann : Doch !

 

In Etage sieben ! ein kleiner , von den Nachbarn links und rechts zusammengequetschter Restparkplatz , in den der Nosferatu nur so eben in Millimeterarbeit hineinpasst . Ich schreibe wütend einen Zettel : „ Schon mal geparkt ? Ich meine : So RICHTIG ?“ und schiebe ihn dem rechten Nachbarn unter den Scheibenwischer . Dies , nachdem ich mich von meiner Wagentür quasi scheibchendünn habe schnipseln lassen , sonst wäre ich nicht rausgekommen .

Wie ein Schlangenmensch winde ich mich zwei Minuten lang aus dem Auto . Na das ist mal ein Tagesbeginn ! Zeigt einem , dass man sich nicht zu wichtig nehmen sollte . Ich beschließe , eine Übungssequenz

`Parktraining für Fortgeschrittene ´ ins Hammelrath- Curriculum aufzunehmen .

Bei so engem Ausstieg gibt es einen Moment  der größtmöglichen Verwundbarkeit : Wenn man sich millimeterweise quasi immobilisiert an der Spitze der Wagentür vorbei ins Freie kämpft und für einige Sekunden der metallene Türwinkel genauestens auf meinen Hals zeigt . Jetzt ein Ausrutschen mit dem linken Fuß , der draußen im Matsch Halt sucht aber nicht findet , oder ein kleiner Rempler von hinten : Ein Anstupsen mit dem Außenspiegel würde reichen : Und Du klebst durchbohrt auf Deiner eigenen Autotür . Dafür hat sich die Anschaffung eines teuren Gefährts dann nicht gelohnt .

 

27

Vor dem Fenster laute Schmetterlinge . Der anderen Art . Auf dem Schillerplatz gibt es einen Concours der Skateboardfahrer , laut schepprig und laut nervös .  Als ob da Menschen in Blechrüstung ohne finalen Schlag die Schwerter kreuzen .

Ein junger dunkelbärtiger Gemüselieferant  hat mit seinem Kleinlaster

in der zweiten Reihe gehalten und die Straße weitgehend zugepfropft ; ältere Dame im PKW hupt ,  Türke schreit : „ Eh wie behindert bisse denn ?“ und leitet die Fahrerin dann per Winkzeichen vorsichtig und umsichtig : „Ja- ja- weiter –stop –mehr rechts –ja- gut – alles okay ?“ an seinem Fahrzeug vorbei .

Na und , werden Sie sagen .

Bus Linie 17 trägt mich zum Rhein , und ich finde einen Sitzplatz entgegen der Fahrtrichtung . Vor mir sitzt auf mehr oder weniger breitem Hintern  die recht große Gruppe derer , die lieber in Fahrtrichtung sitzen , mit Blick auf mich , Arne Hammelrath . Für mich ist das fast ein Theatererlebnis , genauer gesagt : So muss ein Schauspieler den Zuschauerraum empfinden , wobei diesmal das Publikum ( die Mitfahrenden ) so tut , als ob sie an ganz Anderem , jeweils Verschiedenem und beständig Wechselndem interessiert sind .

Eine alte Frau schräg links gegenüber spricht nicht unbedingt laut , aber doch fatal um Deutlichkeit bemüht , typisch telefonistisch , ausdauernd in ihr Handy . Ihr Telefonpartner ist , aus ihrem kaum unterbrochenen Sprechausfluss zu schließen , wohl gar nicht so gesprächig ; Darmspiegelung , schon morgens um sieben , natürlich nüchtern antreten ! , hören die Busreisenden da mit  leiernder Stimme aufgezählt .

 

Eine Schöne , jung , vielleicht Schülerin , kauert auf einem Sitz der anderen Seite meines Sichtfächers und hat ein bekümmertes Gesicht ;  ihre ziemlich kleinen  Füße gesittet nebeneinander auf den Boden gesetzt . Die Schöne hat wohl Schnupfen , was für rote Augenlider und eine vornehme Blässe sorgt ( oder ist sie nur so geschminkt ? ).  Jetzt kriegt sie einen Anruf  und ihr Gesicht hellt auf .

 

28

Eine gute Uhr  verlangsamt die Zeit und schließt die Schranken : Auf dass das Wenige , was man sieht , ruhiger sitzt . Und : Sie dämpft Geräusche . Und : Sie lässt Röcke kürzer werden . Sagte Giaco gestern zur Uhrmacherin .

 

Frau Öztunali erinnert sich  und steht jetzt gerade unter der Dusche . Unter der Dusche ist Körper Kunst . Bei Nacktheit dreht sich der Körper in einer Welt der Durchsichtigkeit  ; die Bewegung um den Duschstrahl herum , Seife jonglierend , ist Choreographie . Ich bin nackt ? Anders herum , die Welt ist nackt in ihrem Mir-Zusehen .

Dann tritt sie nackt vor den Spiegel  . Sie legt die Kleider an ; nach Slip und BH zuerst die Uhr . Die Uhr ist nämlich ein Kleidungs-stück . Der Mensch hat nicht nur Recht auf Zeit , seine Zeit , Lebenszeit , sondern auch auf Timing . Passend mit der Zeit , in der Zeit zu zahlen  ; keine Zeit zu verschwenden ; nicht zu früh an der Bushaltestelle im Wind stehen , rechtzeitig zum Kochen des Teewassers in der Küche sein : Passen ist Sinn .

 

Frau Öztunali ist hinter Giacomo Neuhaus her . Frau Öztunali wartet lächelnd auf den passenden Moment , sie weiß , dass Lächeln wichtig ist für den Eigner der `Cythera´.

Giacomo sieht , dass sie beide auf der gleichen Seite stehen im Kampf um Genauigkeit  : Er eben indem er der Welt das Grobschlächtige um das Begehren und Realisieren nehmen möchte : Durch Andeuten , Verschleiern , ein erstes Angebot machen , das eventuell , nein sicherlich durch ein zweites Angebot etwas realistischer wird . Nachjustiert , präzisiert , aber immer noch präzise unscharf . Präziser Nebel , das ist Giacos Heimspiel .

 

Frau Öztunali ist nicht chancenlos , aber Lila wird das Rennen machen .

Auch wenn sie im Augenblick nicht weiß , dass sie diese gute Chance hat , und auch lieber gar nicht erst hätte . Als Witwe .

 

 

VI  Noah

 

1

Lottogewinn oder Flugzeugabsturz : Die größtmöglichen statistischen Unwahrscheinlichkeiten wären im Fall des Falles der deutlichste

Hinweis , dass man doch wer ist – und nicht nur eine Nummerngröße . Sagt Noah , der Philosoph .

 

Woher ich Noah kenne . Eines Tages kommt ein Jugendlicher zur Anmeldung in die Mülheimer Filiale , in der ich zufällig gerade zugegen  bin .

„ Ich soll hier meinen Führerschein machen ,“ sagt er der Sekretärin ,

Frau ( Nele ) Baumann . Ich finde die Formulierung belustigend lustlos und schalte mich in das Gespräch ein .

„ Klingt ja mehr nach Zwangsmaßnahme , erzieherischer ! jedenfalls überhaupt nicht motiviert . Topp , Sie kriegen den Job ,“ sage ich .

„ Und außerdem haben Sie ja recht mit Ihrer ablehnenden Haltung: Nichts was so zuverlässig Menschen zu Arschlöchern macht wie Autofahren.“

Bisher habe ich den Jungen nur von der Seite gesehen : Ein Freak halt mit dunklem Outfit , von den zerschlissenen Jeans bis zum schwarzen T-Shirts mit Schweißflecken und einer fadenscheinigen Kapuzenjacke .

Er ist dünn , großgewachsen , ein Spargeltarzan ; und er hat eine Hasenscharte . Seine Augen sind das munterste an ihm .

Er sieht jetzt mich an und sagt :

„ Meine Mutter will , dass ich hier den Lappen mache . Sie kennt Sie .“

 

Was für ein Satz . Ich schaue auf den Anmeldungsbogen und entziffere einen Allerweltsfamilienname  .

„ Emmy Gerber , heißt meine Mutter . Sie kennt Sie . Hat hier wohl auch den Führerschein gemacht . Hat Sie gelobt .“

Emmy. Nicht Emmy. Aimée .

„ Noah….. – Du bist der Sohn von Aimée ?“

Was soll man auf so was antworten – der Junge zuckt nur die Schultern .

Verflucht sei , der schlecht davon denkt : Ich wette , der Treff im Park

im November  war Aimée eine Anregung , mir gerade mir ihren Sohn ins Haus zu schicken .

„ Noah Gerber ,“ sage ich noch einmal nachdenklich .

„ Aber mit `ä´ ,“ sagt er .

Auf meinen fragenden Blick führt er aus :

„ ICH schreibe mich mit `ä´. Gärber mit `ä ´ , nicht mit `e ´.“

„ Ein Künstlername ?“

„ Nein . Oder vielleicht auch . Mit `ä ´klingt es mehr wie …“

„ Ärger ?“

„Exakt .“

 

Ich finde Menschen mit Hasenscharte – weshalb nur ?  –  schnell sympathisch , und glaube , dass das nichts mit Mitleid zu tun hat . Noah wird mir später erzählen ,  ihm mache diese Kerbe im Gesicht nichts . Er habe seine Mutter trotzdem mal gefragt ,  warum sie die Scharte nicht  in seinen Kinderjahren chirurgisch beseitigen ließ .

„ Originalton Mutta ( sagt Noah ) : Ich fand Dein Gesicht  süß , so wie es war ; für mich ist Deine Hasenscharte so was markantes wie ein Ausrufezeichen .“

Jetzt hab ichs : Ausrufezeichen ist nicht falsch ; aber für mich

( Hammelrath ) ist eine Hasenscharte  so etwas wie ein konstantes Blinzeln oder Zwinkern . Das ist es wohl .

 

Ich habe es dann in unserem Organisationsplan so gedreht , dass ich Noah selber ausbilde , dass er es also nicht mit Bley oder Friedrich oder einem anderen Könner aus der Mülheimer Zweigstelle zu tun hat .

 

2

Aimée , Noahs Mutta , wirkte äußerlich wie ein klarer Fall von Irin ; auch wenn sie vom linken Niederrhein herrührt . Sie hatte keltisch-dunkle

Haare , irgendwie in Schurkenfarbe. Dazu graue , oder sind es blaue ? Augen ;  zu milchweißigem Teint , öfters bei Kälte oder Scham rot anlaufend ; sie ist ( wohl immer noch ) gedrungen , athletisch , klein , und hat schöne Zähne .

Bei unserem ersten Kuscheln auf meinem Sofa (damals ! ) trug sie einen Angorapullover , und kleine Wollfussel blieben haften wo sie gesessen hatte . Damals war Flaum um ihre Lippen ; sie schnurrte, wie eine Katze

eben ; wem sage ich das .

Ach , alle diese 40-50 jährigen , die da jetzt in ihren Tagebüchern blättern und suchen  – wenn sie welche geschrieben haben – nein , nicht

Tagebücher :  Auftrags –und Ertragsbücher !  Ach ja !

Bei mir zuhause greife ich wieder , was ich vor dem Treff im Park schon  Jahrzehnte nicht mehr getan hatte , zu diesen alten Diaries . Vieles ist mir noch bewusst : O-Ton : „Ach ja , ja klar “ . Einzelheiten muss ich noch einmal sozusagen entziffern und nachbuchstabieren oder -belichten .

 

Aimée ist damals Mittelpunkt einer kleinen Gruppe von kregen , motivierten Schülerinnen, Girlies halt , und sie ist die intelligenteste , reifste , aufgeweckteste von jenen Aimées , Birtes und Birgits , begleitet von irgendwelchen Thomas und Svens und Borissen .

Auf einer Übungsfahrt , bei der wir ihre Freunde der Reihe nach abholen, (damals in meinem ersten Mercedes !)  bekommen unsere  Blicke  (meine und ihre ) sozusagen etwas Klebriges ; sie kommen nicht  so richtig voneinander weg , oder wenn , dann im Ruck . Und unsere Worte haben einen Hall ( `da war doch was ?´)  .

 

Ich las ihr also ihr Verliebtsein aus dem Blick und gestand ihr das

meine . Sie jubelte zu meiner verbalen Annäherung (`anything to declare?´)  auf meinem Besucher- und Bekennersofa wie nach einem sportlichen Erfolg ;  war aber verstimmt , als ich nachschob , erst mit ihrem Abitur könnten wir uns  privat wiedersehen- so richtig .

Eine Linie , die ich seinerzeit nur mit Mühe und Abstrichen durchhalte . Wir  trafen uns in den letzten Wochen vor ihrer Abiprüfung in  gerade vakanten Wohnungen von Freunden , und : Taten es dort auch miteinander .

 

Als sie ihre Prüfungen abgelegt hatte , war ich bereits beim Aufbau einer

weiteren Filiale in Deutz  . Sie  behauptet auf einmal  , mit dem Altersunterschied nicht klarzukommen ; ich sei so schwierig und so `anders als Dirk  ! ´  , ihr gleichaltriger ( Immer-noch-vorsichtshalber-

in der Hinterhand ) Freund . Ich gerate in die Rolle des Bettelnden, drohe mit Abbruch , den sie dann aber `eigentlich´ auch nicht  will , im Bett klappt es nicht (immer/mehr /weiter ) , ich kriege gelegentlich durchaus keinen hoch .

Sie schmollt und grollt ;  lässt sich dann doch bewegen , im Sommer

zusammen mit  mir nach London in die Ferien zu fahren .

Dort zanken wir uns in einer freundlichen , aber ungezwungen schäbigen Pension in Bayswater , wobei wir uns aber auch zwischendurch redlich schiedlich unfriedlich aneinander ineinander miteinander befriedigen .

 

So finde ich später in meinem Tagebuch , dass ich im Nachhinein minutiös notiert habe : 17.7. abends : J. holt mir einen runter ; etc

Damals führte ich tatsächlich ein Journal ; heute habe ich nur die Zellenwand hier in Belgrad in bröckelnder Farbe , um die Ereignisse auf Band zu sprechen , sozusagen .

Nach einer Woche beschließt sie dann , sie müsse nach Deutschland zurück . In beiderseitigem Groll sprechen wir zwei Wochen nicht miteinander , dann meldet sie sich wieder und wir treffen und lieben uns in meiner Wohnung . In zänkischer Stimmung sagt sie , sie habe die Photos ( `unsere Photos ? Ja, klar ! ´)  aus London zerrissen .

( Damals konnte man Photos noch zerreißen ).

Was ich beschließe ihr nicht verzeihen zu können , nachdem ich die Botschaft zunächst offenen Mundes nicht zu verstehen vermochte .

 

Wie die Geschichte dann doch noch weiter geht :

In meiner Stadt findet sie allmählich auch Zugang zu meinem – für sie viel zu alten ! – Freundeskreis , vielleicht – denke ich – schaukelt sich die Lage ja doch noch ein .

Dann aber macht eine andere Dame , danach noch eine , mir , dem gut aussehenden Fahrlehrer mit den geschmackvollen Autos ,  Avancen .

Ich bin  der einen müde und auf die andere gespannt und überhaupt sehr ratlos und das ist das Ende der Beziehung zu Aimée, die ich danach …..- bis letzten November im Park !…nienie wieder gesehen habe .

 

3

Diese zugegebenerweise schöne Frau nun dort drüben , munter , morgens beim Brunch noch ganz frisch in der Schminke , ruht in sich , auch wenn sie nicht gerade ihre Ellenbogen aufgestützt hätte .

Ruht in sich und : Zwingt der Zeit einen Achtungserfolg ab .

Sie ist schlank , überschlank  ; gelenkig in ihrer Jeans . Lässt den Schatten eines schwarzen Body schimmern . Trägt eine  Chefsekretärinnenbrille mit kaum zwanzig ; lässt die betrachtenden Männer (` Emil und die Detektive´) schließen auf die kleinsten Brüste die je man einen Body lüften sah .

Schicksal der schönen , erst recht allerschönster Frauen : Sie sind

 

auf immer !

 

auf EINEN Körper festgelegt , schön- wunderschön , ABER ….dieses

` aber ´ ist , was ein Flaneur mehr hat , mehr weiß ; weshalb man vage helfen will ; weshalb der Flaneur Ehemänner ( außer Herrn von

Söhringer !) belächelt ,

„ Ihr habt Eure Frauen nur von mir geliehen ,“ sagte Don Juan einst

und sagt es wohl auch fürderhin .

 

Und nichts fürchtet der Flaneur mehr als den Verlust der Sehkraft ; für ihn sind nicht Modemacher , noch nicht einmal Diven , sondern : Augenärzte die Hohen Priester  .

 

Giacomo sagt noch : Ich mag Frauen nur , wenn sie wenigstens teilweise

bekleidet sind ; gerne auch ver-kleidet ; bekleidet zum Beispiel auch mit einem Thema . Frauen , die uns einladen , darüber mehr heraus-zufinden. Geschenkpapierknistern !

 

Etwa jetzt im Café Andalou (C&A ) . Am Nebentisch lagert eine Gruppe von 6 Gästen . Ein Familientreffen .Giacomo schräg gegenüber sitzt eine junge Frau , ihrem Typ nach Anfangssemester , die aber sozusagen im Vorgriff angemessen gewandet ist für eine feierliche Situation für vielleicht erst zehn Jahre später   : Lamettajacke , und dunkles Textil drunter . Sieht edel aus . Nicht  ein gängiger Schönheitstyp , eher mit einer eigenen Vision der Welt . Und sie ist  mit der vielleicht familiären Situation nicht wirklich `amused ´ ( neben ihr der Gatte , obwohl SIE vielleicht protestieren würde   : `Verlobter ´ ) ;  gegenüber eine jüngere Schwester , daneben und auf der anderen Seite  verteilt Eltern und Schwiegereltern  – : Nicht wirklich amused , wie sie so dreinschaut , wie ich sagte .

Die Beobachtete ist ungnädig in ihren kurzen Bemerkungen zu ihrem Freund/Mann/Verlobten ( ein Bartträger !) . Jetzt bohrt sie ganz unverstellt an und in der Nase . Sie ist doch noch recht jung ` für so

was ´ ( Familienanbahnendes , -versöhnendes , -strukturierendes ) , wie Giacomo eilfertig die ganze Zeit schon findet . Ein bisschen altklug vielleicht , als ob sie die durchaus ausgelastete Managerin des Abends wäre , aber eben halt markant . Sie hat eigentlich doch keine Zeit hier zu verlieren .

Nett , findet Giacomo Neuhaus , dass die Schwiegereltern jetzt ein wenig auseinanderrücken , so dass er SIE durch die Lücke jetzt noch genauer ansehen kann . Er sieht ihre dunklen Augen , perfekt für das Kerzenlicht geschminkt , als ob ein Kaminfeuer flackert .

Giacomo hat vielleicht ein bisschen zu genau herübergesehen . In den Augen der Schönen zeigt sich ein Hauch von indigniert ungläubigem  Nicht-glauben-wollen :` Was starrt der denn da so rüber ?´ …..

Mein Bruder antwortet seinerseits meist mit Augenaufschlag , unschuldigem : `Ich ? Gaffen ? Sie haben sich in mein Blickfeld geschoben !´ und Giaco entscheidet sich schon vorher für den Leuchtturm-Blick : Überall gleichmäßig im Lokal herumsuchend , alle möglichen Objekte mal interessiert anschauen , warum dann nicht alle 10 Sekunden auch  einmal jene Schöne . Sie weiß wahrscheinlich trotzdem , dass alle anderen Kreisausschnitte nicht gelten .

Die Alternative wäre der `Finde-Mich-Blick ´gewesen : Haarscharf an

den Augen der besagten Dame vorbei schauen , etwa auf den Salzstreuer auf ihrem Tisch , und dabei tief absorbiert schauen ( `wie sagte Wittgenstein noch ?´ . So dass sie nicht umhin kann , die vier Zentimeter  Distanz zwischen ihrer Nasenspitze und dem Salzstreuer als korrekturbedürftig  zu empfinden …und ihm , findend-nachhelfend, zuzulächeln , freundlich in seine Verblüffung hinein .

Warten wir halt . Und das Leben in mehreren Welten ist ohnehin das Beste , was man so  vom Leben hat .

 

4

Porzellan. Porzellan schwitzt nicht . Ist immer guter Laune . Selbst Scherben bringen Glück . Von dem vor Cherbourg  gesunkenen Kreuzer `Alabama´ brachten Taucher eine  `Cuvée Hygiénique ´ ( = Kloschüssel ) in blauem Delft herauf , um es im Pariser Musée de la Marine auszustellen .

Aber Giacomo mag Porzellan , weil er es in idealem Sinne erotisch

findet . Seine Frauen sind Traumfrauen ; sie schwitzen nicht und nehmen nichts übel . Selbst Scherben sind noch Fragmente von Schönem und als Fragment eher noch interessanter als die ganz gebliebenen Rundungen von Tellern , Tassen, Vasen . Fragmente sind auch die Zufallsblicke in oder auf ein Décolleté . Oder ein von ihm verursachtes Lächeln  , das er bei einer anderen vielleicht nicht hätte bewirken wollen oder können ; ihre aufeinander abgelegten Schenkel , deren sanfte Glattheit er sieht .

Giacomo mag kein Schwitzen ; keinerlei Schwitzen ; wie im Himmel , also auch beim Flanieren . Also bloß bitte keine verbalen Wieder-holungen , keine Verlegenheitsgespräche . Er mag Schweigen , aber nur an den richtigen Stellen ; da wo es Gleichgewicht zwischen kommunizierenden Röhren ausdrückt . Bitte kein schmollendes Schweigen , das schwitzt .

 

Ja ,Giacomo mag es auch , wenn Frauen eine Treppe herabgehen . Wenn sie Schuhe zubinden . Auf einem Bein balancieren , sich in 1 Knie einwinkeln , den Stein aus dem anderen Schuh  ausschütteln , unweigerlich Rock oder Kleid  undeutlich deutlich anlüften  . Wenn sie hinter ihrem Bettlaken eine Hand hervorstrecken , die dann langsam ……aber sicher ein erigiertes Glied findet . Wenn der Duschvorhang einen Spalt aufsteht , so dass seine Finger ihre Hinterbacken abgleiten können und er zu ihrer Scham gelangt  . Giacomo sagt : Das ist meine Zuständigkeit , horribile dictu :

Ein bisschen Hochglanz , für die , die ihn erkennen . Ich arbeite die Feinheiten heraus zwischen Dir und mir , in gegebener Situation . Wir treffen uns hier ? Daraus kann man was machen .

 

5

Welche Männer WOLLEN die Frauen eigentlich ? Nicht , dass es darauf ankäme .

 

Ich bin die Rita , sagt Rita , zu Giacomos Anrufbeantworter . Nein , ich habe es heute noch nicht eilig gehabt . Fällt mir gerade ein , als ich vom Fenster aus die Leute sehe , die das Fußgängerampelrot ignorieren ….. Kurz ein zuckender Blick rechts links und im Optimalfall keine Geschwindigkeitsverlangsamung und rüber über die Ebertstraße .

 

Weil unter diesen Ignorierern aber so viele Penner sind , hat es das Ordnungsamt schließlich aufgegeben , hier Mitarbeiter auf Lauer zu schicken , um Strafgebühren zu kassieren . `Penner ´ klingt nicht nach Eile ; aber die Angehörigen dieser Klasse sind überraschend oft  besonders zackig flitzend unterwegs . Sind sie auf Entzug und hasten einem Dealer hinterher ? Oder : In ihren jeweiligen Klüngeln gibt es Intrigen , denen Opfer und Neugierige hektisch hinterher spüren

müssen , Bierflasche zuverlässig in der Hand , meist mit Zigarette , meist abgemagert und sehnig , im Regelfall rothäutig und tätowiert .

 

Natürlich gibt es auch andere Leute , die durch die Gegend spurten . Hier am Bahnhof haben die meisten Leute Angst , ihren Zug zu ver-passen ; oder sonstiges . Oder das Leben . Jede Menge Leute , die es eilig haben . Nur ich , Rita , hatte es heute noch nicht eilig , und ich glaube gestern auch nicht . Meine Kanzlei  für Sozialrecht muss sich erst noch einen Kundenkreis erarbeiten . Man muss den längeren Atem haben , sagen mir alle , besonders verständnisvoll die anderen Absolventen des Referendarjahrgangs , die schon in irgendeiner Kanzlei untergekommen sind und im Vergleich zu mir nett betucht aussehen .

Meine Kanzlei ist noch kunden-, aber nicht mehr ganz staubfrei . Ja , ich putze Montags selber . Danke der Nachfrage . Ich fahre mit der Hand über die dann doch blanke Fensterbank und stehe vor dem Spiegel ……. Jung , attraktiv , wenn auch eine Spur von pummelig . Mit Pferdehaaren . Viel Weideerfahrung .

 

Da meldet sich Giacomo .

„ Hallo . Gut nach Hause gekommen ? Schon gefrühstückt ?“

„ Klar . Sitze seit halb acht am Schreibtisch .“

„ Haben Sie sich mein Angebot womöglich überlegen können ?“

„ Tja , nein , ich weiß nicht …“

„ Ich will Sie nicht drängen . Aber etwas Mut machen schon .“

„ Eigentlich bin ich ja noch etwas zu jung  , um schon zu resignieren …“

„ Resignieren ? Pardon !  Wie konnte ich so missverstanden werden !

Sie sind jung , deshalb gerade geeignet. Und chic und  einnehmend und kultiviert .“

„ Aber “( Räuspern !) : „ Welche ……Beischlaf-Frequenz erwarten Sie

denn ?“

 

Sie haben sich dann noch einmal zu einem Kaffee verabredet und  Giacomo Neuhaus erklärt auf ein Neues , was sie eigentlich schon verstanden haben will .

„ Tun Sie bei uns an Bord das , was Sie auch sonst gerne tun . Flirten Sie , erobern Sie Männerherzen . Was Ihnen Spaß macht – für Geld .

Wenn Ihnen ein toller Typ über den Weg läuft : Gut ! Wäre Ihnen anderswo vielleicht nicht so handlich passiert . Wenn der Typ nicht so toll ist : Sie unterhalten ihn mit Rheinsicht über einer Flasche Wein und einem Fünf-Sterne-Essen ; klären ihn auf über alles mögliche , die Welt , die Gegend , warum andere Leute NOCH ein bisschen kultivierter und interessanter sind als er…oder es vor ihm waren …und belassen es dabei .“

 

Ich überlege , wie oft ich ein Fünf-Sterne-Essen in den letzten Monaten hatte , sagt Rita mir gleich .

„ Ich möchte nur Ihren Leichtsinn ein wenig ermutigen . Und Ihr Selbstbewusstsein  . Warum sollen interessante Männer nur uninteressante Frauen kennen lernen ?“

„ Und welche Mittel verschreiben Sie gegen  Kater ?“

„ Nietzsche . Oder  : `Je ne regrette rien ´ hören .“

 

8

Noah hat die schwarzen Haare von seiner Mutter geerbt , auch das Wangenrot ; hier und da zeigt sich ein erster Bartflaum , seine Haare sind lang genug dass er sie beiseite wedeln muss . Er ist ein freundlicher Junge .

Noah . Periodisch der  Außenseiter ; konnte zum Beispiel nie richtig Rollschuh fahren , auf der abschüssigen Siedlungsstraße Richtung Wendehammer , schon fast im Professorenviertel . Noahs Vater ist kein

Professor , aber sein akademischer Grad findet sich besonders dick aufgeprägt neben dem Klingelknopf : M.A.

Noah ließ sich sagen , dies heiße `Master of Arts ´ und sei nicht sooo aufregend , und der Sohn spottet dann auch sehr schnell : M .A. = mangels Alternative . Familie eben .

Überhaupt spottet Noah instinktsicher . Wenn er etwas sagt , dann aus dem Stand recht edgy . Er entwarf die ( ausführlichere )   Rede , die  er vor Norah halten würde , eines Tages :

 

„ Und – was hast Du jetzt davon ? Warum nicht mit mir verschwinden aus dieser Welt ? Die Generationen da vorne im Villenviertel reichen sich unerwünscht ihre  Bungalows weiter , kaufen auch schon mal das Nachbargrundstück , um den heimischen Palast um eine Wellnesszone zu erweitern ; draußen die coole französische Limousine und der SUV ; Friedens-Dividende en gros et en detail ; Landversiegelung . Der Baulöwe legt unten im Tal den Schöner-Wohnen-Apartment –Komplex an , und hier oben baut er seine Villa mit Aussicht auf GoetheMozartHölderlinWeg und ex-Brache und Weide und Schilfbruch und Bach ; Mitnehmerqualitäten für Mitmacher , und ich kann noch nicht mal rollschuhfahren .“

Pause .

 

„ Wenn ich an Deinem Haus vorbeilungere und gucke , ob Du rein zufällig auf die Straße kommst , gehen der Reihe nach die Bewegungsmelder an , Lichtschranken , mit denen die Häuser ab 16 Uhr gesichert sind . Man wird von einer Bühne auf die andere weiter

gereicht , überall kleine Inszenierungen .“

Pause .

 

„ Komm , lass uns nach Amsterdam , den Fluss runter , da gibts noch ausgeflippte Leute . Nicht angekommen . Oder nach London . Oder nach Sydney ? Mit Weihnachtsmännern im Sommer . Alles garantiert echt Plastik . Irgendwie ehrlicheres Plastik als hier .“

 

Aber er macht  auf seinem Skateboard Fortschritte. Er übt vorsichtshalber in einem ganz anderen Viertel ; hier , vor dem Haus der Eltern , in lähmender Nähe zu Norahs Haus , würde er sich nicht die Blöße des Imperfekten geben .

 

9

Im Notarviertel ist die Luft gut . Ich hole mir im Kiosk gegenüber vom Park einen Kaffee  und sehe , wie zwischen den Bäumen  die Sonne aufgeht .  Amseln sind zutraulich , das Städtische Gartenamt zuständig und unterwegs mit Spezialfahrzeugen . Da wieseln sie gerade um die Skulpturen herum , Fleißarbeiten der örtlichen Künstlerszene . Aus der Volière im Park ruft es vereinzelten Joggern anfeuernd hinterher. In den Pfützen steht reichlich Wasser , Frühkirschen blühen schon seit Dezember . Moos strotzt , und lockerer Wolkenflaum streichelt den gewollt  uneinheitlichen Baumbestand .

Norah , die ich da drüben aus der Tür treten sehe , arbeitet , wie ich

weiß , bei Notarin X und ist die Tochter von Notar Y . Besagtem Herrn Söhringer . Von Söhringer . Somit hat alles seine Ordnung .

 

Warum ich glaube , dass unser Planet noch gerettet werden kann ?

Noah steigt ( „ heute schulfrei !“) in den Wagen und sieht  unternehmungslustig aus .

„ Hast Du nicht was vergessen ?“ frage ich . Er sieht nach seinem Gurt , nach der Einstellung der Spiegel und schaut mich ratlos an .

„ Wir haben Frosttemperaturen , immer noch , und Du  rennst durch die Stadt in T-Shirt und Jeans mit Löchern .“

Es ist wie ich sage ; das T-Shirt ist schulterfrei kurzärmelig ; seine bloßen Arme sind frostgerötet und Hals und Schultern lechzen nach Zugluft . Wie bescheuert bist Du , frage ich ihn  ; nein , es ist gar nicht kalt . Entweder gebe ich Dir mein Jackett , oder wir fahren zum Kaufhaus

und Du kaufst einen Pullover . Ich vermute , zu Dir zu fahren hat keinen Zweck , Du bist bestimmt gerade zuhause rausgeflogen ?

 

Neinnein , beteuerte Noah ; alles In Ordnung ; Textilkauf  geht aber gar nicht , er werde sich melden , wenn es wirklich wg. Kälte nötig werden sollte .

 

Warum ich also glaube , dass noch Rettungsaussicht für unseren Planeten besteht ?  Diese Jungen WOLLEN leiden , Schmerzen empfinden , sie wollen erkanntgetroffenerreicht werden , bieten sich als Zielscheibe  :

 

ICH ! ICH ! ICH ! Nimm MICH

 

( als Märtyrer ) , ich will mich fühlen , will dass Du mich triffst , Welt ! Habe ein Auge für MICH , ich bin start –und leidensbereit : Gib mir eine Aufgabe , einen Sinn , MIR ! Die Einschusslöcher in meinem T-Shirt habe ich schon einmal freigelegt .

 

Es bleibt nur die Frage : Woher sie nehmen , die sinnvollen Ziele und Auftraggeber ? Wo gibt es all die Omas , die über die Straße geleitet werden müssen ? Was machen wir in der Zwischenzeit ? Den Führerschein . Okay .

Ich frage ihn , ob er sich für Politik interessiert . Oder irgendwo engagieren würde . Flüchtlinge zum Beispiel ? Von denen gibt es doch im Augenblick und auch in unserer Stadt unheimlich viele . Neulich sah ich zwei tieftiefschwarze Neger ; sie redeten allerdings in bester deutscher Jugendsprache mit einander . Noah schüttelt den Kopf .

„ Warum  soll ich mich für Flüchtlinge einsetzen ? Damit noch mehr Syrer sich BMWs kaufen und durch die Stadt ballern ?“

 

10

Endlich gibt es das schon für letzte Nacht  angesagte Gewitter : Das wird ein Tag , der mit Grollen und Paukenschlag und Bühnendonner anfängt ! Eins meiner Lieblingsgeräusche ist das anhaltende gleichmäßige Regenrauschen , als liefe eine große Badewanne voll . Ich denke an Autos .

Die ganze Arbeitnehmerstadt denkt jetzt an diese wehrlos ausgesetzten Geiseln  . Hinter den Fenstern sind wir sicher , aber die Blechkarossen draußen , wie sie das Wasser abperlen lassen, sauber werden , sich frisch machen , allerdings auch mit Ästen bombardiert werden ; die Motoren werden nass ,  Bremsen greifen vielleicht nicht , wenn das Wasser um  die Reifen gespült ist und die Rinnsteine überschwemmt . Straßen am Fluss brechen ein , Autos rutschen in die Strudel , werden zu Tal geschwemmt , purzelnd und wirbelnd . Die Welt hält sich an Autos schadlos  , denkt der wehmütige Fahrlehrer und Autofan , dessen Garage mit Rasenmäher und Tischtennisplatte zweckentfremdet , also nicht zum Schutz der Karosse brauchbar ist . Die Welt nimmt sich ihre Geiseln unter den Zeltbewohnern und anderen Wandervölkern  , ist mir der zweite Gedanke .

Blitze . Zunächst nur geknautschter Donner , dann Handkantenschläge

Vögel verständigen sich kurz , tauschen die Ortungen aus : Überlebt ? Ja ? Wo ? Gut .

 

Ich esse dann mittags im Café . Drüben sitzt keine Aimée , aber irgendwie wird sie schon heißen . Sie sitzt im Bernsteinlicht , unter wohlwollendem Scheinwerfer im Café . Ihre Schultern zeigen genug Haut , um die Helle nachdenklich und bekömmlich zu reflektieren . Sie ist  keine zwanzig , lacht sorglos und ist offenbar überhaupt strukturell glücklich veranlagt ;  rollt ihre schönen braunen Augen zu einem

Scherz  , wirft die Haare und entblößt freigiebig  Colgate- Zahnreihen . Geschminkt muntere Brauen helfen der Artikulation schwierigerer Zusammenhänge , wir teilen den Raum also mit einem heiteren Wesen.

Unter leichtem weißen T-Shirt wirkt ein besorgter straffer BH . Das Weiß dominiert , mann würde es gern beflecken besudeln benetzen .

 

 

VII : Pfarrer Knorr

 

1

„ Was für eine Erscheinung ,“ denke ich , als ich sie sehe .

Sie hat ihren Gatten , Tobias Knorr , begleitet . Der ist , wie wir zur Kenntnis genommen haben , evangelischer Pfarrer in Emmerich , wo die `Cythera´  jedes Vierteljahr vorbeidampft , und er hat diese Idee von der Schiffstaufe gehabt .

Knorr ist untersetzt , hat Hamsterbacken , die man durch seinen 23-Tagebart hindurch sieht , und eine recht starke Brille , die ihm einen leicht verwirrten Gesichtsausdruck gibt – was aber vollständig täuscht .

„ Meine Frau  ,“ sagt Knorr und weist auf die Dame hinter sich auf der Gangway .

 

„ Ich bin die Lila ,“ sagt sie in aller Unschuld  und ist erstaunt , als der Schiffseigner mit den Augen rollt . Lila ist –ich zitiere-  ein Rubenstyp , üppig und agil , hat dunkle Mulatto- Haare und Lippen , mit denen sie – man sieht es sofort – sehr gut schmollen könnte . Es jetzt aber nicht tut . Sie zeigt ein munteres Gesicht und ist von Nachdenklichkeit leicht zurück zur  Fröhlichkeit zu bewegen .  Ist sie damit je zu kurz gekommen im Leben ? Frau Pfarrers Augen sind flink und haselnussbraun ; und  sie schließt sie beim Lachen . Der Typ , der als Kind mit lauter Jungs aufgewachsen ist ; verheiratet jetzt – gibt es einen Gott ?- mit einem beamteten Seelsorger .

 

Na ja, wenigstens nicht mit einem Netzwerkadministrator . Und zehn Jahre schon ist sie verheiratet  ? Als sie an mir vorbei kommt , rieche ich und finde das Wort : Rauchig ! Essig von edelstem Wein ; Wasser im Mund zusammenziehend, Würze , gereift ; in eichenen Fässern . Säuerlich , aber wie konzentrierend , eine Feder zusammen pressend .  Haselnuss , oder wie  wenn man im Herbstwald über zertretene Bucheckern und Eicheln geht und dazu ein nasser kalter Wind durch die Bäume streift .

 

Im eher unpoetischen Emmerich , später .

Pfarrer Knorr  hört im Autoradio seine gestern aufgenommene Morgenandacht .

 

„ Hi Folks ! Guten Morgen , liebe Hörer und Hörerinnen ! Was heißt das eigentlich : `Guten Morgen ´? Heißt es nicht so etwas wie :

Vor zehn ist die Welt  noch vertrauensselig und vertrauenswürdig ?

Ich,

lauter frische Ichs unterwegs ; ICH bin die Antwort ! Auf die Nacht , auf das Gestern , auf die Menschheitsgeschichte überhaupt , konterstark die Antwort auf Leben und Tod ; die Antwort auch auf Euer erotisches Verlangen , sagt vielleicht das hübsche Mädchen , das mir da gerade entgegenkommt .

Und mein Suchen ist bei Euch in guten Händen .

Die besten Bundesgenossen  haben uns da gerade auf den Weg gebracht : Die Mutter begleitet die Kinder auf dem Weg zum Schulbus .

Ein Spiegel hat die Frauen mit optimistischem Zwinkern  auf den Weg geschickt .

Und so sage denn jeder : Ich bin die Antwort , auf die Ihr gewartet habt ;

mich hat die Welt belastbar ernst gemeint .“ usw .

 

Also haben sie es doch ausgestrahlt , trotz der politisch unkorrekten Zeilen , denkt sich Knorr . Er nimmt da gerade Platz vor dem Spiegel , im Friseursalon des Türken seines Vertrauens .

 

Surat fragt : „ Na ? Wie geht’s ?“

Knorr antwortet : „ Na ja , geht so ;  zu viele Heiden auf der Welt .“

Surat tut  , als habe er das verstanden , als verstehe er überhaupt Knorrs berufliche und sonstige Sorgen , und  er legt seinem Lieblingskunden

( wäre  irgendwer hier NICHT sein Lieblingskunde ? )  den Frisierumhang um . Dann sucht er noch nach den Schnippschnapp-Utensilien .

Knorr hat die Zeit , sich im Spiegel zu sehen . Die volle Kinoleinwand .

In einem hell ausgespiegelten Frisiersalon vor dem Hauptbahnhof ; und durch die Fenster ist das ganze Leben in Emmerich-Mitte zu

beobachten .

Knorr sitzt gerne hier . So muss Gott auch im Mittelpunkt seiner Schöpfung sitzen , wie ein Kind , das alle Bauklötze um sich herum auf dem Teppich ausgeschüttet hat . Auch der Pfarrer ist Teil der

Schöpfung ;  wie er sich da aber im Spiegel sieht , ist er nicht gerade zufrieden mit dieser Version .

Aus dem Spiegel sehen ihn eben auch  ( aber das ist ihm erst in den letzten zwei Jahren so aufgefallen ) die Gesichtszüge seiner Mutter an , wie sie zuletzt ( oder länger schon ? ) enttäuscht , empört , getäuscht und verschnupft vorwurfsvoll in die Welt geschaut hat .

Knorr sieht auf die Straße und wedelt ungeduldig mit seinem Umhang .

Surat hat sich Zeit gelassen ,  steht aber jetzt  vor seinem Kunden und bedrängt Knorrs Spiegelbild ein bisschen ; und dem Pfarrer fällt nicht zum ersten Mal auf , dass bei  Schere und Föhn hebenden Armen Surats Achselschweißfleckenschwarz besonders deutlich sichtbar ist .

 

Hat er überhaupt etwas Positives über seine Mutter zu sagen ? Ja doch .

Natürlich . Ich bin einfach ungeduldig mit mir , mit der Welt , sagt sich Knorr.

Dieser Spiegel….Das wichtigste Kino in meinem Leben , denkt Knorr.

Oder eine Art Kältesarg . Eingefroren für die Zukunft . Einfach der sicherste Platz der Welt , solange ich gucke .

Aber es gibt vielleicht zu viele Spiegel hier . Knorr wird immer sofort müde , wenn er im Frisierstuhl sitzt . Erst recht wenn er dann Surats korrigierende Hand an seiner Schläfe spürt . Er möchte sich in diese Hand hineinkuscheln wie in das Kopfkissen abends oder in Lilas

Hüfte . Schlaf ist da im Raum wie ein Leibwächter .

 

2

Lila kommt zeitgleich die Rheinstraße herab von der Konsistorial-ratssitzung .Sie möchte das Anlegen der `Cythera´  nicht verpassen . Gestern war das Wetter schon ein bisschen frühlingshaft ; erste Wärme , so etwas wie laue Watte wellte im Wind . Heute hingegen ist die Luft wieder winterlich kristallin , und es riecht  abgestanden in der Stadt , als wäre ein Fass mit Geschmacksverstärker ausgelaufen .

Lila kommt von dem Treffen , bei dem die Berufenen ihren Kommentar zu Pfarrer Knorrs Theateraufführungen gegeben haben .

`Lob der Verrücktheit ´ heißt die Serie . Knorr gibt Jugendlichen und sonst Interessierten Gelegenheit , Themen aus der Gesellschaft aufzugreifen und – mit Stellungnahme durchrührt – aufzuführen . Knorrs Projekt stand auf der Kippe , weil die erste Aufführung als `gewagt ´ eingestuft wurde .

Es geht um die Loveparade-Katastrophe . Lila selbst spielt  eine Mutter , deren Sohn  sich gerade aufmacht zur Tanzexpedition nach Duisburg . Auf dem T-shirt des Jungen steht zu lesen :` No Risk No Fun ´, und die Mutter redet ihm ins Gewissen JAAAA !!! vorsichtig zu sein .

( Wir setzen bei der Leserschaft voraus , dass man sich noch des

Unglücksverlaufs bei der Love Parade  erinnert  , als zwanzig Jugendliche in einer Panik zu Tode getreten werden . )

Der Sohn kommt verletzt , aber insgesamt fast unbeschädigt zurück , vielleicht ein wenig benommen ( heutzutage muss an dieser Stelle stehen `traumatisiert ´ ) und zerknirscht .

Die Mutter hält sich nicht lange  mit Vorwürfen an den Jugendlichen auf , sondern ruft sofort Rechtsanwalt , Reporter , Politiker zusammen und lässt diese  Kommentatoren die Schuldfrage diskutieren :

 

`Wie konnte so was passieren ?

Wichtiger noch :

Welcher Kopf muss jetzt rollen ?´

 

Der Junge kommt rein und sagt : `Mama , kannst Du das T-shirt noch mal waschen ? Aber so , dass die Schrift nicht verwischt ?´

Das Publikum liest noch einmal ( und ruft laut im Chor :)

 

`No Risk No Fun !´ .

 

Wie geht dieser Pfarrer ! eigentlich! um ! mit den Gefühlen der Geschädigten , womöglich der Trauernden ? Dies füllte die eine oder andere Seite im `Emmeraner Tageblatt´.

 

3

Und jetzt eine Tangoveranstaltung in der Kirche ?!

Pfarrer Knorr geht neue Wege . Wie er es so neuzeitlich formuliert :

 

 

Give and Take .

 

Er lagert liturgische Handlungen aus der Kirche aus , etwa indem er Taufen auf einem Schiff veranstaltet . Und er nimmt weltliche Genüsse in die Kirche hinein . Zum Beispiel einen Tanz in den Mai , und dieses Jahr wird daraus ein Latinofest . Gerunzelten Stirnbrauen seitens des Konsistoriums begegnet er mit dem Satz :

„ Strenggenommen , werte Damen und Herren , Brüder und Schwestern

im Geiste , ist ja auch das Erntedankfest eine weltliche Angelegenheit , nicht wahr ? Dass die Leute durch Gottes Gnade das Jahr hindurch zu futtern haben : Eine rein weltliche Angelegenheit , scheint mir .“

 

Giacomo erzählt später von der Generalprobe : „ Lieber Bruder ,  lass Dir das nicht entgehen . Ich hätte das nicht so erwartet . Also : Die Kirchenbänke sind beiseite geräumt , um eine Riesentanzfläche frei zu machen ; die Akustik – einfach toll , eindringlich ; und auf den Fliesen tanzt es sich quirlig gut , glaub mir . Es spiegelt . Die Beine der Tänzerinnen : Das flimmert , dass es einen benommen macht ; wie Schwerterklirren und -blitzen in einem Duell . Komm , Junge , geh diesmal mit ; Tango ist was für Tiger ; Deine Nostalgie , das ist doch nur was für…. einen Kater .“

 

Hier bin ich also .

Es ist anfangs noch ein wenig kalt in der Kirche , aber die Sonne strahlt

durch die hohen Fenster ein und  bringt die Glasmosaiken zum Glühen und Strahlen ; die Bandoneon-Akkorde und Glissandos , alles

Musikalische irgendwie ein bisschen säuerlich wie eine Gewürzgurke , alles das erwärmt den Raum zwischen den Ziegelsteinmauern und auf der Tanzfläche vor dem Altar .

Zunächst einige , eher kurze Sätze von Pfarrer Knorr ( `Wie spricht Christus über das Himmelreich ? Die Schöpfung ist ein Tanz ! ´) , dann ein Aufwärmen , schließlich Einzeldarbietungen von mutigen Paaren .

 

Und dann tanzt er selber mit Elisavetha .

Die ist wieder makellos ! Den dritten Tag in Folge makellos , sagt sich Knorr. Diesmal tanzt  Elisaveta in einem knielangen Rock aus leichtem Textil , das nur so wedelt ; es nimmt uns den Atem . Ein Frevel , scheint es ,  soviel bezwingende Schönheit , Eleganz , soviel Reiz . Wobei ihr Gesicht heute etwas fahl scheint , ihre Augen ein wenig müde oder resigniert . Oder streng. Oder ernüchtert . Giacomo tanzt auch mit ihr ; verbeugt sich danach , seine Stelle wird von Juan eingenommen . Mein Bruder lehnt sich zurück und sieht  der neuen Konstellation zu .

Ihre Hüften , ihre Beine , ihr Busen ( sie trägt eine Bluse , leicht wie

Gaze ;  wir sehen ihren BH , ihren göttlich straffen BH ) – vielleicht ist ihr im Gesicht ( leider ) doch abzulesendes Alter  nur ein Trick , um den Blick auf ihr Übermaß an sonstiger Perfektion umzulenken . In den Armen ihres stämmigen Gaucho-Partners bewegt sie sich wie ein

Kreisel ; ein Wind spielt launisch und unberechenbar mit ihr . Mal verharrt sie und lauert , wedelt dann und schnellt hervor und biegt doch ab in einer gewundenen Kreisbewegung . Ihre drallen kieseligen Hüften  geben jeder Drehung Kraft , und Elisavetas Stöckelabsätze sind die Naben ihrer Ocho Cortados und Pirouetten .

Ja , wir wohnen einem Frevel bei , das kann nicht gut gehen , aber was ist schon gut – `gut ´ ist so ein ungut kraftloses Wort .

 

Und Rita zum Beispiel . Gibt es eine `Heilige Rita ´ ? Wenn nicht , spricht das gegen die Kirche . Aber es ist ja auch eine protestantische Kirche , fällt mir ein , in die Knorr Geschöpfe wie Rita  eingeladen hat . Rita ist offensichtlich kurzsichtig , trägt eine stärkere Brille ( `Typ Panzerglas´, sagt Starbacks einfach mal so ) und sieht aus –man verzeihe – wie eine kurzsichtige Zitrone .

Aber sie und ihr Vater tanzten eben wie der berühmte Wirbel , der in den Abrissnischen von Buenos Aires  Zeitungsblätter durcheinanderweht und mit kullernden Konservendosen sein Unwesen treibt . Sie sind mit ihrer Milongavorstellung überraschend eindeutig verdiente Gewinner   .

 

Nach der Preisverleihung dürfen alle auf die Tanzfläche , und die Kirche mag sich das als sozialen Erfolg anrechnen : Auch alte Herrschaften schreiten zwinkernden Auges schnittig aus ,  hätten auch die Diagonale frech genutzt , wären nicht insgesamt doch zu viele Muchachos da  gewesen . Und auch ihre Gattinnen versuchen sich in Grazie und Würde und – ja , es sieht gut aus , passend , keiner ist hier fehl am

Platz . Und sie blinzeln verschwörerisch zu Partner herauf oder Partnerin herab .

„ Event , event , das himmlische Kind!“ variiert Starbacks .

 

4

Am nächsten Tag kommt eine Taufgesellschaft an Bord der `Cythera´   und man verbringt einen schönen Tag  Richtung Nijmegen  . Der Pfarrer hat seinen Variantenkatalog für  Taufpredigten dabei, in denen jeweils der Sohn Gottes auf den Wassern wandelt und den Sturm bändigt .

„ So möge auch Dir , kleiner Jonas , immer die Hilfe des Herrn auch in stürmischen Zeiten zuteil werden . Und jetzt singen wir Luthers schönes altes Lied ` Es kommt ein Schiff gefahren ´.“

( Aber das ist doch ein Weihnachtslied ? Und außerdem nicht von

Luther , jedenfalls nicht sicher ) . Wer wenn nicht Starbacks kennt sich

da aus .

„ Und immer genug Alternativen unter dem Kiel ,“ wünscht dafür der Käptn noch dem kleinen Jonas .

 

Giacomo Neuhaus sind diese Tauffahrten natürlich nicht unter wirtschaftlichem Gesichtspunkt  wichtig . Er lässt sich ein auf Pfarrer Knorrs Idee , weil er möglichst viel Farbe in seinem Angebotssortiment will . Und Knorr ist modern genug , sich nicht am Ruf der `Cythera´  zu

stören . Einerseits modern , zu haben für alle Art von Gottesdienst-aufhellung und Streamlining .

Andererseits, um eine bizarre Persönlichkeitsnote zu schildern ,  ist er, Knorr ,  auch schon mal Standortpfarrer gewesen bei der Bundeswehr und zeigt offene   Bewunderung für die Leistungen ( sic!) der deutschen Wehrmacht ; ich sage nur  : Rommel !

„ Hätte es mehr Wüstenfüchse gegeben , der deutsche Name heute stünde heute besser da “ etc .

Knorr ist Barockmensch , lebenslustig und vielleicht Ur-Ur-Enkel eines Wüstlings ; und seine Frau mag das womöglich an ihm ? Giacomo fragt sich beklommen  , was genau sie an Knorr schätzt . Er fragt sich das auffällig oft .

 

Andererseits stört sie als Graswurzel-Christin das Schwertergedöns

ihres Gatten auch , und sie ist genervt genug , sich darüber mit mir auszutauschen . Was mir , Hammelrath , wiederum ermöglicht , mit ihr über

 

Alles Wesentliche Andere

 

ins Gespräch zu kommen .

 

Kurzum , sobald wir in Emmerich anlegen , freue ich mich ihr entgegen , wenn sie die Gangway herunterstöckelt . Sie hat nämlich überraschend schmale und unternehmungslustige , sagen wir : Mediterrane Füße .

 

Und einmal sind  wir im Ufercafé von der Geschichte eine ganze Stunde vergessen worden . Querab von den Kühen auf der anderen Rheinseite .

Ich sehe auf die Kühe , sie blickt sinnierend in die Kaffeetasse ; die nächste Runde anders herum . Sie zerkleinert ein Lachen über dem Gespräch , Marke `kann gut zuhören ´.

 

„ Hier am Fluss denkt man immer über Alternativen nach , nicht wahr,“ sagt sie , „ und die augenblickliche Lage ist dann trotzdem kaum zu verbessern , Meisterin aller Klassen .“

Es lagern sich gerade bühnendramatische Wolken über die Ebene. Schiffe passieren den Betrachter in mehrere Richtungen hinein, in denen es gleich gut ist . Ufer zieren sich vor fernen Weiden und Tieflanden  wie Sandbänke : Hier und in den vereinten Provinzen der Niederlande , so weit man sieht ( und man sieht weit : ) , gibt es nichts was zu fürchten wäre  angesichts von Wolkenwächtern und gleichmütig majestätisch denkendem Fluss .

 

5

Ein völlig anderer Flussabschnitt an einem völlig anderen Tag .

Koblenz-Mannheim .

Die Flussufer hier sind verwahrlost , vernachlässigt ; zu Nichts  nutze , für nichts genutzt . Nur dass eben die Schiffe diese Strecke Fluss hinnehmen müssen , weil sie irgendwo zwischen A und B liegt und von A nach B führt . Müll schwappt im Hochwasser . Ein Rabe versucht , auf einem schwimmenden weißen Plastikeimer zu landen und ist über-

rascht , als dieser unter seinem Gewicht anfängt zu rollen .

Über den Fluss  erstreckt sich die Einflugschneise für den Flughafen ; alle drei Minuten gleitet ein Klipper verlangsamt  niedrig von West nach Ost über den Fluss . Wie der zweite Zeiger auf diesem morgendlichen Zifferblatt .

Starbacks macht das gut , denkt Rita . Genaue Regieanweisungen an die Gäste , wann sie wohin gucken müssen :

„ Jetzt bitte mal backbord gucken , für die Landratten : Das ist links . Und da sehen wir die Ruine von Burg Streckenberg , kurz vor der Einmündung der Ilster .“

Und jetzt rechts  , denkt sie sich ; da sehen wir die neue Aluminiumhütte von Rheinmetall . Aber Starbacks schafft das halt , als ob die Anrainerwelt am Fluss  immer die Naht entlang zwischen zwei Hälften schlingert ; wie eine Suchmaschine filtert der Käptn das 21. Jahrhundert aus den Reiseeindrücken heraus .

 

Sie sind jetzt ganz nahe am östlichen Ufer . Der graue Himmel reißt auf , kleine Wolkentore ergeben sich ins Blaue . Auf dem Wasser : Schwäne , Schwappen ,  darüber Amselstimmen . Die Maschinen laufen

gedrosselt . Bäume und Sträucher stehen , wo sie nicht hingehören , im Wasser  ; um sie herum wabert Treibholz im Wellenschlag . Dahinter ein Uferweg ; auf dem Uferweg ein Mann , der auf seinen Hund wartet , der einen Buckel macht . Schappi-Konverter , denkt sie , igitt , nie würde ich mir einen anschaffen , da könnte ich noch so einsam sein .

Sanft legen die Maschinen wieder einen Zahn zu . Letztens muss das Wasser noch höher gestanden haben , in den Bäumen sind Plastik – und Papierfetzen drapiert . Gegenüber ragen Baukräne , dahinten ein Hochhaus ; auf dieser Seite aber flacht das Landschafts-Schutzgebiet , Uferbruch in verspäteten Winterfarben .

 

Sie macht das zum ersten Mal . Den Escortabschnitt . Rita kennt diese Uferstrecke noch aus ihrer Studentenzeit in Bonn . Gleich in Worms wird  Herberholz einsteigen , Herberholz / Mülheim . Lehrbeauftragter für …sie guckt auf der Visitenkarte nach :  Geodäsie . Uni Marburg . Puh , dazu gehört schon Mut , so etwas auf eine Karte zu schreiben .

Am Ufer Kies , Plastikmüll , Waschwaschplatsch . Den Fluss hört man gut . Ein Bauernhaus mit 1 erleuchtetem Fenster . Ein Jumbojet im Anflug auf Köln-Wahn . Eine Laufgruppe . Der Regen kommt zurück , ist aber ganz fein wie ein Flimmern . Der Himmel hängt niedrig , von dem Flugzeug in langsamer Landeschleife beißen die Wolken immer wieder  Teile weg , als Schatten fliegt es weiter .  Ein Reiher zieht schnell durch das Wasser ; liegt das an der  Flussgeschwindigkeit oder flattert er selber so hektisch ?

Das Boot der Wasserschutzpolizei nähert sich langsam , wie

misstrauisch , einem  Frachter ,  `Milan´ aus Terneuzen , rheinauf, bergauf fahrend  . Durch ein weites Panorama von Wolkengrau , Wind auf der Wange und in den Fahnen und in den Bäumen . Am Ufer treiben Pappen und Kistenteile gegen die Strömung . Wildenten tun so , als wollten sie den Fluss überqueren , nehmen so richtig Schwung und quaken entschlossen  , biegen aber dann doch im Halbkreis ab .

Auf der `Milan ´ sprühen die  Seeleute ,  `Matrosen´ muss man wohl sagen , die Luken ab. Wasser auf dem Wasser .

Es riecht jetzt intensiv nach Diesel . Die Sonne , ja es gibt sie ja doch , leuchtet die gegenüberliegende Flussseite an in Silberfahnen .

 

„ Es ist das erste Mal, dass ich eine Dame vom Escortservice treffe,“ gesteht Herr Herberholz  .

„ Ich mache das , um mich an meiner Frau zu rächen“, sagt er

dann und guckt sie an , als warte er auf Applaus .

„ Und ich mache das aus Liebe zu meinen Dalmatinern,“ sagt Rita.

 

 

6

Pfarrer Knorr betätigt sich seit letztem Jahr auch engagiert in der Flüchtlingshilfe . Giacomo spottet hinter vorgehaltener Hand :

Diese Ehrenamtlichen da  seien doch nur getarnte  Modernisierungs-verlierer ; schmollende Oldies , die auf ihre alten Tage die Welt über deutsche Grundlagengrammatik retten wollen .

 

` Der 3D-Drucker : Nominativ !

Ich arbeite mit DEM 3D-Drucker : Dativ !

Ich kann nicht leben ohne …richtig : DEN 3D-Drucker :

Akkusativ ´

 

etc …..

 

Überhaupt sind Giacomo und Knorr , wiewohl auf herzlichem Fuß miteinander  , auch große Lästerer , und Knorr kann herzerfrischend über sich selbst und seine Firma ätzen . Als seine Helfer gegen Sweatshops in Bangla Desh plakatierten : `Weit weg ist näher als man denkt ´ , sagte er nur :

„  Na ja ! wenn hierzulande die Oma ihren schreiwütigen Enkel betreuen und bespaßen muss , denke ich : Dritte Welt kann unmöglich schlimmer sein“ .

 

Eines Tages wurde Knorr  von Rechtsradikalen ( die nicht wissen  , dass er Rommel mag ! und recht eigentlich auch noch nie vom Wüstenfuchs gehört haben )  in seinem Sprengel nicht mehr nur ( wie öfters vorher ) gestört und angerüpelt , sondern gekidnappt .

„ Wir wollten ihn nur einschüchtern . War mehr so ein Spaß! “ sagen sie hinterher auf dem Revier .

Wer die Bilder der Kidnapper sieht , ihre Körperstatur  und ihren Gesichtsausdruck , auch die Aufschriften auf  T-shirts und fleischigen Unterarmen , muss sich um eine neue Definition des Wortes `Spaß´  bemühen , wird der Staatsanwalt sagen .

Sie warfen den Pfarrer in einen gottverlassenen Keller , wo er zwar nicht Tage , aber immerhin Stunden  in der Dunkelheit zubringen musste . Die Polizei fand ihn mit Hilfe einiger Raucher .

 

Raucher  sind nämlich diejenigen , die sich seit ihrer Verbannung aus dem umbauten Raum am besten auf unbelebten Hinterhöfen und in Abbruch – Arealen auskennen . Und ihnen fielen die Rufe und Wutanfälle von Knorr , nicht in der ersten Zigarettenpause ( 9 Uhr 45 ) , sondern in der dritten ( 12 Uhr 30 ) , dann doch auf .

Knorr wurde befreit , die Täter bestraft , die Finder belohnt . Das Abbruchareal wird demnächst gentrifiziert .

 

Schlecht

  1. a) für Raucher
  2. b) für gekidnappte Pfarrer .

 

Am Tag nach seiner Befreiung organisiert dann das linke  Milieu der Stadt den Versuch – seien wir bescheiden !-  einer Demonstration gegen Rechts , gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit  . Erstmals erscheinen zu diesem Vorbereitungstreffen Vertreterinnen der

`INCHALA ´ . Sie enthüllen hinter Knorrs Podium , selbiger umrahmt von anderen üblichen Verdächtigen aus der Szene , ein Spruchband :

 

`INitiative der CHAncenLos hässlichen FrAuen Deutschlands ´.

 

„ Ohne die mehrheitlich jungen männlichen Einwanderer perspektivisch  keine Aussicht auf erfülltes Liebesleben sowie stabile Zweier-beziehungen , “ argumentiert die Wortführerin , „ jedenfalls nicht für unsereins .“

 

7

„ Ich bin ,“ sagte Knorr, „ ja nicht umsonst protestantischer Pfarrer . Anders gesagt , ich mache das Beste draus , aus protestantischem

Sein .

Ich liebe Timing . Das erstaunt Sie jetzt , liebe Frau Öztunali . Aber Timing ist nun mal : Aus der Zeitration , die einem der liebe Gott gibt , das Beste zu machen .

Und eigentlich heißt das nicht unbedingt  Stress. Sich einpassen ,

passen , wissen wo man passt  ; Kaffeemaschine anmachen , Computer hochfahren ; wenn der Toaster pingt , ist der Kaffee auch fertig , und man kann an den Computer gehen . Notwendige Ästhetik , wie ein gotischer Dom . Alles passt .“

 

`Ästhetik´ ist nicht das passende Stichwort zu Starbacks Auftritt .

„ Dieser April schafft mich“ , sagt der Käptn . Er hat ein vielfach durchschneuztes Taschentuch auf die blanke Schädeldecke als Sonnenschutz gefaltet und nimmt diesen jetzt wieder ab .

„ Und jede Wolke muss heute ihren Senf dazugeben .“

Lila pflichtet ihm bei . Der rapide Wechsel zwischen Sonneneinfall und

düsterer Wolkenfront macht viele kleine Miniaturen aus dem Tag  ; und das `eben noch ´ ist chronisch mehr schon ein ` gestern´.

„ Ja , bei uns daheim in Emmerich hat das Wetter  auch immer viel

zu tun ,“ meint der Pfarrer .

 

Warum Giacomo Neuhaus zwischen den Törns so gerne im Café Andalou ist . Er erklärt das gerade Lila , die auch auf einen Nachmittag bei uns in Köln ist .

Liebe , sagt Giacomo , ist Neugierde . Lila sagt nichts .

Neugierde ist Befreiung , und Versprechen , und Zutraulichkeit nicht zuletzt .  Ohne Befreiung ( von was ? ) und Versprechen ( ist ja klar von was ! ) und Neugierde ( so sehr allgemein ) gibts keine Liebe .  Liebe ? Zutraulichkeit ist , wenn wir auf unserem Recht pochen , überrascht zu werden . Positiv . Und Heiraten ist wie wenn wer das Fernrohr vertauscht mit dem Mikroskop . So genau wollte ich es gar nicht wissen , oh

pardon !

„ Sie sehen das sicherlich ganz anders ?“ sagt Giaco , an Lila gewendet .

 

„  Sein Blick geht an Frauen herunter wie ein Sturz Wasser an einer

Mauer,“ beschwert sich insgeheim Lila .

 

Das Rekrutierungsbüro von Giacomo Neuhaus , dieses `C&A ´  zwischen Stadtmitte und Rheinhafen , ist eine Erfolgsgeschichte , ähnlich wie seinerzeit  Ricks Café , und die Leute  reden nicht oder nur halblaut darüber , vielleicht weil sie wie bei einer Seifenblase fürchten , hier könnten irgendwann die Aufkleber am Fenster prangen  : `Nachmieter gesucht ´.

 

 

8

Zuhause wird Anja gleich Hausputz veranstalten . Das tut sie sonst nie . Nicht über das eigene ästhetische Necessaire hinaus ; sie hat bei Gott genug anderes zu tun und selbstredend kein Geld für eine Haushalts-hilfe . Sie putzt , wienert , lüftet , bügelt Bettwäsche , räumt und rückt , beseitigt und positioniert ; die Fenster sind am schlimmsten dran . Und dann der Kühlschrank ! Ein stiefmütterlich behandeltes Gehäuse um die Minimal-und Fastfood –Bestände herum .

 

Es ist Mitte April  . Nachts ist der Winter  noch da ;  tagsüber breitet sich schon eine helle und wärmere Stimmung aus .  Vor Anjas Fenster treiben Tauben , wie bewährt und gelernt , alternativlos besten Gewissens , nach bestem Können , nach Maßgabe der Säfte , wie es sich gehört , wie es nicht kaputtzukriegen ist ,  ihr Liebesspiel . Unmöglich auszumachen , sagt Anja , wer Männchen /wer Weibchen ist . Beide flattern durch die Baumreihen ; mal wuchtet dann der eine oben mal die andere . Sie sind wählerisch bei der Festlegung auf einen Schauplatz der Begattung ; kein Baum ist gut genug , sie flattern hin und her auf und ab . Alle Äste an diesem windstillen Morgen werden einmal her und hingeschwenkt  . Bringen sie sich in Form  für den entscheidenden Akt oder müssen sie Ballast loswerden ? Mal einen Ornithologen fragen .

 

Zwischendurch fliegt eine einzelne Fremdtaube vorbei : Womöglich ein verlassener Dritter , ein eifersüchtig und verloren zurückgelassener , ausgebooteter , vielleicht eine Anstandstaube , die jetzt nicht mehr gebraucht wird ? Und dann ein Rabe , wenig süßlich Krach schlagend um die beiden Liebenden , die jetzt doch endlich in ihrem Liebeskurven zusammenfallen .

 

Heute morgen habe ich keinen Kater , denkt Anja . Die Nacht mit Birte hat mir gut getan . Man kennt das Bild von der Wildsau , die gerade geworfen hat , 8 Frischlinge zur Welt brachte ; jetzt legt sie sich auf die Seite und bietet jedem Nachkommen eine Zitze . Die Jungen saufen sich voll mit Welt , und ich ( man erlaube mir den nicht so schmeichelnden Vergleich ) liefere diese Welt , bitte schön , teile sie zu und bändige sie . Ich  liege gelöst auf der Seite , höre Geräusche vom Morgen und erlaube der  Welt , sich vollaufen zu lassen , sich vollzusaufen mit Existenz .

 

9

An einem Tischchen vorne an der Bugspitze der `Cythera´ treffen sich

später Gwendolyn und Dr. Brenninkmeyer .

„ Da sind wir  ja fast die Galionsfiguren,“ scherzt er . Er ist zweifellos charmant . Denkt er . Tut ein wenig so , als sei er zerstreut , weshalb er auf jeden Fall nichts Drängendes (`Wann gehen wir endlich nach

unten ?´) zeigt  .

Gwendolyn konzentriert sich auf die Rheinstrecke bei Kaub . In etwa einer Stunde werden sie da sein , und vielleicht schiebt sich der Mond ja bis dahin ganz frei oder lässt sein Licht genau durch die Wolkenlücke fallen , die sich über der alten Burg in Strommitte auftut .

Gwendolyn wird diesen Eindruck kunstvoll einordnen in ihr Gespräch über deutsch-französische Freundschaft : Blüchers Flussüberquerung in der Neujahrsnacht 1814 (`war schon eine logistische Leistung damals ´),

eine Anfangs-Station der `Erbfeindschaft ´; aber Gwendolyn ist auch interessiert am Frankreichbild der letzten zwei deutschen Generationen : Von `film noir ´und  Simenon- Studien hin zu den Touristen , die

nach Südfrankreich strömen , geil auf Rezepte und klingende Wein-Crues ; und alles so ein bisschen aphrodisisch ( das Wort fiel ihr noch eben ein ) ; die Käsestände in Prozession abschlendern ;` davon 200 Gramm ! oui , deux cent ! nein , nicht von dem ; der daneben ! sach ihm doch  mal Peter ! à côté !´ oder , ` einfach so ´ und irgendwie überall im Bistro am Strand sitzen , chillen und sagen  `Liberté toujours  ´, klar , das meint uns .

Brenninkmeyer wird verstehen , was sie meint : Ihm ist es auch unangenehm , sagt er , wie Paris in die Hände der Ausverkäufer gelangt ist ; sein Französisch ist  ausgezeichnet , und er hätte Frankreich gerne als etwas Exklusiveres für sich ( nicht unbedingt  für seinesgleichen ! ) bewahrt .

 

 

VIII Mehr über Noah

 

1

Noah trägt die Jeansmarotte seiner Generation , mit eingerissenen Kniekuppen . Vielleicht stammt dieser Riss aber tatsächlich vom Fall mit seinem Skateboard . Das hat er noch nicht sehr lange , und meisterlich beherrscht er das Rollbrett auch nicht . Aber er ist ambitioniert und treibt sich neuerdings immer auf dem Humboldtplatz herum , wo Skater- Koriphäen herumdonnern und swirlen  ; es kracht nur so von

Aufbäumen , Abheben , Aufsetzen und hallt von Flüchen und Anfeuerung ; eine rein männliche Gruppe von Jugendlichen , die unglaubliches Balancevermögen , Eleganz und Athletik auf die Räder bringen .

Aimée hat Noah ein Skateboard gekauft mit speziellen Keramikläufen , die das Brett noch schneller machen . Noah fährt auch durch die Einkaufszone , wo er manchmal nur zwei Meter freien Raum vor sich

hat , schnappt das Ding dann wieder hoch und umklammert es wie einen Schatz ; ich meine einen Schatz aus Fleisch und Blut . Knutschen tut er es nicht , aber immerhin umschlingt er sein Brett wie Schiffbrüchige sich an eine Planke klammern würden .

Das Brett ist sein Notanker  , nachdem ihn Norah über die Sommer-monate hin am ausgestreckten Arm hat verhungern lassen .

 

„ Was heißt eigentlich Empathie ?“ fragt Noah mich .

Es heiße so etwas wie Mitleid , erkläre ich .

„ Weil : Mein Sozialkundelehrer will mir in ein Gutachten reinschreiben , an so was `mangelt es ihm´.

Das kann ich kaum glauben ! Versuche ihm aber  klarzumachen , was die `soft skills ´ sind und wieso sie einem auch einfach ganz nützlich sein können ( etwas besseres fällt mir auf die Schnelle nicht ein und man will

ja nicht auf die moralische Tour kommen ) .

„ Sehen Sie da drüben die Bettlerin ?“

Wir warten gerade an der Ampel vor einem Kaufhauseingang . Ja , ich sehe sie , und finde das Ganze ein schauriges Bild : Eine  Frau um die 60 , in sich zusammengesunken , hält hilf- und wortlos einen Pappbecher in die  Menge . Sie hat wohl gar nicht die Kraft , irgendwen anzusehen ; sie bewegt ihre Lippen , hält aber die Augen fast geschlossen und ist ein Bild der Kraftlosigkeit ..

 

„ Ja , sehe ich . Und ? was empfindest Du dabei ?“

Noah fährt an und ordnet sich ( ohne zu blinken ! Sakrament ! ) in den Linksabbiegerstreifen ein .

„ Ich empfinde Mitleid . Und zwar mit den Leuten im Kaufhof , die da gleich alarmiert werden , einen Notarztwagen rufen müssen , die Alte  künstlich beatmen müssen : Die Passanten haben die freie Wahl , ob sie weitergehen wollen oder gaffen . Die Leute im Kaufhof müssen was tun , retten oder intelligent sein . Nach denen fragt keiner . Vielleicht werden sie vollgekotzt .“

„ Und die Bettlerin ?“

Noah zuckt die Schultern.

„  Ich wette , sie war schon mal beim Psychologischen Dienst , oder bei der Therapie , und es gibt eine mordsmäßige Akte über sie . Manchen Leuten ist nicht zu helfen . Glaube ich .“

 

Ich schimpfe abschließend wegen soeben erfolgter Unterlassung der Setzung eines  Blinksignals und überlasse Noah seinem Tag .

Nicht ohne ihm vorher noch die Anekdote erzählt zu haben , die vom beruflichen Ausscheiden eines meiner Kollegen ( ich sollte sagen : Konkurrenten ) berichtet : Fritz Büchen war immer schon sehr dünnhäutig gewesen , mit einem Hang zu Verschwörungstheorien , sagen wir es deutlich : Paranoia . Und einmal – keiner weiß mehr !

man spekuliert : Wie konnte es passieren ? – einst im morgendlichen Stoßverkehr verschläft er an der Ampel , dass sie von rot auf gelb auf letztlich/wichtigst/ : Grün ! gesprungen ist . Er merkt das erst Sekunden ,  bevor die Ampel wieder auf Rot zurück geht . Natürlich ärgert das nicht nur jeden Autofahrer , sondern erst recht Fahrlehrer ! Am schlimmsten aber : ( Und hier der Grund , warum Büchen eingeliefert wurde ) : Zeitgleich mit dem Erschrecken über das verpasste Grün sieht er im Rückspiegel ( so sagt er jedenfalls wiederholt !) , dass hinter ihm

drei Reihen breit lauter Kollegen ( oder Konkurrenten ) stehen , die

NICHT gehupt haben ! Nicht gehupt , aber sich geweidet an seiner Schläfrigkeit . Büchen wird unter Tobsuchtsanfällen  aus seinem Auto gezerrt und ins Krankenhaus verfrachtet .

So viel am heutigen Tag zum Thema Ampel . Später durchaus mehr .

 

2

Ich mache schließlich noch Halt im Park von Schloss Buschhausen .

Es regnet nicht , aber der Park und der anschließende Wald gehören trotzdem mir : Nicht Jogger noch Hundebesitzer : Dieser Matsch von

seit vorgestern ist mein Matsch . Ich bringe es auf einen neuen  Rekord : Sage und schreibe 17 joggerfreie Minuten kann ich durchatmen  – dann kommt es allerdings dick : Ein dynamischer Mittdreißiger grüßt mich jovial, hinter ihm ein Dalmatiner ; während des Laufens telefoniert der Besitzer  . Dann eine ganze Gruppe bewegungs-und krachseliger Senioren . Nun ist aber wieder Ruhe .

 

Und ich ordne meine Gedankenschübe . Vielleicht sollte ich heute Nachmittag einfach den Versuch machen ?  Im Andalou hätte vielleicht besagte Kellnerin Schicht  , mit ihren milchmilden Augen , dem Aprikosenrot auf den Wangen , rot kennt kein Gebot  ; vielleicht hat sie ein wenig Flaum am Kinn . Mit ihrem hochgesteckten Haarschopf . Einen Versuch wert !

Nicht sie rumzukriegen , sondern mich in sie verlieben , alles um die Situation herum , um diesen Totempfahl herum kartographieren und ausforschen .

 

Ich halte an einem Bachlauf mit Windbruch im Hintergrund . Schilf

wedelt  , so dass ich zunächst denke , dahinter haben sich spielende  Kinder versteckt ; oder ein La Salle , der als erster Europäer den Mississippi herunter wandert , wandelt , rudert .

 

Man wird so schön in dieser Wildnis zurechtgestutzt : Wenn alles nichts gebracht hat : Und wenn schon ! Hier zeigt sich Vergeblichkeit von ihrer sanftesten Seite . Die Wildnis , der Baum da gegenüber mit seinem Pracht- und Prunkmoos , ein Karpfen im Wasser mit  Schlammschlieren ; Sonnenschein , ein ungewöhnlich warmer Mai . Alles üppig grün , eine grüne Kissenschlacht .

 

Und dann ist da vielleicht wieder  Aimée mit ihrem Hund unterwegs .

Was mich am meisten verblüffte ( unwichtig angesichts der Tatsache , dass wir uns trafen !) ist , dass sie Tattoos trug . Ich dachte , ich kenne diese Haut ( was für ein Unsinn , es ist 18 Jahre her , dass ich sie das letzte Mal berührt habe ) . Aber jetzt trägt sie Lianen und Blüten und Buchstaben , die ich nicht auf die Schnelle lesen konnte , an linkem Arm und rechtem Knöchel .

 

Aus dem Spaziergänger- und Naturparadies wieder in die Menschenwelt zurück . Ein langsamer Übergang . Hier ist es noch so still ; die Stille ist wie ein Briefbeschwerer , ein Hünengrab , das über Stille und Unbeweglichkeit wacht .  Dort die ersten Häuser . Hier der Wald in seinen Ausläufern , die heute anscheinend noch kein Mensch  betreten hat .  In der Gegenrichtung : Hier das Dorf . Hinter mir der Wald .  Hier noch das Dorf , vielleicht ein Mensch auf der Straße , die Möglichkeit zu einem Gespräch . Das Zauberwort `noch ´. Die letzten Meter des `noch ´. Gleich nicht mehr .

Warum ist man so fasziniert von diesem Auslaufen , Aushauchen , jetzt noch , gerade noch , vorläufig noch dieses hier wahrnehmen ? Da ist

eine Art Zwiegespräch und Zutraulichkeit  derjenigen Instanz

gegenüber , die gleich einen Schritt für beendet erklären wird . Noch trägt der alte Zustand , noch , noch . Jetzt nicht mehr .

 

Dazwischen fand irgendwo eine Berührung statt .

Um diese Berührung ginge es mir ? Ich bin ein Meister des  `noch ´

( gleich nicht mehr ) , salopp gesagt ( mit Starbacks also ) : Ich pfeife auf dem letzten ` Noch ´.

 

3

Ein Andermal .

„ Sie wollen mich trösten!“ sagt Noah . Vorwurf in der Stimme !

„ Wenn Du mich schon so fragst , JA . Und da vorne bitte auf die andere Spur . Nicht so schnell ! Tempo 30 ! Blinken ! Blick in den Rückspiegel. Mensch , Noah !“

 

Trost braucht er auch wegen seines Durchfallers bei der Fahrprüfung vorgestern . Aber noch viel mehr wegen Norah . Noah hat sie mit Jens gesehen .

„ Sowasvonarschnett von Ihnen“ , sagt Noah nach einiger Zeit .

„ Aber …“ .

Er sollte mal wieder duschen . Hygiene ist nicht die stärkste Seite dieser

Generation , erst recht wenn in den Klauen seelischer Krisen .

„ Aber ich gucke besser nicht zu genau hin , wie SIE und die anderen Erwachsenen leben .“

 

Staunen  und Warten meinerseits .

„ Sie haben alles schon mal erlebt , und überlebt . Für SIE ist eine Niederlage in der Liebe nur eine in einer Reihe von Hochs und Tiefs , irgendwann gibts auch mal wieder einen Erfolg , alles neu macht der

Mai .“

 

„ Schon doof , das mit Jens  ,“ sagt Noah dann . Wir stehen vor der nächsten Ampel .

Wieviel Ampeln erlebt so ein Durchschnittsmensch in einem Jahr , in einem Leben ? Eigentlich ( aber nur eigentlich !) sind Ampeln  verdienstvoll , als Meditations-Leitsysteme . Was den Erwerb zusätzlicher Lebenskompetenz angeht : Da kommt  vielleicht nicht so sehr viel dabei raus . Noah guckt mehr vor sich hin – als auf die Ampel ! Rüge .

 

„ Aber …“ . Noah klärt seine Position in kleinteilig sorgfältig logischer Schrittfolge .

„ Allein schon wenn Sie älter werden : Sie erleben mehrere schöne

Momente . Und jeder ist anders ? Oder doch nicht ? Allein schon diese Sammlung ! Für Sie ist Verliebtsein doch nichts neues mehr . Ich will dieses Mädchen  , diese Situation , diese Gefühle als Stehenbleiben !“

A propos Ampel .

Da drüben in der Tat eine schöne Frau , schön anzusehen ! Möge dies ein gutes Zeichen für den Tag abgeben . Muss für den Tag vielleicht schon reichen , wer weiß was noch alles passiert ; welche Durststrecke

etc. Als Noah mir noch erzählt , es werde eine neue Schülerzeitung geben , sie suchten aber noch nach passendem Namen , sage ich einfach ` Durststrecke ´ . Noah guckt verwirrt .

„ Nein ,“ sagt er . Er macht es sich einfach . Dann :

„ Ich finde `Wursttrauma ´ besser.“

 

Noah macht heute blau und es ist trotzdem nicht sein Tag , wie man so sagt : Er kippt fast nach hinten , ausgerutscht auf einem Schleimhuster , den so ein Asi oder Alki oder Asylant auf den Bürgersteig gerotzt hat .

Und heute morgen geschah es angeblich vor dem Spiegel : Er probiert das erste Mal seinen neuen Rasierapparat aus , auf die sanfte Tour , stolz , als er etwas Widerstand seitens des Flaums und der doch schon herberen Haut eines 17-Jährigen ( ! Heranwachsenden ! fast Erwachsenen ) spürt . Demnächst wird er üppig Rasiergel auftragen ; Rasieren ist voll viel cooler als unrasiert ( sozusagen ) drei längere Haare am stolzgerecktenKinn  in die Klicke zu tragen .

 

4

Das Hochwasser überschwemmt immer noch den Damm , der

Otterndorf- Hafen von der Elbe trennt und schützt . Graue hektische Wellen spülen über das Kopfsteinpflaster ; es schäumt , man denkt an eine Fischtreppe , vermehrt Euch ruhig , oh Ihr Fische  , oder die Lachssaison in Alaska .

Doch da vorne kreuzt die Autobahn den Fluss , Autos her , Autos hin . Sturer Verkehr , nicht dasselbe  wie die One-Way-Mentality des Flusses, sagt Starbacks .

Autobahnen tranchieren ein Stück Reservat ins Land . Niemand will an der Autobahn wohnen ; das angrenzende Gebiet fällt im Marktpreis

und hat ausgesorgt . Wenn Du aus dem Fenster schaust , Dich gerade langsam bewegst wegen eines Staus , siehst Du hier aber (hiernurhier) die erstaunlichsten Tierarten , Hausreste , Stichstrassen :  Bis hier und nicht weiter geht das Neubaugebiet oder der Gewerbesektor .  Hier ist Friede , wenn Du Dich einmal mit dem Autorauschen abgefunden hast ; aber Du könntest Dir einreden , das kommt vom Niagarafall .

Nein , ich habe sowieso nichts gegen Autos .

 

Das Hochwasser bringt uns den Fluss näher , als ob man einen warmen Winterschal noch enger zieht . Ankertrossen sammeln Flöße von Treibgut ; das Schilf lässt an Rattan und ( Giacomo !) an Josephine Bakers Bastrock denken . Jetzt sind alle Boote dem Wasserspiegel gehorchend hoch zur Kaistraße geklettert , wie bei Flut . Ein Gratisservice der Gezeiten . Das Boot da vorne heißt `Lazy Days ´.

 

Eine Hochzeit auf dem Ausflugsdampfer lässt mich nachdenklich in mein Glas schauen . Eine Frau hat ( ach wäre es nur MEINE Erfahrung !) nach spätestens zehn Ehejahren zwei ganz genau passende Schlüssel :

 

  1. a) Hier kommt kein Glück herein – und

 

  1. b) hier der exakte Schlüssel für die Unglücksdosierungs-

bemessungsanlage  (UDBA ) .

 

Wenn ich an Anne denke , bin ich empört : Warum bist DU nicht glücklich mit MIR ?

 

Zwei Gastanker kommen uns entgegen , machen großes Aufhebens um ihre Bugwellen ; ihre Kuppeln würden Giacomo  an Weibliches erinnern.

In den Bäumen über mir gibt es schon gelegentliches Vogelzwitschern ,

ein Funkensprühen von Gerade-NochVorfrühling .

 

5

Ohne Dich ! Alles das ohne Dich erlebt .Ohne Dich ….bin ich einsam ? Was ist damit gemeint , ich meine , so , unsentimental  ? Ohne die Gesellschaft intimer Spiegel . Ohne Vertragspartner . Ohne die Beste unter Schlechten . Einfach mal so sagen und  betrübt empfinden : Ohne DICH . Der Luxus der Ausklammerung ( alles Störenden ) . Wie Besoffenheit . Ernüchtert ist  man nach Lektüre der Verträge . Besoffen

kann man einfach die Unterschrift links unten auf das Schriftstück

setzen .

 

Kein Anruf aus Vancouver . Dafür Angebote auf der `Cythera´ . Bis mittags sind das misslingende Ablenkungsmanöver .

Der Anruf kommt dann doch . Sie hat sich die Zeit genommen . Und meine Sehnsucht hat alles so schön vorbereitet .  Und jetzt die

( durchaus nicht wegen MIR ) genervte Stimme : Annes Probleme mit dem Weiterflug nach Seattle .

 

Man kann ganz seekrank werden vor dem Geschaukel auf dem

Beziehungsschiff . Zur Verdeutlichung für eine eventuell noch  illusionsbehaftete Jugend sollte ich ein Instrument erfinden , so etwas Altmodisches in Messing , das die Gleichzeitigkeit von Empfindungen anzeigt  ; das selbige alle halben Stunden mal zur Deckung bringt und dann vielleicht auch noch `Bingo´ sagt .

 

6

Antwerpen , Venedig , Basel , Lyon ,  Doordrecht , Liège , Regensburg , Budapest …Starbacks zählt nicht weiter auf .

„ Ich war überall in Europa , habe der Welt jede Menge Chancen gegeben . Irgendwann ist es mal gut .“

Das begibt sich zu Karneval ; nicht im rheinischen Februar , sondern im argentinischen Winter , im Juni . Der allerdings in Deutschland kalt sein kann . Verwirrend .

Der Käptn und Taras haben sich als Flussgötter verkleidet und ahmen Skulpturen auf Renaissancebrunnen nach . Malerisch vor der Bar gelagert , Badehose ( knapp ! was bei Starbacks lustig aussieht ; Taras trägt so einen textilreichen Badeabzug von 1920 ) , jeder mit einem Plastikeimer , den der Flussgott offensichtlich gerade in sein (Fluss-)Bett geleert hat .

„ Wer ist der Mann da mit dem Hörrohr?“ fragt Noah . „Hört er wirklich schlecht , und kommt er aus dem letzten Jahrhundert ?“

Ich habe Noah eingeladen , eine Niederrheinstrecke auf der `Cythera´ mitzufahren .

„ Das ist der Erfinder des Sex,“ antwortet Giaco .

„ Wie bitte ?“

„Sex. Ausführlicher :

 

Sound

Extinguisher , kurz : S.EX .

 

Dr. Brandstaedter hat einen Schallschlucker erfunden . Frage mich nicht nach der technischen Dimension . Jedenfalls ist die Versuchsphase schon in Yokohama genehmigt . Der Apparat wird auf einer lauten Straßenkreuzung aufgestellt – und er schluckt den Lärm . Einfach weg . Egal wie viel Autos : Man hört nur das , was der andere Passant Dir gerade erzählt .“

„ Das ist ja …“ Noah versteht im Schritttempo Bedeutung und Wirtschaftspotential der Erfindung .

„ Und jetzt vergnügt er sich hier an Bord ?“

„ Mit Rabea.“

 

Dem Flussgott  wird jetzt das Mikro aufgenötigt ; Malevitch nickt aufmunternd , und Starbacks singt

 

 

Masturbation

 

ist auch nur eine Spielart von Aufräumen .

Nicht : Aufbäumen ! Auf-Räumen !

Hast Du auch Dein Zimmerchen schön aufgeräumt ?

Hast Du auch was Schönes geträumt ?

 

( Masturbation und Onanie

so schön ists zu zweien nie

Onanie und Masturbation

leider geht das Telefon

 

Feste Beziehung hindern nur

an freiem Masturbieren

insofern hat man im Miteinander

durchaus immer was zu verlieren

 

optische Rechnung nicht offen lassend

im Selfie sind die Partner passend

doch bei Onanie und Masturbation

geht leider meist das Telefon )

 

 

Malevitch steht dann nachmittags mit  Noah auf dem Deck ; Duisburg

querab , die winderfahrenen Ebenen des Niederrhein an steuerbord . Malevitch sagt , für ihn sei das wie ein Traum : Eine andere Zeit . Schau da drüben , das flache Land , dahinten ein paar Baumreihen , ein paar Gebüschketten  ; dahinter ahnt man zwar Schornsteine von einem Kraftwerk , aber ich blende sie gerne aus . Ein Bauernhaus ! So richtig ! Die Tochter büffelt wahrscheinlich für eine Matheklausur , der Sohn kriegt Nachhilfe , will eigentlich  zum Spieletreff . Soviel zur Romantik . Noah nickt nur . Dann sagt er etwas wie :

Guck mal da , typisch Feenlandschaft Niederrhein :  Ein paar Jogger , da ein paar Pferde für die Reitstunden ; und links wie rechts  Leute , die Hunde ausführen .

„`Unsere Gesellschaft ist überaltet ´ ,   sagt meine Mutter (  SIE  hats gerade nötig !) , daher Wauwaus überall , jede Idylle zugestellt ; und wo das Bein nicht gehoben wird , machen Jogger Dehnungsübungen . Lauftreff . Und wie .“

Noah spuckt über Bord .

 

 

 

5

Fahrschullehrerblues .

Klar geh ich auch mal zu Fuß

Doch gern stau ich per Karawane

wenn ich nichts andres grad plane ….

 

Summt Malevitch . Gerne auch in meiner Gegenwart . Ja natürlich ,

danke der Nachfrage ; es macht mir immer noch Spaß zu fahren , fahren zu lehren , zu organisieren ; meine Klientel durch die Stadt zu führen . Die Stadt sozusagen wie eine Zwiebel zu schälen : Kreise ziehen , immer kleinere Kreise , größere Kreise um ein Viertel ziehen ; meinen Schüler vor die spannende Frage stellen : Wird er gleich sagen : Rechts ? Links ?

Von dieser , von jener Richtung aus : Ich entdecke Winkel , Mauerwinkel, Bäume aus dieser , jener oder anderer Richtung . Nein , mich langweilt das Fahren nicht , Fahren in der Stadt ist  Kommunikation , in jeder Schattierung , von Wut bis Flirt . Diese Kreise fahren hat etwas von Verstecken . Und Finden . Helligkeitsstufen .

 

A propos Helligkeitsstufen : Wenn nur endlich dieser Winter aufhören würde ! Wird ja wohl Zeit im März . Düsternis hat einen wahrlich langen Atem dieses Jahr . Dauerwinter mit gequältem Licht ; fahle Schaufensterbeleuchtung und Straßenlaternen . Irgendwie machen sie aus den wenigen Menschen , die einem außerhalb der Rush-Hour morgens , abends , nachts begegnen , Styropor –Schaufensterpuppen , oder weiße Maden unter einem Stein , wohl vor der Kälte versteckt .

Nur gut , dass Giacomo das Angebot (Frechheit!) ablehnen wird , eine

(horribile dictu!) Stockholm-Tour zu machen . Und diese Nachmittage erst !

 

6

Ein Jugendlicher erklärt schon im zweiten Jahr hintereinander , er sei gerade von seiner Mutter zuhause rausgeschmissen worden , brauche entsprechend solidarische Hilfe ( „ SIE haben doch auch Dauerkrach mit Ihrer Mutter ?!!“  nein , habe ich nicht )  ; und seine Geschichte hat ihre Haltbarkeit sehr überschritten . Eine spezielle Art der Belästigung , wenn diese orientalischen Geschichtenerzähler nicht nur einfach um Geld bitten , sondern mir auch noch zumuten , ich müsse eine Geschichte glauben . Wieso ICH ? Vielleicht , weil ich besonders einfältig aussehe ? Ich fühle mich gekränkt . Das kann kein gutes Geschäftsmodell sein .

Auf dem Nachhauseweg kommt auch Giacomo am Pennertreff vorbei .

„ Dat is de Jupp,“ hört er eine Personenvorstellung .. „ Dat is ne Beamte ! Sieht man nich , unrasiert wie de is , de Möpp,  der kann auch wat wegschlucken ; dat is ne Strietworker , der ist enger von uus , der is in Ordnung .“

 

Und alle haben sie übrigens Kinder heutzutage , mittlerweile , heimlich . Ohne mich zu fragen . Ist mein Leben ein Brief , der mich nicht erreicht hat ?

Reden wir also über knappe Bekleidung . Über knappe Bekleidung , oder nicht ? ging es gestern auch am Nebentisch . Und das was bei einem kommunikativen Striptease fällt : Diese Frau , wenn sie – wie andere – erzählt von ` mein Mann  , sein Verein , Jens und die Jüngste , ja die Kinder , die Ganztagsbetreuung ´  : Ob all das wirklich reicht für die

 

ordnungsgemäße Verschleierung ?

 

Ich verlasse den Wagen am Rheinufer unter einem schönen blauen Vorfrühlingshimmel zu einer Zeit , zu der vor ein paar Wochen noch Nacht gewesen wäre . Kondensstreifen schnippeln zwischen den wenigen Wolken . Irgendwie heute Konsens-Streifen . Wir fliegen zusammen . Okay .

Der absurde Gedanke kommt mir , ob Piloten beim Start  morgens auch diese berauschende Frühluft einatmen können , was ihnen noch mehr Schwung und Aufschwung geben würde .

 

Und ich denke an Anne .

Kein Mensch in unserer Bekanntschaft bezweifelt , dass wir eine gute Ehe führen . Wir haben uns noch nie in der Öffentlichkeit gestritten , verbringen unsere Urlaube zusammen . Es gilt für uns beide , dass wir nicht einzeln gegenüber den jeweiligen intimen Freunden über Partner /Partnerin meckern .

Was mir aber bei Betrachtung des Flugzeugs gerade einfällt : Den Eltern hat man es früher durchaus zugetraut , dass  sie das Normalleben aus dem Handgelenk , unversehens , in etwas Festliches verwandeln

können ; so wie die Lehrerin sagen konnte : Heute Schulfrei ( wegen Ausfall der Heizung  ) ! So konnten die Eltern auch – aus dem Nichts , soll heißen : Auch bei sonst aktuell eher widrigen Zeitumständen – irgendwie eine freudige Überraschung zaubern : Kommt , wir gehen ins Kino ; heute essen wir auswärts ; heute Nacht schlafen wir bei Tante Paula .

 

Und  ein Ehepartner schafft das nicht . Mehr . In der Regel .

Ist man nur anspruchsvoller geworden , was die Überraschung angeht ? Wäre die Überraschung in den Händen von Anne automatisch , per

definitionem , sowieso keine Überraschung , über die sich zu reden

lohnt ? Nein , Anne ist keine langweilige Frau . Wahrscheinlich ist Verheiratetsein die zuverlässig geschlossene Wohnungstür gegenüber dem Funken  `neu , anders , Überraschung , wirklich ? ´

 

Wenn Anne mich verließe . Oder  im Unfall stirbt . Wie wäre mein Neuanfang ? Ich folge oben den Spuren des Flugzeugs , das den weißen Rumpf und die Flügel schwungvoll , in aller Kühle in 8000 Metern Höhe , in irgendetwas Neues wirft .

 

7

„ Sehen Sie den Pennertreff da vorne , “ sagt Frau Öztunali .

Wenn sie keine Kunden hat , tritt sie schon einmal an das Ladenfenster und schaut auf die Straße , reckt ein wenig den Hals nach links .

„ Man möchte ein Mikrophon dort anbringen , heimlich , und einmal mithören , was da so läuft an Gespräch  . Was reden diese Leute ?“

Die Uhrmacherin kann sich aufregen .  Eine wunde Stelle , die diese Obdachlosen und Alkis und Sozialarbeiter da in ihr berühren ( letztere wie Chamäleons angepasst an ihre Klientel , äußerlich und vom Wortschatz her ; sie kennen die geistige und soziale Landschaft der Platte aus dem Effeff ) .

„ Warum stehen sie da ? Was bringt sie dazu , ihre Zeit so zu verschwenden ?“

„ Das ist eine optische Täuschung ,“ sage ich . „ Sie haben keine Zeit in der Tasche oder auf dem Konto und überlegen nicht : `Was kann ich mit meinen drei Euro fünfzig Zeit kaufen ? reicht es für eine Pommes mit Mayo ?´  Zeit ist bei ihnen nicht eine Währungseinheit , die ich in anderes übersetzen kann : Pommes oder ein Gespräch auf dem Arbeitsamt .“

Mir scheint , ein Stein , eine Scherbe , auch eine Wolke : Haben keine Zeit . Weil `haben ´ irgendwie noch  ein bisschen Aktivität suggeriert ,

ein `um…zu ´ . Diese Obdachlosen  sind ohne `um…zu´ .

„ Ja , ist wohl so ,“ meint Frau Öztunali .

 

Sie sagt :

„ ICH habe hart arbeiten müssen , in meinem Leben . Das sagen natürlich alle , die hier mit zugehaltener Nase am Pennertreff vorbeigehen . Diese Leute : Sind sie nur frustriert ? Unterqualifiziert ? Krank ? Jeder mit seiner Bierflasche , nicht wie eine Fußfessel : Eine Handfessel . Frustriert ? Weil verlassen , weil unterqualifiziert ( `ach  hätte ich damals auf der Schule …´) ; krank : oder wehleidig ? als Kind verwöhnt , verzogen ; Papa Alkoholiker , Mutter keine Zeit : Hier hast du 10 Mark , kauf Dir was .“

Verbarrikadierte Kinder , denkt sie . Unerwachsen : Brauchen Hugs und Zustimmung , schnelle ; Gruppengefühl , Zugehörigkeit , als gäbe es keine Kälte in den unteren Schichten der Hierarchie .

 

Und warum stört sich Öztunali an dieser Gruppe ? Die Uhrmacherin steckt wahrscheinlich voll Neid auf deren schnelle Antworten , ihr schnelles Abwinken ; Überflüsse an Zeit , so dass sie auch noch alles dreimal sagen können . Wut auf das schnelle Zusammenschließen dieser Gruppe  , die sofort Fremdes abwehren können . Einzeln trifft man sie nicht oder einzeln sind sie nicht redebereit .

 

Ötzi hat sich beim Ordnungsamt über die Wildpinkler beschwert , mehrfach ; das Amt hat durch den Telefondraht mit den Schultern gezuckt ; aber neuerdings scheint irgendwo ein Dixieklo in der Nähe zu stehen : Mann pinkelt weniger hier . Einmal ist sie empört stehen geblieben , als ein Mann vom Pinkeln kam und die Hose noch zumachte.

Jemand sagte dann :

„ Gehen Sie weiter ! Hier gibt’s nichts zu sehen !“ wie bei einem Unfall!

Als ob dieser wettergegerbte Mensch sagen wollte : Für uns stimmt das hier , was wir sagen , was wir uns erzählen . Wir brauchen nicht lange was zu erklären . Für uns reichen diese paar Meter hier . Und Penner haben einen tollen Orientierungssinn : Sie finden immer die schönste Stelle im Park  um sich zusammenzurotten und die Perspektive zu verhunzen  .

„ Für uns stimmen diese Geschichten .“

 

Ein Sozialarbeiter sagte ihr einmal :

„ Der stille oder laute Vorwurf : `Warum seid Ihr nicht wie WIR ? ´ Das muss man sich abschminken . Warum einem Stein vorwerfen , dass er nicht spricht ? Der Stein wirft Euch auch nicht vor , dass Ihr kein Stein seid .“

 

 

8

Als ich in den Wagen steige , hat Noah sich schon eingerichtet und das Radio angemacht , vielleicht aus Versehen . Regional-Radio Eins-Live :

Das bringt mich immer zum Stoßseufzer :

„ Welch ein Missverständnis seit den 68ern : Alle hätten was zu sagen UND  sie  hätten es anderen zu sagen !“

 

Wir sitzen zu viert im Auto : Mein Kollege Kretzschmar , den ich zum Straßenverkehrsamt fahren soll , wo er eine Prüfung abnehmen muss ;

Noah und Winky . Winky heißt natürlich nicht so , sondern anders .

Sie ist 17 und sehr schüchtern . Sie soll jetzt zuerst bei Noahs Übungsstrecke mitfahren , und danach selber ihre erste Stunde bei mir absolvieren .

 

Einem Fahrlehrer geht das in Routine über : Hektik vermeiden ,

Ampeln vorherberechnen , lesen ; Probleme wie die Launen von Kindern zu erkennen und im Vorgriff zu umgehen .

„ Wenn Sie sehen , dass  da vorne  grün ist : Vergessen Sie es ! bis wir da sind ,  ist sie solide rot . Beschleunigen ist also für die Katz .

Und wenn wir jetzt hier vor Rot stehen , schauen Sie mal nach den Fußgängerampeln . Ergänzungsuhrzeit sozusagen .Wenn die da vorn auf grün geht , heißt das , wir können in unserer Spur gleich sanft losgleiten , es kann sich nur noch um 5,4,3,2 Sekunden handeln . Los !

Versuchen Sie mal , so eine ausgeglichene Linie zu fahren , ohne Schroffen und Abstürze ; eher sanfte Schwingungen , den Verkehr zu glätten .“

 

Ja, einer meiner Ticks : Ich stehe auf Besänftigen und Handauflegen .

Zum Beispiel . Wirklich verrückt : Ich bügele gerne , verbreite gestreichelte Glätte auf meinen Hemden ; wie eine nachts vom Schnee abgedeckte Landschaft soll das Resultat sein, sanft , glatt , weiß . So stelle ich mir eine gute Gesellschaft vor . Nix sex and drugs and rock´n roll .

 

Oder wenn ich Kopfschmerzen habe , so richtig gezackte , vom Puls  getaktet  : Dann suggeriere ich mir einen in den Horizont hinein-fließenden Strom , der da ganz hinten um die Krümmung geht , sanft weiter , weise .

 

Die Ampel ist rot , obwohl Noah versucht hat , mit letztem Gelb noch drüber zu kommen .

Ich scherze : „ Natürlich ! Glatte Zumutung , dass diese Provinznester , in denen schon lange keiner mehr so richtig frisch durchgeatmet hat , sich auch noch Ampeln leisten ; noch dazu ROTE ! damit man sich hier mal so richtig umsehen kann . Dagegen müsste es ein Gesetz geben , ein Lastenausgleichsgesetz ! In einem bestimmten Typus von Stadt

(  nehmen wir diese hier ) dürfte es nicht auch noch Ampelstop geben!  Die wollen einen hier halten ? Womit habe ich das verdient!“

Meine Kollegen vom Prüfungsteam lächeln und sind gnädig mit Noah .

 

9

Giacomo verlässt eine Boutique , welche in einer tagsüber sehr bevölkerten Einkaufszone liegt  . Er geht links die Straße herunter und ist noch in Gedanken versunken , als da – auf einmal ! es ist wie ein Appell zum Wachwerden .

Da ! Alles da ! Mit Rücken zu ihm , drei Leute breit : Die üppige Begleiterin , ein schwarzer Chihuahua an langer Leine , die je nach Fußgänger-Gegenverkehr  brutal zusammengezerrt wird , – und SIE !

 

Mein Bruder sieht nur anfangs einmal ihr lachendes Gesicht  . Sie ist keine 16 , ihr  Gesicht glänzt ganz unverbraucht  . Sie ist schlank , nein schmal ; hat üppige lange Haare und trägt einen knielangen Rock in Hauchrosafarben . Dem endlich schönen befreienden Maiwetter entsprechend aus leichtem , wehenden Stoff , kaum noch dezent transparent , so dass ihr Slip zu sehen ist , falsch , nicht zu übersehen

ist , kein Tanga , sondern etwas mit Viertelbein :

Eine Königin schlendert , bester Laune , lachend  , als ob sie links und rechts vom Laufsteg  Publikum begrüßt ( wobei sie eigentlich nur mit ihrer  dicklichen Begleiterin spricht ).

 

Giaco fällt nichts ein . Aus dem Beschattungshandbuch für Detektive . Außer einmal die Straßenseite zu wechseln und den Schritt so zu beschleunigen , dass er sie irgendwann von schräg vorne sehen könnte. Wenn nicht – wenn sie nicht statt weiterzugehen , in einen dieser Kosmetikmärkte abgebogen wäre , hinter der Begleiterin her , vor dem Chihuahua , der bisher wacker genug Passanten genervt hat , die nach Willen der Hundebesitzerin eben mal sportlich über die Leine hätten springen sollen : Hat aber keiner gemacht .

Ah , es schlägt doch ein Herz in ihrer Göttinnenbrust : Sie nimmt den Hund auf den Arm und aus dem Gefecht .

 

Soviel sieht Giaco noch  von der Strasse aus , die er halb wieder überquert hat ; aber ihr in diesen Laden zu folgen – unterlässt er , was

er , wie er jetzt schon weiß , noch längere Zeit bereuen wird .

Giaco betritt stattdessen  den Laden der Uhrmacherin und erzählt ihr von dieser Erscheinung .

 

„ Es WAR eine Erscheinung ! So wie früher Menschen Marien-

offenbarungen hatten ! Strahlkraft ! Man kennt so was aus den Werbefilmen  , den Blendungs-, Verblüffungs-, Banner-Effekt . Wie sie spielt mit ihrem Hund , ihrem Körper , ihrem Rock ! Als sagte sie : `Ich weiß wie Ihr tickt , dies ist meine Bühne , ich habe geübt , brauchte aber gar nicht lange . Es mag Standard sein , vielleicht imitiere ich nur Holly-Bollywood , aber : Was Besseres hat eben bisher auch noch niemand gefunden ! ´

Und : Sie ist erst 15…Was wird nicht noch alles passieren ?“

 

10

Durch das geöffnete Fenster kommt kühle erfrischende Morgenluft in das

Büro . Morgens artikulieren sich die Vögel prägnanter als sonst , sind um Verständlichkeit bemüht , und sie hallen wie in einer Kathedrale eingeschlossen .

Und draußen keifen Frau und Mann aufeinander ein . Ja , so muss sie schmecken :  Asche im Mund .

Seit Anne ihre Sabbatjahr-Expeditionen durchführt , ist das Leben zuhause recht langweilig .Wenn es wenigstens regnen würde .

Immerhin : Man hört Sirenengeräusche . Da ! Denen nachhorchen , so lange es geht .

Die `Cythera´ ist auf der Saône-Rhône-Route unterwegs und wird erst in einer Woche wieder zurück sein. Steffika bereitet sich in Strassbourg auf  ihren Törn nach Koblenz vor .

 

Ich wiederum ……

denke derzeit öfters an Aimée . Aber warum  Aimée , wenn ich auch an Iris denken könnte ? Und wenn es Puzzlestücke sind , diese Erlebnisse und Gefühlsheimaten und Nachmittage zum Wiederfindenwollen ? Puzzlestücke , jedes in eigenem Recht ? Jedes einzelne etwas von dem anderen nehmend –oder dem anderen gebend ?

Das ist das Zusammensetzen eines Filmes durch gestückelt aufgenommene Einzelbilder . Jede Frau , die ich liebte …ja was denn ? Jede Frau , die ich liebte , war ein Grund , nicht weiter zu leben , genauer : Nicht ` fort ´ zu leben . Ich bin fortgelaufen von zuhause : Hier meine Variante der Geschichte vom verlorenen Sohn . Wohin zurückkehren , wer wäre der gütige Vater ?

 

Ich gehe solches sinnend über die Hügel in der Ville , führe meinen Gefühlsdackel aus , wie Giaco sagen würde . Das Gras auf den Weiden ist überraschend hoch , maienhaftgrün , zutraulich , mutig , kuschelig , kindlich , frisch und satt . Die reinste Kissenschlacht . Ich begegne Joggern .  Aus früheren Geliebten werden spätere Jogger .

 

11

Unerwartet früh trifft Giacomo besagte Göttin wieder , wobei es das erste Mal ist , dass SIE auch IHN sieht . Sie ist ganz anders gewandet , trägt  eine enge dunkle Jeans und ein tiefblaues T-shirt ; aber Giaco ist ganz

sicher , dass sie es ist , die ihm da entgegen kommt , stöckelnd , wippend . Sie treffen sich in einer ruhigen Nebenstrasse . Sie merkt deutlich , dass er ihr erwartungsvoll entgegen sieht , sieht ihn ein bisschen  frech an , als wolle sie sagen : „Ist was ?“  und gerade , in dem Sekundenbruchteil , in dem sich entscheiden muss , ob er lächelt , sie gar anspricht oder den Blick aus dem Weg nimmt : Just in jenem Moment stolpert sie .

 

Er macht irgendeine Bewegung , als wolle er sie auffangen , was aber nicht nötig ist ; sie hat es trotzdem gemerkt und es hilft ihr aus dem Moment der Peinlichkeit heraus , in dem sie fast  gestolpert um nicht zu sagen gefallen wäre – und schon hat sie sich wieder gefangen und ist an ihm vorbei .

 

Das nächste Mal trifft Giaco sie (  richtig geraten ) im C&A. Sie will sich um eine Schicht bewerben , wie das im  Cafédeutsch heißt , und der  Geschäftsführer fragt nach ihrem Ausweis . Den sie nicht dabei hat . Beim Abgang sieht sie meinen Bruder  und lächelt ihm zu .

 

„ Ich habe die Idee,“ sagte Starbacks gestern. „ Wenn Sie nochmal in dieser Gegend da sind , wo Sie die Dame gesehen haben , haben Sie ein paar Knochen vom Fleischer dabei , und sagen : Hier , das ist für Ihren Chihuahua . Gut , nicht ? Welche Frau und Hundemutter könnte da widerstehen ?“

 

12

Ich lasse Noah bei seinem Trainingsprogramm durch ein Innenstadtviertel fahren , mit vielen engen Strassen , in denen es

wimmelt  zwischen den Bürgersteigen ; und die  Radfahrer machen die Situation nicht einfacher  . Gutes Geduldstraining für den Fahrschüler ;

geduld ist sowieso eine unterschätzte Ressource .

Dann kommt eine breitere Straße , die aber unbelebt ist , in grauer Mietshäuser-Eintönigkeit  . Fassaden mit  bröckelndem Putz undoder Graffitti lassen einen sofort vergessen , dass um die Ecke herum eben noch pralles Quartierleben stattfand : Dieser Planet hier gehört den Blaumiesen und ist ansonsten sowohl unbewohnt als auch

unbewohnbar . Vor uns eine einsame Mülltonne ; da ein Paketlieferwagen in der zweiten Reihe geparkt ; Bauzaun vor immer noch nicht  angefangener Baustelle . Litfasssäule ; Kinderwagen-trümmer ; Abfallcontainer in den handels-üblichen Batterie-

Arrangements .

Wenn ich einen allerschlimmsten Feind hätte , würde ich ihm so einen Dreierbehälter vor die Tür stellen . Zugegeben , es sind eher die Menschen mit Migrations-Hintergrund (sic ) ,die ihren Frieden nicht  machen können mit den jeweiligen Zweckbestimmungen `Papier versus  Glas (braungrünweiß) ´ , und bei gebrauchten Kinderwindeln können sich manche halt nicht entscheiden : Deponieren besagte Wertstoffe irgendwo davor, dazwischen , dahinter , darauf.

In diesem Abschnitt der Straße haben die Bewohner hoffnungsgeleitet Sperrmüll zum Abtransport auf den Bürgersteig verfügt . Mein Auge fällt im Vorüberfahren ausgerechnet auf einen , wie mir scheint :

 

guterhaltenen !

 

Kratzbaum für ein Katzenvieh . Ist er wirklich kaum genutzt : Welches Schicksal steckt dahinter ? Eine verwöhnte Katze , die doch lieber am Mahagonie-Tisch kratzt ? Oder eine frühzeitig verstorbene Mitinhaberin

einer vermutlich vor wie nach Tod des Katers gleichermaßen trostlosen

Mietwohnung ?

 

In dieser Straße gibt es nur einen Kiosk und nur einen Laden , und letzterer ist ein Reisebüro . Ich habe hier ( wir fahren hier immer her , zum Training von rechts vor links ) noch nie einen Menschen gesehen , der das Büro betreten hätte : Ein altes Ladenlokal mit so wenig Fensterfläche wie möglich , und eigentlich hätte man das Büro gleich in den Keller oder in den Hinterhof verlagern können .

Noah hält gerade und ich schaue in den Laden hinein . Da sitzt tatsächlich jemand hinter dem Computer , aber Kundschaft ist nicht zu sehen . Folgende Thesen unterbreite ich zur Bewertung :

 

–  in diesem Viertel will keiner verreisen

– der Besitzer will nicht , dass hier jemand verreist

– der Besitzer betreibt eine Geldwaschanlage , und es ist ihm egal , dass

alle denkbaren Kunden lieber  einmal um die Ecke biegen und

dort in einem `Fit for Fun ´ buchen ( wie moderne Travel Agencies

sonst zu heißen haben) .

 

Ich frage Noah , ob ER schon viel von der Welt gesehen hat  , oder welche Reise er machen möchte , sobald er Führerschein und Auto hat  .

Wohin er zum Beispiel mit Norah fahren würde , wenn er könnte .

Nach einer sechs im Lotto .

Schulterzucken .

Unser Weg führt uns dann vorbei an den Ladenhütern vom Gebraucht-wagenmarkt . Ich finde einige der Autos schön und attraktiv , dabei preiswert  . Zumindest habe ich spontan reagiert : Mit diesem Mini Sport würde ich gerne/sofort/wieder die Küstenstraße in der Normandie entlangkurven , Fenster runter , ihre Haare  und Halstuch flattern im Wind ,  Sonnenbrille über breitem Lippenstiftlächeln : Wie heißt der nächste Küstenort ? Was sagt die Karte ?

Aber mit diesem Auto will offensichtlich keiner SEINE Träume wahr machen , schon seit Monaten nicht . Nicht mit diesem Wagen . Dabei ist Frühling .

Das große Warten , in und über dieser Stadt , in einem Talkessel voller Ausharren . Das Bild ist natürlich schief , da es hier einen Fluss gibt , der aus dem Bild raus kann . Üppiges Warten , ehrwürdiges , fürsorgliches in Hab-Acht-Stellung , die immer schon vor Dir da ist . Patinawarten .

Es ist genug Warten für alle da . Es gibt auch warteleere Landschaften , aber dazu gehört diese Stadt nicht .

 

13

Der Mai wird jetzt aber immer schöner und ist dann Juni , und  Anne ist auf einen Zwischenstopp wieder zuhause .

Wir essen , gehen ins Theater , übernachten in meiner Stadtwohnung .

Man kuschelt , und morgens nehmen wir uns Zeit . Beim Aufwachen sind

die Giebeldächer um uns herum wie die Mützen der treuen sieben Zwerge ; die Federbetten sind  flauschig und weich und weit um uns herum wie gerade zu Boden gegangene Fallschirme , aus denen man sich  freiheddern könnte , aber nicht muss.

Giacomo ist ebenfalls frisch gelandet  und die `Cythera´ wird repariert  .

Beim gemeinsamen Frühstück fragt Anne meinen Bruder  piquant , wer denn zur Zeit gerade die Angesagt sei . Giaco behauptet , dies auch nicht so ganz genau zu wissen , aber da sei  eine Dame , ( ja , wir kennten sie auch , nein , er wolle ihren Namen nicht preisgeben ,) bei der er sich  frage , ob er um sie bereits werbe oder dies demnächst tun solle .

Nein , es sei nicht die Skifahrerin . Woraufhin Anne stichelt , DIE Dame wäre doch längerfristig passend zum Stil : Giacomos ganzes Leben sei doch eine Slalomfahrt , so um diverse Frauen herum .

Und die Schussfahrt ? Man rauscht in die Bandenwerbung ? fragt  mein Bruder zurück .

Der Name Steffika fällt in Annes Anwesenheit nicht , obwohl ich einmal Malevitch auf den Fuß trete , als er die `Kroatin neulich ´ erwähnt .

 

Es ist wirklich warm heute . Katzen liegen benommen auf den Mauern im Trümmerhinterhof . Frauen zeigen weiße T-Shirts und darin und deswegen Marmorbusen !  Vermutlich : Fest ; wahrscheinlich : Kühl ( so wird es erzählt ). Ihre Brüste  sind sichtbar wie Schweizer Majestäts-Gipfel ( liegt an den weißen T-shirts ) , mit Schatten im Weiß , Schnee-

mulden unter Wächten  .

Diese Frau hier , die da links , trägt einen Rock , und ihre Beine setzt sie wie auf unsicheres Terrain . Jene dort wiederum hat eine leichte Seidenbluse an ; der Wind greift darein , lässt Finger spielen auf einer Klaviatur , es hüpft sich  auf der Haut .

 

Wir erinnern uns, wie es im letzten Jahr war ; tun so , als hätten wir nicht in der Zwischenzeit alle Hoffnung schon aufgegeben auf diese spezifisch pazifisch paradiesischen Nachmittage und Abende , im Straßencafé .

Als hätten alle Leute , erst recht alle Passanten , wie aber erst WIR ! auf dem Siegertreppchen Platz genommen , dabei ist es nur ein Café-haustischchen im Halbschatten . Ganz Menschen von Welt tun wir gleich so , als sei die Sonne doch eine schwere Herausforderung, nein , es sollte schon etwas im Schatten sein , diese Hitze , nicht wahr .

 

16

„ Sie sind eher der schweigsame Typ , wie ?“  fragt Noah .

„ Nein nein , überhaupt nicht ,“ sage ich und verfalle ins Schweigen .

Noah seufzt  . Er weiß , dahinten wird wieder rechts abzubiegen sein

und Hammelrath  wird genau darauf achten , dass er nach geradeaus weiterfahrenden Fahrradfahrern ausschaut .

 

Sibirische Weiten der Kindheit !

Ich frage Noah , ob seine Mutter ihm oft Bilder und Videoaufnahmen seiner Kindheit gezeigt habe , mit dem Hintergedanken , dass sie vielleicht auch noch Bilder aus der Zeit unserer Liebschaft aufbewahrt . Irgendwann hat sie damals in einem der letzten Streits mit mir alle Bilder ( auf Papierabzug natürlich ! ) aus England zerrissen , mir ins Gesicht geworfen . Noah interessieren angeblich Bilder seiner Mutter nicht .

 

Egal wie detailgenau Kindheitsstadien belegt werden : `Guck mal , im Sandkasten , wie niedlich ! ´- den Heranwachsenden oder Erwachsenen betreffen diese Bilder kaum , was Eltern wiederum nicht verstehen ; Kindheitsbilder sind ausschließlich für die Erwachsenen gemacht . Kinder fühlen , sie kommen aus einem weiten leeren Raum , vom Rand des Sonnensystems her ( ja, vom Klapperstorch , vom Zufall  )  ; vom One-Night-Stand .

Und wie weit ist Noah schon weg ! Er ist entführt , weiß nichts über sein Herkommen , ist sich ein Mysterium .  Noch triumphiert in ihm der freiheitssuchende Jüngling ; Erinnerung  ist nichts , das er mit wem teilen wollte ; andere haben da keine Verfügungsgewalt über ihn anzustreben . Alles Vergangene , sagt er jetzt  – und wird es später so nicht mehr sagen – ist ein kühler nasser leerer Sonntagmorgen mit seinen frischen Gerüchen , ein guter Startplatz .

 

Erinnerung ist nichts , was er mit wem teilen wollte – außer seine Laborversuche mit Norah : Was hat er wann wie gesagt , hätte es besser sagen sollen ; die Worte kommen einem erst hinterher , wie ein höhnisches Echo . Norah ist schon weit weg ; und er ist jetzthier der Gefangene seiner kommunikativen Fehlschläge. Wie schwer der Ballast eines nicht gelungenen Wortes !

 

17

„ Los , ein statement !“ fordert Starbacks .

Kastanienbäume  !, sagt Malevitch . Sie vergrößern jeden Wind ; sie sind immer am Meer .

Eine Art Lampenlächeln verbreitet sich  morgens ganz langsam  , und dann liegt der Fluss in Bernsteinglasur . Lagune Oh Meer wie Du uns die Karaokesegel füllst , Seelenspender ! ( ist ein neues Lied von Malev. Lila hat die Kurzform des Namens eingeführt .)

„ Spiel das schroffer , schwärzer , schartiger , La Mancha -mäßig. Ein

Geigenwirbel , wenn Du schon keinen Gitarrenwirbel hinkriegst , Du Versager ! kahl , frierend , ein Hundekläffen übers Land , “ bedeutet der Musiker seinem Geigerfreund .

Wir fahren unter Land daher , der Fluss rauscht durch Papyrussümpfe . Nein , wir sind nicht am Nil , und es gibt nur zentraleuropäische Schilfgürtel  ; Wellen , Schaumkronen : Weiß als wenn wer Zähne

zeigte . Es wird hundstageheiß , die Molensteine haben was von Backofenziegeln .

Sich fügen , am Fluss liegen , sich abgeben beim ewigen Fliessen .

Im Märchen von der Flaschenpost wird alles gut .

 

18

Erzählte ich schon ? Ich bin Vorsitzender , Kassenwart und alleiniges Mitglied der Initiative `Für die Wiedereinführung der Zifferblatt-Ampel ´.

Ich weiß von alten Fotos , dass in den  frühen Jahren der Republik

Ampeln nicht einfach der Drei- Farben Lehre folgten , sondern  durch einen wandernden Zeiger verdeutlichten , wie viel Zeit man noch für

Grün hatte . Der Zeiger sprach , oder soll ich sagen : Hatte eine andere Sprache als : Rot!Gelb!Grün! diese scharfkantigen Wechsel , die Tabula Rasa machen , kein Gedächtnis haben : Grün ? War hier je Grün ? Was meinen Sie mit ` Grün´ ? .

 

„Wichser !“

 

Gemeint ist ein Cabriolet , das uns gerade die Vorfahrt genommen hat . Und Noah hat gut reagiert ; auch verbal angemessen .

Ich erzähle Noah bei dieser Gelegenheit  , dass Masturbation vor einigen Jahrzehnten noch als sündig undoder ungesund verpönt war . Er weiß das aus seinem Sexualkundeunterricht  und hat mit diesen Auffassungen schon lange abgeschlossen . Sagt er zumindest . Was interessieren ihn die Irrtümer der Ahnen ! Er sagt sinngemäß :

„ Wenn ich mich auf Ihrem Schiff so umschaue bzw. umhöre : Muss Sex unbedingt Arbeit sein ? Oder solche Arbeit ? Manchmal , wenn ich auf einem Pornokanal lande , denke ich , hier ist die Originalübertragung von einem Holzfällerwettbewerb in Saskatchewan : Stöhnen , Schweiß-ausbrüche , Hin-und Herwuchten von Heavy-Weights  .“

 

Ich kann ihm nur zustimmen . Und denke : In der Tat , da ist das sanfte Ausströmen unter der Decke schöner , oder das Ausgleitenlassen eines Schlittens an einem Schneehang . Oder , was noch schöner ist , erotisch und unerhört : Wenn man sich einen Blick zugeworfen hat  , oder wenn einen die plötzlich Richtige für eine Sekunde so angesehen hat , dass man weiß , der Blick war akribischer Treffer . Ein hochprozentiger Schmetterling auf Zufallstrip .

Die zwei da zum Beispiel , im Auto neben uns : Sie am Steuer , er mit Gesprächsangebot , sie lächelnd . Verliebte Verliebte ( frisch… ) : Das Lächeln hat ein Lasso um sie geworfen . Wir gewärtigen den synchronen Aufgang zweier Sonnen .

 

19

Starbacks trinkt morgens auf dem Weg zum Fluss einen Kaffee bei einem Ketten- Bäcker . Auf die Schnelle drängelt sich ein anderer an die Bar und bestellt sich auch was Warmes .

„ Sind Sie nicht der Fotograf von gestern , an der Rathausrampe ?“

„ Ja , da war ich ,“ ist die Antwort . Der Angesprochene kramt in seiner Brusttasche .

„ Hier meine Karte ; vielleicht heiraten Sie ja auch noch mal ? Kleiner Scherz . Oder Ihr Enkel ?“

Starbacks dreht die Visitenkarte . Alfonso Ratzy.

Auf der Karte eine Graphik : Fotograf hinter Stativ , verhüllt unter einer Abdeckplane , so wie vor hundert Jahren fotografiert wurde . Das Stativ und die Tätigkeit des Fotografierens könnten nicht auffälliger sein ; Gesicht und Persönlichkeit des Bildermachers sind incognito .

 

Nachmittags wird der Käptn Herrn Ratzy auch auf dem Kai sehen , gerade als einige der Gäste über die Gangway an Land trippeln . Herr Ratzy macht wieder Bilder von einem Hochzeitspaar , einem sehr jungen Paar , findet Starbacks . Scheint hier Ratzys Hauptszenario zu sein . Aufbruch am Rheinufer , voll angesagt . Symbolik kaum nicht zu verstehen .

 

 

IX Mehr über Hammelrath und Aimée

 

1

Ich bin wieder an Land / zuhause / im Alltag und dosiert konfrontiert mit Morgen-Impressionen : Schaue aus dem Schlafzimmer zur idyllischen Gartenseite heraus . Dort übt eine anonymer Saxophonist ( `Muh!´) ;

hier sehe ich hinaus auf die Straße , Home of the Presslufthammer . Gerade fährt ein Riesensattelschlepper vorbei mit der Aufschrift :  „Produkte für alle möglichen Anwendungen“ . Soso .

Humorlos kalter Wind von den Eisheiligen  signalisiert den Menschen , was sie vom Leben zu erwarten haben : Schnell emsig werden , Du dahin , ich dahin , schnell weg von erstmal hier .

Ah , ein freundlicher Gruß von einem ehemaligen Kunden . Gut so !

Jeden Tag aufs neue  findet man sich in dieses mentale  Training geworfen : Das war mal Glück im Unglück . Oder , genauso giftig tröstlich : Wir jammern auf hohem Niveau . Wir schauen in Spiegel , die erschöpft sind , ermattet , erblindet , überfordert . Streiken . Resignieren . Genervt sind :

„ Zeig uns was anderes , Du Versager . Lass Dir was einfallen . Oder stell uns wenigstens in eine andere Ecke .“

Ich rede natürlich von unseren Schlafzimmerspiegeln .

 

Anne Hammelrath , meine Ehefrau , ist wieder in Vancouver  und telefoniert anscheinend eher widerwillig nach Hause . Nein , sie erlebe ja auch gar nichts besonderes , was mitteilenswert wäre . Neinnein. Alles sei okay . Ja mal sehen , wo die Reise jetzt demnächst hingeht .

Zähes Telefonat also , in der Tradition ihrer Morgenmuffeligkeit . Ach ja , es ist ja erst Morgen in Vancouver .

Ich , Hammelrath , merke , wie sich in mir eine Falle aufstellt , hochwindet , sozusagen schon mal Käsehäppchen als Appetitanreiz positioniert ; die Feder spannt sich …..Ich bin gaaaanz lieb zu ihr , beschließe , wenn sie nach Hause kommt , noch lieber zu sein . ICH kann mir keine Vorwürfe machen , werde ich den Freunden und Bekannten sagen ; ICH war liebenswürdig , solidarisch , treu ( im Wesentlichen  ) ; an MIR hat es nicht gelegen .

Ich beschließe , Anne ein Auto zu kaufen , ein kleines Cabriolet , von dem sie länger schon geschwärmt hat , und stöbere in Hotelangeboten für die Wochen nach ihrer Rückkehr . An MIR soll es  nicht liegen .

 

Zum Thema Spiegel fällt mir da noch ein , woran ich ewig nicht mehr gedacht habe :

Seinerzeit mit Aimée (ach ja!) in einem Konzert . Zu Ehren ihres Abiturfestes . Daraus wurde ein Bildungsereignis im Stadttheater ,

entsprechend der Reputation ihres Gymnasiums . Gut besucht ;  Männer wie Frauen alle in Schale  . Ein künftiger junger  Stern am Pianistenhimmel , aus Aimées jahtgangsstufe , spielte Debussy . Das marmorweiße Foyer hatte sich schon geleert , als wir verspätet an-kamen ; verspätet waren wir – richtig – wegen Aimée . Genauergesagt : Ihren Eltern , den Diskussionen über `was ist das eigentlich für ein Mensch , dieser Fahrlehrer ? Sollen wir da wirklich hingehen ?´ etc .

Weiße Fußbodenplatten in prächtiger Steinmaserung erwarteten uns hinter den Schwingtüren . Marmor ist der geborene Partner der großen Spiegel in diesem Vorraum  ; eine Bühne vor der Bühne , auf der sich alle Besucher mehrfach wahrgenommen und optisch verwertet  fühlen dürfen . Ein besonderer Moment ist das , unter den Kronleuchtern : Flanierend , in Gruppen , wenn man den Blick leicht und gruppen-unabhängig spielen lassen soll um zu sehen , wer denn sonst noch da

ist  : Ist SIE , ist ER womöglich auch da , wieder da , wieder mit wem anderen da  . Alle in eleganter Garderobe ; Frauen in schwarz meistens.

Hier geht es sexier zu als in einem Bordell , dachte ich ( mutmaßend ! da ich  Bordelle nur aus dem Autorenkino kannte ).

Wir hatten last minute doch noch zwei nebeneinander gelegene Plätze bekommen , Reihe 7 Plätze 46 und 47 . Ich weiß es noch ganz genau , ach wüsste ich es nicht mehr !

In einer Pianissimo- Passage des Prélude No 6 werden meine Hände

auf einmal kalt . Mein Oberkörper versucht , kleiner zu werden , ein Panikzustand  sagt mir : Es ist eng hier , Du musst gegenhalten , alle rücken Dir zu nahe  . Alles ist versteinert . Wir sind wie die einzelnen Steine in einem Straßenpflaster , und eine vibrierende Erschütterung sendet Stoßwellen aus , ein Zittern  ;  nur ich spüre es , unter freiem Debussy-Himmel können alle Sonstigen hier frei atmen und die Wolken

begehren .

Ich aber bin Seismologe  : Steine wollen sich aus ihren Verfugungen freizittern ; die Buchstaben aus ihren Setzkästen herausfallen ; ich muss hier raus , als ob ich mich aus dem Griff eines riesigen Ringers befreien will , freiwinden , pressen , quetschen, kratzen , kämpfen .

Aimée merkt nichts , oder nur wenig . Sie sieht einmal herüber ,

drückt meine Hand aus irgendeinem Grund ; spürt dann wohl , dass ich mich ein bisschen kalt anfühle ( oder ist sie glühend ? ) ; sie guckt etwas aufmerksamer in meine Augen : Ist was ?

 

Das war das erste Mal , dass ich so deutlich unter einem Klaustrophobie -anfall litt  . Es ist eine bis heute unverstandene Überraschung . Aimée pflegt später noch zu meinen : Nun stell Dich nicht so an , bloß weil wir ins Kino gehen ! Alle anderen fühlen sich nicht so , lass Dich doch unterhalten und antörnen von dem , was da auf der Leinwand passiert , ablenken .

Mein Psychiater meinte : Atemübungen : Hauptsache lange ausatmen , das haben Sie doch unter Kontrolle , einatmen – gaaaaaanz lange AUSatmen ! Heute bin ich erfahren damit  . Damals war eine Hölle aufgemacht . Je öfters ich nicht an diese Sonderbegabung glauben wollte und mich in ein Konzert , ein Kino , einen Vortrag , ein Flugzeug zwang , desto hartnäckiger und intensiver tauchte der Zustand auf .

Und Fahrstühle ! Unten öffnen sich die Türen noch einladend , die Kabine wirkt vielleicht großzügig , aber je höher der Fahrstuhl fährt , desto kleiner wird der Raum  .

Trotzdem:  Im Konzert ist und bleibt es am schlimmsten . Wer hier auffällt , sagen wir durch Husten , schlimmstenfalls Sich-Übergeben , Ohnmacht , ist auf einem Tablett , einer Bühne zum freien Begaffen frei gegeben : Alle beugen sich über mich , suchen und finden  die schwachen Stellen .

Wer  ` ich ´sagt – vor so einer starr ausgerichteten Zuschauerschaft – ist sofort Zielscheibe .

Daher meine Leidenschaft für den abstiegsbedrohten FC Köln : Im Stadion , wo die Leute auch eng aufeinander hocken , darf sich jeder frei bewegen , zappeln , schreien , auffahren , brüllen , mit Fäusten drohen ; aber in diesen anderen Situationen ….

 

Berufsbedingt , nein :  `Natürlich ´ fühle ich mich im Auto ganz für mich , geborgen , unantastbar ; für meine Fahrschüler kann ich Entspannendes tun , bemühe mich jedenfalls ; aber : Wenn ich , berufsbedingt , in einen Stau gerate , am schlimmsten auf einer Autobahnbrücke , in Baustelle oder Tunnel , bin ich wieder im gleichen Konzert : Alles guckt nach

vorne , konzentriert ingrimmig über dem Steuerrad , Stop and go , wehe wer jetzt den Motor abwürgt , Motorschaden hat oder gleich einen

Herzinfarkt !

 

2

Ich sitze im Straßencafé gegenüber vom Rathausbalkon . Der  Regel gehorchend , jeden Freitagmorgen ; sonst , weil ich Anne abhole vom Power-Plate-Training . Jetzt einfach so .

Jeden Freitag gibts hier neue Brautpaare am Standesamt ; Reis ,

da ist auch der unvermeidliche Fotograf , verschiedene Generationen von gerührten oder peinlich berührten , linkisch ihren Termin wahr-nehmenden Arbeitskollegen/innen , best friends , Familienbruchteile à la Patchwork .

Wer heiratet heute ? füllt die Photos ? Wen wird man womöglich nach soundsoviel Jahren ganz überraschend sichten auf dieser Bühne , die die Welt , mindestens für einige Monate , verändert ?

 

Im Vorsommerwetter vor dem Amt laufen alle Menschen mit reduzierter Takelage , sommerleicht bekleidet herum . Entsprechend müsset man diejenigen , die man kennt oder kannte , eigentlich leichter und sofort identifizieren können .

Die Leute , die gar nicht auf die Idee kommen , DU könntest hier  herumsitzen : Die sind bekanntlich doof und überrumpelt . Und du , ihr Erspäher , bist eben der Überlegene . Mit der Überlegenheit dessen , der zuerst sieht ; sozusagen zuerst schießt ( im wilden Westen ).

Diejenigen , die Dich gefunden und identifiziert haben , sind die Klugen und Charaktervollen .

 

Aimée . Ist als Trauzeugin und beste Freundin in diesem Pulk .Und sie ist wirklich hässlich geworden . Hammelrath , müsste sie einfach feststellen , wenn sie ehrlich hingeguckt hat , mit den Jahren eher attraktiver . Sie empfindet das als ungerecht und …macht mir Vorwürfe .

 

Aber eigentlich winken wir uns nur zu . Weswegen es nicht  zu folgendem Dialog kommt :

„ Lass mich doch in Ruhe . Da gibts nichts Nostalgie-selig rumzubasteln oder wiederanzuknüpfen . Die Stadt ist groß genug für uns beide , und mehr Wiedersehen muss nicht sein .“

Worauf ich antworte : „ Hiermit schenke ich Dir 2o Jahre ! In Afrika sind das zwei Generationen ! Ja , ich schäme mich , aber …wofür ? Weniger für irgendwas damals . Eher dafür , ohne DICH so alt geworden zu sein . Als wärest DU gar nicht nötig gewesen .

Du willst mir einen Vorwurf machen , weil ich Dich damals verlassen habe ? Aber aber ! Das sind doch heute gar nicht mehr wir  . Wir

Heutige , das sind die , die ein Geschenk kriegen : Erinnerung ! Wir sind schon 40 oder älter und haben  diese Jahre vielfältig für andere segensbringend genutzt .“

 

3

Der Fotograf ist derweil dabei der Privilegierte .  Der Entführungs-beauftragte .Wo sind Braut und Bräutigam geblieben ? Keine Ahnung ; eben waren sie noch an der Garderobe .

Herr Ratzy hat sie entführt . In den Garten , der in fröhlich vorfühlender Aprilblüte steht ( „Was für eine schöne Zeit , sich das Ja-Wort zu geben“ , sagt Herr Ratzy immer ) . Bitte die Braut noch einmal hierher zum Brunnen ; bitte melancholisch in den Brunnen schauen . Der Frosch kommt ja gleich , haha . Und jetzt bitte der Bräutigam . Ja , nehmen Sie doch einfach mal den Fußball da . Sie sind der Flankengeber für Ihre Zukünftige . Haben wir keine Kinder hier , die Blumen streuen könnten ? Die sind noch im Restaurant ?

 

Herr Ratzy arrangiert . Er ist der Öffentlichkeitslieferant für schöne Bilder vom schönsten Tag , dessen Bilder noch lange  auf dem Sideboard stehen , vielleicht eher dem der Brauteltern . Der Bräutigam hat keine Eltern mehr ? Diesen Tag hätten sie doch gerne noch usw. Schade .

 

Heutzutage macht bekanntlich jeder irgendwie Fotos . Und Filme . Aber meine Bilder sind Handwerkskunst . In meinem Atelier feile ich noch wirklich lange an Farben , Schatten , Winkeln etc . Richtig gutes altes Handwerksmetier , sagt Herr Ratzy .

Und , ach ja :

Auf einem Fluss hat meines Wissens nach noch niemand Platzangst gehabt . Die Ufer sind ein Geburtskanal : Ins Freie . Ich mache auch sehr gerne sehr gute Hochzeitsphotos am Rheinufer ,vor dem Dampferanleger . Wenn Ihr wüsstet , denkt Herr Ratzy . Hier meine Karte  .

 

4

Auf einem vorbeifahrenden holländischen Schiff bespritzten sich Kinder mit Wasserpistolen. Es gibt nichts Falsches im Richtigen .

 

Un-romantisch formuliert , könnte man sagen  : Ich habe Verdauungs-Störungen : Irgendwas wehrt sich gegen das restlose Verdauen und Ein-für-Allemal-Abtun von Erlebtem .

Schöne Momente mit Aimée, Geli , Iris , Erika , …waren nur möglich , weil ich mich irgendwann von diesen Frauen – der Reihe nach – getrennt  habe . Sagt man sich so , muss man ja mal sagen ; hilft aber nichts . Vielleicht bin ich einfach einsam .

Einsam ist man , wenn einen gerade keiner daran hindert , zu merken , dass man allein gelebt hat , zumindest dieses Leben .

 

Vielleicht hätte es so etwas wie eine Zeremonie geben müssen : So , jetzt gehen wir auseinander ; vielleicht allabendlich vor dem

Zubettgehen : Jetzt ist es vorbei , und morgen brauchen wir nicht traurig zu sein .

Oder ich sage mir gleich : Anders leben hätte ich müssen . Wobei mir zwei Alternativen einfallen  :

  1. a) Ortsgebunden, monogam , familienzentriert .

 

Natürlich mag ich irgendwie keine Kinder. Damals , in grauer Vorzeit , war ich oft allein . Heute machen sie den Erwachsenen einsam : Wenn ich auf Kinder aufpassen muss , bin ich allein mit meinem Verstand , meinen Plänen gegen ihre Ansprüche . Um Kinder herum organisiert sich Ganzheit , Familie ; ich bin lieber/leider/ehrlicherweise/bis auf weiteres / ohne Solidarkreis .

 

b ) Oder besten Gewissens promiskuös , ohne Kateraufzucht. In dankbarer Verwendung der Abriss-Perforation . Dem geneigten Leser fällt der Kalauer über den Alkoholiker ein , der mit dem  Alkohol-

problem ?  und dem geschlossenen  Schnapsladen . Leben wie mein Bruder .

 

„ Weißt Du noch ?“

Diese Frage hat unverdienterweise eine schlechte Presse . Die Melancholie , das Hinter-Vergangenem –hersinnieren , Rekonstruieren etc , verdankt sich dem Wunsch – nehmen wir es sportlich ! – den Dingen eine zweite Chance zu geben :

` Heute wäre man schlauer  !´

Die Zeit vergeht irgendwie stupide naturgemäß , wie die Kuh frisst .

Aber WIR könnten sagen : Halt , das machen wir noch mal  :

 

 

Klappe die dritte .

 

Wir könnten verzeihen und erlösen .

 

5

Frühmorgens aufwachende Stadt ; alles räkelt sich , die Marionetten entwirren ihre Drähte ; gestatten , ich  suche nach Orientierung . Die meisten Leute auf der Strasse monologisieren vor sich her .

Es ist mittlerweile Hochsommer , die Menschen sind leicht bekleidet ; der Busen der Frauen hopst , als nähmen muntere Läuferinnen Hürden in den Tag hinein. Eine wache Dreijährige an der Hand ihres schläfrigen Vaters stellt schon Fragen . Aufwachen und Hochfahren der Systeme ; Ampelschaltungen als Uhrwerk verstehen :

 

 

Wenn……

DIE Fußgängerampel da drüben links auf grün springt……

 

sagtdieAmpelvormirhierinachtSekundenebenfalls

`go ´.

 

Ich bin verabredet mit Giaco, der gerade ein Angebot bekommen hat ,

an Bord ein besonderes `Come-Together ´ auszutragen . Giacomo tut , als habe er nicht recht gehört . Er  lehnt den Vorschlag äußerst kurz ab , in so wenig Silben wie möglich .

Das Unverständnis am anderen Ende der Leitung für diese betriebs- wirtschaftliche Einbuße lässt ihn dann doch ausführlicher werden .

„ Das ist das wirklich perfideste an Heuchelei , das mir je unterkam ,“ tobt er .

„ Sie sind Rechtsanwalt , nicht wahr , Herr Gisbertz ? Spezialgebiet

und heutzutage der ganz schnelle Euro , Hauptauftragssektor : Scheidungsverfahren . Sie feiern da etwas für Ihren jungen Kollegen , was Sie später als Geldeinnahmequelle nutzen . Finden Sie das nicht erklärungsbedürftig ? “

Und er drückt mit Schwung den Anrufer weg.

 

Sie , liebes Lesepublikum , finden Junggesellenabschiede genau wie ich ganz ganz toll ? Bevor man künftig zuchtvoll , treu , berechenbar , belastbar Ehefreud- und – leid  teilt , noch einmal alles , aber wirklich alles an Widerlichkeiten lüften , was man bisher auf dem Kerbholz hat UND was man sich leider noch nicht bisher geleistet hat – womöglich ist es ja morgen für immer zu spät ?

Ernst der Lage ! also jetzt aber ! Und die Kumpels erinnern einen , falls man womöglich irgendeine Geschmacklosigkeit , Gemeinheit , plumpe Provokation einfach momentan nicht auf dem Schirm hat :

„ Eh , Du hast noch gar nicht in den Aschenbecher gekackt !“ –

kurzum , heute , an diesem Ehrentag , ist man um Vollständigkeit bemüht . Die eigene Klicke ist das Maß der Dinge , die Leute da  draußen sind nur  Spielverderber , humorlos , kurzum : Wichser , wahrscheinlich schwul , und die Polizei – die rekrutiert auch nur noch Wichtigtuer . Genau .

 

Und deswegen stellen wir uns jetzt erst schon mal an der Reling von unserem kleinen Hafenbesichtigungsdampfer auf und pinkeln alle in das Wasser , genau hier , damit die da drüben auf der `Cythera´   mal so richtig  was zu sehen kriegen . Oder noch besser : Rudelwichsen . Geht nicht mehr so einfach ? Geht ja nun wirklich nicht ? Och . He Mann , Du torkelst aber ganz schön . Na ja , wie heißt es bei Goethe : Alkohol kitzelt das Verlangen , aber erschwert  die Verhärtung , erhärtet die Verschwerung , oder so ähnlich . Sag ich ja .

 

Bei dieser Gelegenheit übrigens fallen zwei aus der Gang  ins Hafenbecken . Und Starbacks ist Zeuge von drüben . Er lässt sich nicht aus der Ruhe bringen und unternimmt

 

 

NICHTS

 

 

( nichts ). Zwei Matrosen von einem Nachbardampfer retten ( wie Starbacks sagt : Unerlaubterweise !) die Besoffenen .

Während die Abschiedfeiernden später vor der Polizei keine einheitliche Aussage hinkriegen , die Starbacks belasten könnte , halten die zwei Retter  ihrerseits zum `Cythera´ – Käptn und sagen , SIE ? sie hätten nichts gesehen , also nichts zu sagen .

 

Ein Treffen mit Starbacks ist im Regelfall eine Sternstunde abend-ländischer Weisheit   ; der Kapitän sagt jetzt etwa anlässlich – nein , nicht eines Junggesellenabschieds – der Geburtstagsglückwünsche zu seinem 64. :

„ Vierundsechzig ? Gute Güte !.….aber den Rest schaffen wir auch

noch .“  So , optimistischerweise , Käptn Starbacks .

 

6

Abenddämmerung verdichtet sich langsam im Garten . Ich sehe aber noch , wie pickelig die Baumrinde ist , die Stämme wie Masernstreusel .

Und eine Taube , die ihr Umfeld von oben betrachtet .

Sitzen sie nicht normalerweise zu zweit ? Ist dem Kompagnon etwas geschehen ? Hat man sich verlassen ? Oder hat es nur gekracht ?

Wort- und regungslos gibt das Tier dem Betrachter keine Antwort auf diese lastenden Fragen . Komm , sag noch etwas , bevor es dunkel wird und kalt um Dich rum .

Ach ja . Mein Bruder sagt über mich : „ Himmelgeist ist irgendwann in ein riesiges Kaugummi getreten . Jeden Schritt voran muss er gegen Widerstand  gegen sich selbst durchsetzen . Er lebt mehr in seiner Vergangenheit als in der Gegenwart .“

Oder :

„ Eigentlich denkt man : Jede Sekunde macht einen um eine Erfahrung reicher . Aber Hammelrath hat Angst , seine Schätze könnten durch ein Loch in seinen Beinkleidern verschwinden . Daher seine komischen Tänze um die durchlöcherte Hosentasche .“

 

7

Schlupkothen ist in mitteilsamer Laune , bemüht sich aber um gedämpftes Sprechen .

„ Auf meine alten Tage ,“ sagt er , „einen Traum möchte man sich ja doch noch erfüllen . Einmal eine von diesen Werbesprecherinnen im Bett haben .  Sie wissen schon , die mit dem kreischenden Geflöte um die Sonderangebote ; oder mit dem mütterlich besorgten Timbre ` Ist dieses Kinderspielzeug auch wirklich sicher ?  Ja ? Ja, wenn ich weiß es ist von Real  …´, die letzten 8 Worte wie im Jauchzen nach Lottogewinn .“

Er untermalt sein Zitat mit passender Mimik.

„ Hühnerhofgetue , Gegurre und Kikeriki , diese Art von Zungen-bewegung : Lädt ein wie eine Art Löschpapier , und das : Will ich befeuchten , ist ja normal  !“

 

Eine Gruppe von females , altersmäßig gut durchgemischt , von 16

bis 60 , umsteht den Pennertreff . Dort wird etwas verhandelt .

Die Damen sind nicht ganz nüchtern , wie man ihrem Gequieke und Getänzel entnimmt  ; die Ortsüblichen nehmen es vorläufig gelassen und mit einem Nuckelschluck aus der Flasche .

 

Ich habe später gefragt , was denn da verhandelt wurde . Ja , ich hätte richtig gesehen , da habe ein Geldschein den Besitzer gewechselt ;  eine

Serie von Gruppenphotos wurde gemacht  , und dann – Ich verstehe . Was ich da gesehen habe .

Die zu verabschiedende Braut  hat 50 Euro gezückt und ausgehändigt , damit sie Schmuddel-Ede ( der bürgerliche Name ist der Redaktion bekannt , der Name bezeichnet  den tatsächlich verwahrlosesten  der Anwesenden : Fusselbart , Tränenauge , Erd-und sonstige Flecken an Mantel und Hose ) – damit sie also Schmuddelede küssen

`darf ´.

 

ICH hätte sie natürlich auch ohne die 50 Euro geküsst . Wäre

sozusagen das Billigangebot gewesen , der Dumpingpreis . Nun ja .

 

Um die Kuss-Szene ein großes Hallo , langsame Anbahnung , glatte zwei Sekunden Lippenberührung ; er will mehr und hat sie umarmen wollen ; sie schreckt nach besagten zwei Sekunden schnell von Ede zurück , zurück in den Kreis der anderen `Hens ´ , die alle sehr laut sind

und alle recht beweglich , von schwankend bis hüpfend . Die Braut

bekommt schnell Taschentücher gereicht , die sie über Minuten hinweg

hektisch nutzt  ; eine  Spraydose kommt desinfizierend zum

Einsatz ;  Edes Freunde schlagen eine Ausweitung des Geschäfts vor ,

die Damen lehnen ab . Eine wirklich sehr angesäuselte Dame aus dem Brautgefolge hat vergessen , die Bierflasche ihrem rechtmäßigen Besitzer wiederzugeben , der in Reklamation ausbricht . Sie gibt die Flasche zurück , der Damentrupp zieht winkend ab . Die zukünftige Braut wischt sich immer noch die Lippen und schüttelt sich in ihrem Mantel . Die Pennerszene schließt sich um Ede : Wahrscheinlich wird der 50-Euro-Schein auf Echtheit getestet . Hunde bellen ; die zwei Frauen aus der Alki-Gruppe beschweren sich , ich vermute über die Tatsache , dass sie NIE geküsst werden . Herr Ratzy war auch dabei und hat einen Schluck aus anderer Flasche abgelehnt .

 

Als ich später das Haus verlasse , prangt vor  der Tür ein Scheißhaufen.

Sagen wir , ein wirklich großer Haufen. Sagen wir , eine Art :

 

`Grundsätzlicher Scheißhaufen´.

 

Ich sollte die Stadtwohnung vielleicht doch einfach aufgeben .

 

9

Mein Blick fällt aus dem Fenster der Zentrale auf die gegenüber plazierte Commerzbank . Da,  ein Angestelltenschreibtisch , leer  .

Aber jeden Morgen Punkt 7 wird er besetzt /angesetzt von einem Anlageberater ; oder so ; der sieht immer gleich aus , im weißen Hemd mit Krawatte . Er sitzt eine Etage unter Annes altem Schreibtisch , wo jetzt niemand sitzt . Hemd und Krawatte verraten auf 50 Meter Entfernung : Die Heizung funktioniert ohne saisonal bedingte Schwierigkeiten . Der Kollege ist bestimmt ein höheres Tier , sonst hätte man nur einen Irgendwie-Platz im Großraumbüro für ihn gefunden . Er ist auch schon in den Fünfzigern , hat schütteres Haar , glaube ich ; es würde jedenfalls zum geplätteten Hemd passen .

In der Citygarage gegenüber bunkert er wahrscheinlich ein größeres Gefährt , mit dem er in die Vorstadt mit dem Vorstadtbungalow fährt , um 16 Uhr .

Bis dahin muss er mit seiner Zimmerpflanze zufrieden sein .Während man ihn beim Betreten seines  Büros beobachtet , hängt er zunächst Mantel und Hut auf . Er schaut immer auf die Wand zum Nachbarbüro , niemals aus dem Fenster .  Immer im Profil sichtbar, immer im weißen Hemd , gut beleuchtet , immer ab 7 bis 16 Uhr .

Manchmal denke ich , drüben wird einfach durch einen Jahrmarkts-mechanismus  ein Pappkamerad hochgeklappt . So funktioniert er halt ,

der Fensterkontakt . Das Glasermetier .

 

10

Noah ist durchaus in Eile und möchte sich auch wirklich nicht durch so eine dumme Fußgängerampel aufhalten lassen , die genauso gut den Verkehr zwischen zwei Sanddünen in der Wüste regeln könnte ( nicht deren Langsamkeit , sondern die wenigen Autos , die hier fahren , lässt Noah an Sahara denken ). Aber : Da steht nun mal eine Frau, ausländisch , mit Kinderwagen und zwei zappelnden Kleinkindern an der Hand ; die ganze beobachtende Über-ich-vergeiselte Welt möchte den Kindern Verkehrsdisziplin beibringen und wartet entsprechend auf das Grün der stoischen  Ampel.  Man wartet (` man ´ ist nicht nur Noah , der Norah gleich auf immer an Jens zu verlieren droht ; ach jede Sekunde könnte …) sondern auch zwei Managertypen  , die sich notgedrungen in ein Gespräch über Aktienkurse vertiefen ; ein Depeschenbote ; eine pensionierte Studienrätin mit jetzt SEHR selbstzufriedenem Gesichts-ausdruck : Triebverzicht ! Das ist es ! Warten kann soooo richtig sein  .

Die funktionsarme Ampel wird nicht grün .

Woraufhin die Frau mit Kinderwagen und Kinderschar die Vorschriften der STVO bricht und zügig die Straße durch lebloses Neubaugebiet

überquert . Hinter ihr verblüfftes wortloses Aufbegehren .

 

 

X Malevitch und Aliya

 

1

Es kommt ein wichtiger Anruf für Malevitch . Aber nicht aus Venedig , wie sehnsüchtig erwartet , vom Komitee für Filmmusik ….

 

„ Ja , hier das Vorzimmer von Sheik Ben Ali Khartoum . Spreche ich mit Male….fiz (!) , dem Sänger ?“

Verbalhornte Namensversion als die erste Stufe in einem kometenhaften Aufstieg  , sagt sich Malevitch . Den ersten Fuß in der Tür . Sehen wir weiter .

Der Sekretär fragt , ob M. gehört habe von seinem Boss : Ben Ali  sei ein entfernter Angehöriger des saudischen Königshauses ; entfernt  , aber manchmal auch im Zentrum gewisser – sagen wir : delikater Operationen im Familienzusammenhang ; nein , er sei auch nicht unvermögend ( ? daran hatte Malevitch gar keine Zeit gehabt , zu

zweifeln ) .

 

Es gehe um die Sheiktochter  Aliya .

Diese sei bedauerlicherweise blind seit einem Attentat vor zwei Jahren , das sie nur knapp überlebte . In Oman , in einem Hotel ; und Malevitch sei gut beraten , nicht weiter zu fragen .

 

Vorher , in Bagdad , habe sie den Tigris täglich überquert ; sie kenne Flüsse überhaupt aus der arabischen Poesie , Euphrat und Tigris zur Zeit von Harun-al-Raschid . Flüsse …..Sind wir nicht alle sehnsüchtig ?

Wüstenbewohner , wenn sie an ein Flussufer treten ….Bagdad und

die Kunst der Kanäle , sich als Fluss auszugeben ….Ein Fluss wird einen schon nicht  in die Irre führen etc : Der Fluss als Erziehungsberechtigter .

 

Ihr Onkel habe ihr das Leben gerettet . Und die Liquidierung der Attentäter selber in die Hand genommen . Ja, ohne Umständlichkeiten .

Aber jetzt brauche sie außer Sicherheit auch Abwechslung .

Und sie sei klassisch gebildet . Mag Deutschland . Spricht auch die Sprache . Sie kenne Schumanns Rheinische Symphonie , Apollinaires Nuits Rhénanes ( Malevitch sagt : Ah ja ?) .

Aliyas Onkel  wolle versuchen , sie  zu stabilisieren und auf einer Reise

auf andere Gedanken zu bringen . Dazu brauche sie aber eben eine Art Dolmetscher , eine Sehhilfe.

„ Noch mal , Sie sind dieser Male…. , dieser Rapper , der neulich

einen Sänger von Al- Jasira imitierte ? Das fand Ben Ali so richtig gut ;

DEN Sänger konnte er noch nie ausstehen . Also , wenn SIE das sind :

Wären Sie bereit , bei der gebuchten Reise mit `Cythera´-Tours an der Seite von Ben Ali zu sein und seiner Nichte die Eindrücke und Bilder der Reise in Worte zu übersetzen ?“

 

Sympathisch , dass Ben Ali nicht einfach eine seiner eigenen Yachten herbeordert , sondern diesen Bordelldampfer nimmt , denkt  Malevitch .

Als ob der andere seine Gedanken mitgelesen hätte , sagt der Sekretär :

„ Ein poetischer Dolmetscher sollte sich beschränken , wissen Sie …,

auf  Natur und Atmosphäre , Sie verstehen  ? Sie persönlich (!) haben ja einen sehr guten Ruf in der Kulturszene . Was Aliya ansonsten an Bord

alles ( leider ) nicht sieht , ich meine : Die Personen ! – Sie verstehen ? das brauchen Sie ihr auch nicht zu erzählen .“

 

„ Und …-“ eigentlich will M. nur Zeit gewinnen und fragt eher

mechanisch :  „ was springt für mich dabei raus ?“

„ Nun, denken Sie sich einfach : Der Sheik ist nicht knausrig ,“

ist die Antwort .

„ 2022 ist doch bei uns die WM. Dann wäre doch ein musikalischer ….sagen wir : Irgendwas beim Gesamt-Music-Event-Generaldirektor sicher ein interessanter Posten ?“

 

Malevitch ist nur ein schwacher Mensch . Sehr schwach , genau genommen . Also bestechbar , eitel , neugierig , naiv , unvorsichtig ,

täppisch , harmlos , wichtigtuerisch , resigniert  . So sagt er denn nicht nein  .

 

 

2

Pfarrer Knorr seinerseits ist empört , was meine  , Hammelraths , Haltung zum Leben angeht .

„ Frage ich ihn doch neulich , wie er das Leben findet . Das Leben ?

Nun ja , Deutschland , die Frauen , die Stadt ….Glimpflich , sagt er

( Hammelrath ) . Glimpflich !!! Er geht durch die Welt wie durch einen Safari-Park , in dem es  gefährliche Tiere gibt , zum Anschauen ; sie kommen vielleicht bedrohlich nahe , aber es passiert nichts , keiner wird gebissen oder gefressen . Es verläuft  `glimpflich ´.

Mensch , das ist undankbar !  sage ich . Ich kann nicht anders , hier stehe ich . Die Welt ist schön – und zwar OFT , das ist das Zauberwort . Jeden Tag irgendwie irgendwo . Mal die Frau , mal der Himmel , mal Schalke , mal die Luft zum Atmen , mal die Erinnerung an gestern

Abend .“

So weit vorläufig Pfarrer Knorr .

 

3

Malevitch wacht heute schon um sechs Uhr auf , reckt sich und tritt an das flussseitige Fenster ; schaut die jenseitigen Hügel hinauf  ; die Luft ist kühl , über den Gipfeln und Wipfeln sieht man die Wolken in langsamem Zug . Vögel kreisen über  Rhein und Weinberg . Ein

Morgen , desinifizierend  und unschuldig.

Der Sänger sieht schon klar aus den Augen und verfolgt , was an Bord des Nachbarschiffes , ebenfalls angelegt in Oberwinter , vor sich geht . Rauch aus dem Kombüsenschornstein , das Radar dreht langsam

und nutzlos , niemand auf der Brücke . Gegenüber ist an drei Fenstern die Gardine aufgezogen ; Malevitch sieht Kinder um einen Tisch herum laufen ; in einer Nachbarkabine macht eine Frau eine verspiegelte Schranktür erst auf , dann wieder zu , dann wieder auf , wohl auf der Suche nach `was Passendem ´ . Im dritten Fenster , unteres Deck ,  sieht man  keine Person , aber ein Fernseher wirft zittrig Schemen an die Decke , die Kabinenbewohner sind noch im Bett oder im Bad . Jetzt ,von der ganz linken Ecke ihres Fensters , sieht Malevitch , dass dort drüben Eiskunstlauf auf dem Bildschirm stattfindet , Pirouetten und Geraden werfen einen Rhythmus von Farbschatten .

Malevitch ist Fan von Stummfilmen . Eigentlich hat er seinen Fernseher

immer laufen , aber fast immer ohne Ton . Die Menschen , die da vor ihm die Lippen bewegen , wollen ihm nichts Dringliches mitteilen ; die Gesichter , wenn man lange genug hinsieht , zeigen Charakter oder Situation an ; man hört auch keine Musik als ` Verbindlichkeitssumpf´

oder `Gefühlskommandantur ´, wie er das nennt ; Malevitchs Rekord ist ein Kitschfilm in voller Länge ohne Ton ; er spielt dazu Gitarre , die

12-saitige ; das ist fast wie ein Symphonie-Orchester mit viel Tutti-Einsatz . Ein Auge auf dem Bildschirm , zwei Ohren und ein gelegentlicher Blick für das Instrument . Eine Schauspielschule , was erkenne ich , was wollte der Regisseur unterbringen , inwieweit beherrschen die Schauspieler ihre Ausdrucksskalen ; nein , Lippenlesen möchte man nicht lernen , Genaueres wissen über die Handlung im Film möchte er auch nicht .

Es klopft , Starbacks . Es ist schon halb acht mittlerweile .

„Ja?!“

„ Hier ist eine kleine arabische Delegation für Dich ,“ sagt Starbacks .

„ Putz Dir die Zähne und komm rauf !“

Malevitch ist nie ganz so cool wie er sich gibt ; und Lampenfieber , das hat er wieder und wieder herausfinden müssen , macht ihn , erst recht in seiner Kabine , ein wenig grobmotorisch . Ein Glas zersplittert .

„ Komme !“

 

Aliya steht an der Backbord-Reling von Deck 2 . Ihr Kopftuch flattert

nicht ; sie hat nämlich eine Pudelmütze auf . Schließlich ist ihr herkunftsbedingt doch eher kalt . Mit ihrer Onyx- Sonnenbrille sieht sie sehr damenhaft aus  ; sie ist jetzt 24 .

Mit Aliya sind zwei Mann Security an Bord gekommen  . Der eine überreicht Starbacks ein Papier :

„ Bitte hier unterschreiben !“

Starbacks liest vor :

„ ….bestätige hiermit den Erhalt von Aliya , Fürstentochter , in unbeschädigtem Zustand ; selbige wird ein halbes Jahr an Bord der `Cythera´ zubringen und  am 13.11. wieder in die Hände von Ali Khartoum oder seiner Bevollmächtigten zurückgegeben. Köln , den …“

 

Starbacks sieht sich ratlos um , Malevitch zuckt die Schultern ; der Käptn räuspert sich und unterschreibt ; die Security zieht ab . Der Sekretär bleibt . Ben Ali kommt erst später .

 

Aliya ist Anfang zwanzig . Ihre dichten schwarzen Haare fallen jetzt über die Schultern herab und erinnern an Brokat-Bühnenvorhang.  Sie ist klein und gedrungen , aber nicht dick ; wirkt beweglich . Ihr Gesicht ist gleichzeitig jung und mütterlich , wie mit Schalk mütterlich lächelnd ; wenn etwa eine Mutter oder eine ältere Schwester schon einmal eine freundliche Kinderüberraschung in petto hat .Sie ist blind .

 

4

Malevitch stellt sich abends , als es dunkel wird , vor , wie Blindsein wohl ist . Wahrscheinlich so wie wenn …..oder doch nicht ? Malevitch hat die Augen geschlossen und hört auf die Geräusche , die sein Room-Mate , Sam der Geiger , produziert . Das Quietschen der Feder im Tretmülleimer . Aha , er steht vor dem Schrank ; jetzt höre ich zwei Schritte , also steht Sam jetzt vor dem Spiegel . Eitle Socke !

Gleich geht er duschen und befreit sich vom Pesthauch der Nacht .

Als Aliya die Kabine der beiden Musiker einmal besucht , kriegt sie mit , dass die beiden einen Stuhl frei räumen und was da vorher gelegen hat irgendwo eher achtlos hinstauen . Sie ahnt , wie es bei Künstlern  so aussehen muss , wie sie da im Atelier wohnen . Was rumliegt , ist vielleicht teures Werkzeug , eine Gitarre zum Beispiel ; eben noch , gleich wieder , oder später im Gebrauch . Auch Exquisites ist nur Gebrauchswert , quasi wie der Hund zutraulich schnuppernd . Kreativwerkstatt , Jungbrunnen ; oder ein nicht aufgeräumtes Kinderzimmer .

 

Malevitch ist morgens am rappeligsten und hat am ersten Tag von Aliyas Aufenthalt  einen ersten produktiven Anschub . Er sagt  Aliya :

„ Bei Künstlern ist es so – ich hab da mal einen Song drüber

geschrieben – als wäre man mit einer obstinaten Langschläferin

verheiratet . Wenn sie sich endlich wach räkelt , muss ich ihr dringend sagen , was sie schon alles versäumt hat , und nur ich bin berufen , das zu erzählen .“

 

Wie Aliya Malevitchs Stimme beschreiben würde :

„ Seine Stimme ist – gelenkig . Er kann immer von links auf rechts wechseln , und bleibt immer hell ; oft aber  macht er einen normalen Satz oder eine Aussage zu einer leichten Frage . Er hat viel Lachen oder  wenigstens Schmunzeln in seinen Sätzen . Wenn er mit mir

spricht , ist ein gutmütiges Schulterzucken dabei : `Ich weiß sowieso nicht , was du jetzt oder wie Du etwas empfindest  ´. Freundlich dämpfend . Oder so .“

 

5

„Wir sind hier jetzt in Köln ?“ fragt sie am nächsten Tag .

„ Immer noch ? Welchen Rheinkilometer werden wir denn morgen zuerst

abfahren ?“

 

Starbacks hat ihr erklärt , wo der Fluss herkommt , wo die Rheinmündung ist und welche Staaten man von der Quelle aus durchquert . Und er müsse Ihr ein Kompliment für ihr Deutsch machen !

Er erzählt auf der Kommandobrücke , wohin er sie und ihre ständigen Begleiter geführt hat ,  welche Länder der Fluss trennt , und wo ungefähr sie jetzt sind .

„ An Land gibt es in regelmäßigen Abständen große Markierungstafeln , die die Entfernung von der Rheinquelle angeben , nicht wahr “ , sagt der Sekretär ( schwarz-bärtig , elegant ) . Aliya will es genauer wissen .

 

„ Sagen Sie mir Bescheid, wenn wir Kilometer 749 erreichen ; das ist für mich eine besondere Zahl , und ich möchte dann etwas in den Fluss werfen .“

Blumen ? Eine Flaschenpost ? Malevitch rätselt .

 

„ Und , nur so zum Eingewöhnen : Was sehen wir gerade auf der linken Seite ?“

Malevitch bemüht sich , etwas Interessantes am Ufer von Köln-Mülheim zu sehen und es in Worte zu fassen .

 

6

Es regnet nachmittags . Regenfahnen wehen über die Niederrhein-landschaft . Oder Regennetze .

Ich stelle mir vor , jeder Tropfen könnte irgendwo ein Loch in einem Netz stopfen . Was will der Regen fangen ? So hartnäckig wie er sich als

alleingültig verkauft . Ich bin auf Aliya gespannt  und fahre los mit dem Nosferatu .

Auf dem Weg zum Düsseldorfer Hafen gibt es  Staus , Staus , nichts als Staus . Immerhin überhole ich längerfristig einen  Lastwagen mit der Werbeaufschrift :  ` Dauerelastische Fugenabdichtung ´ : Das müsste eigentlich der Titel meines hier vorgelegten Sittengemäldes sein , wenn es denn nicht schon `Cythera  Escort ´ wäre .

Und mein Blick fällt dosiert alle zwei Minuten auf die Uhr : Wir sind in der

Zeit . Gut/ in der Zeit/ in der Wüste .

Am Fluss angekommen finde ich das Schiff  einer riesigen Treibholzburg benachbart , zufällig von den Ankertrossen dem Fluss entfiltert ; das sieht aus wie eine Biberburg . Der Bug schaut mit freundlich breitem Entenschnabel auf die heranwaschenden Wellen .

 

Der Himmel schaltet soeben eine Art Klärwerk ein : Wolkenlöcher lassen Sonne auf Fluss und Ufer fallen ,  die Wiesen werden grün ; das Wasser  flaschensprudelgrünsauber , wo es eben noch trübgrau war .  Einige Schiffe mühen sich mit Kohlenladung rheinaufwärts ; ein Tanker dagegen schnellt geradezu flussabwärts ,  als sei dem Kapitän nach Bewegung auf einer Tanzfläche zumut.

 

 

Es fängt an zu regnen , aber Aliya und M. bleiben draußen sitzen . Mal sehen , wer länger durchhält , der Regen oder wir .

Aliya fragt wiederholt nach der Kennzeichnung für den Rheinkilometer 749 . Ja, sie wolle dort etwas ins Wasser werfen .

Später stellt es sich heraus , dass 749 eine Telefonnummer ist  . Damals im heimischen Wüstentower , inneres Telefonsystem ; 749 ist seine Nummer gewesen . Per Fingertip öffnete sie die Tür zu seiner Umarmung , seinem Kuss , auch seiner Stimme . Er war da . Seine Stimme auch , aber nicht nur . Heute ist die Erinnerung an seine Stimme eine Heimat . 749 . Die Nummer , unter der sie ihn zum Schluss nicht mehr hat erreichen können .

 

Aliya trägt an Deck , wie ausgeführt , eine Pudelmütze ; ansonsten , in der Kabine und im Restaurantdeck gelegentlich einen Schleier : Nicht immer ! Malevitch fragt sie , ob dies nicht eine mutige Entscheidung sei , wo doch Verschleierung für Musliminnen Pflicht sei , selbst in der modernen Jugend .

„ Ich habe mich daran gewöhnt , spontan zu sein ,“ sagt sie .

“ Paradox!“ sagt Malevitch . Sie wundert sich , versteht dann aber , was er meint .

„ Als ich noch sehen konnte – ab jetzt nennen wir das ……“ ,  Malevitch schlägt vor : „ zur Zeit des ……Kaleidoskops ? “

„…. war mir das Austüfteln von Garderobe noch wichtiger . Bei dieser

Auswahl können wir doch alle Künstler sein : Die Welt ist wie sie ist – wir brauchen sie doch nicht dabei zu unterstützen ; die Welt braucht uns dafür nicht .

Also geben wir der Welt doch unsere Variation , unsere Interpretation . Ich wähle . Irgendwas , meine Eltern , mein Lover , meine Schwester

wollen , dass ich dies trage oder tue – ich suche , ob sie was übersehen haben , was MIR gefällt . Ich bin die dreimilliardste Interpretation der Welt .“

 

Malevitch summt über den Resten seines Frühstücks , beim Abräumen vor sich hin :

 

Gestatten , bin vom Team fürs Bizarre

weshalb ich auf diesem Kahn mitfahre

gebe dem Ding den bizarren Dreh

allen wohl und niemand weh

 

: – so Malevitch , zerstreut , wie übend , gerade .

 

7

Starbacks erzählt  . Anscheinend hat Malevitch ihn nach Taras gefragt , der ölverschmiert an Deck gekommen ist ; gut , dass keine der gerade

frisch gestylten Damen in der Morgenluft flaniert .

 

„ Es begab sich in Budapest , ist schon vier Reisen her . Auf der Uferpromenade , ziemlich unbelebt morgens , kommt mir  ein Schuhputzer entgegen , schlenkert  seine Kiste neben sich her ;  wie angenehm , auch einmal NICHT von einem dieser ……dieser Dienstleister angesprochen zu werden , dachte ich noch . Der hier schien außer Betrieb, irgendwohin privat unterwegs .

Als er nur noch einen halben Meter entfernt ist , kullert ihm eine Bürste aus der Kiste und fällt mir gerade  vor die Füße .

Der Schuhputzer merkt seinen Verlust noch nicht mal ; ich  rufe und bücke mich gleichzeitig : `Stop!´ und halte ihm sein  Werkzeug hin . Der

scheint aufzuwachen , ist überrascht , dann herzlich ; schon hat er sich

in professioneller Pose hingekniet , was mir peinlich ist ; `no thank you ´, sage ich ; ich wolle keine Dankesleistung .

Aber da ist der eine Schuh schon eingestrichen und halb geputzt , dann muss der andere ja auch noch bearbeitet werden ,` Du Deutsch ? Sehr gut ! Dochdoch , ich machen …´ und ich nehme dann noch ein Forinth aus meiner Tasche , die ich ihm gutmütig hinhalte .

`One Forinth?´

Der Gesichtsausdruck wechselt .

`Five Forinth  !!!!! ; for two shoes : Ten ! ´

Und stemmt die Fäuste in die Seite , so ungefähr  , erbost drein-schauend .

`Aber ..´ –  ich bin erst mehr überrascht , dann mehr böse ,`I DIDN´T

want …´, der Mann steht jetzt näher an mir dran als mir angenehm  ;

ich werfe ihm noch ein Geldstück zu und bin schließlich froh , dass mir

keine Schlägerbande nachsetzt .

Ich bin erschüttert , fühle mich missbraucht , bin empört  und den Rest des Tages mit Kopfschütteln beschäftigt . Gegen Mitternacht  besserte  sich meine Stimmung allerdings wieder etwas , als allein auf der Eisernen Brücke noch zwei weitere Male eine Schuhputzerbürste aus ihrer Kiste fiel . Ich gehe jedes Mal einfach weiter und drehe mich erst nach zwanzig Metern um und gucke  dem jeweiligen Schauspieler beim Wiedereinsammeln und quasi im Eingeständnis seines Scheiterns zu  .

Jetzt zu Taras . Ich war diese Trickserei dermaßen leid , als ich am nächsten Tag wieder am Ufer unterwegs bin , das muss ein Kapitän nun mal . Wieder das gleiche , der Typ diesmal jünger ; wieder kullert die Bürste , wieder merke ich nichts , drehe mich nach 2o Metern um , er auch , er traurig , will sein Werkzeug wieder einsammeln . Ich bin schneller , sprinte los , gebe der Bürste einen Kick ,  sie fliegt in die Donau .

Da habe ich jetzt einen jungen Roma am Hals ; vielleicht fliege ich als nächster ins Wasser oder habe ein Messer im Bauch ? Ein Polizist kommt , trennt uns , Grüne Minna , Richter mit Dolmetscher . Im Polizeiwagen grinst mich Taras schon ein bisschen an , ich grinse

zurück ; kurzum : Der Richter ist einverstanden , als ich sage , Taras könne bei mir an Bord anheuern , aber nicht als Schuhputzer , sondern im Maschinenraum .

There´s his story . Und ich sage ihm noch : Wenn irgendwann irgendwas an Bord vermisst wird , ist er der Hauptverdächtige. Ist bisher nicht passiert .“

Käptn Starbacks und seine Crew der Verlorenen Seelen .

 

8

Ich schlurfe gähnend durch meine Kabine und mixe mir den richtigen Beleuchtungscocktail   zusammen . Schon beim Frühstück erweist sich dieser Morgen als durchaus aufräumbedürftig und aufräumwillig : Ärmel aufkrempeln , packen wirs an . Von draußen die sympatischsten Geräusche ( würde der Käptn sagen ) : Das Knarzen und Knirschen der  Kölner Landungsbrücke in ihren Lagern , je nach Wellenandrang.

Ein Anruf . Ob ein Herr Neuhaus bei mir sei , der Mensch am anderen Ende könne ihn nicht erreichen . Es geht wohl um eine Kandidatin .

Ich denke: Gebt Giaco noch etwas Zeit  und dem Tag eine faire Chance , bis er ein richtig freundlicher Mensch wird , der Leute für sich gewinnen kann .

 

Steige ein in meinen Nosferatu und ordne mich ein in Strassen und Verkehrsachsen und wieder aus Richtung Hauptsitz . Und ich sehe es beim Einbiegen in die Böcklerstraße , im Vorüberfahren aus dem Augenwinkel : Ein Baum breitet Äste mit Ansätzen von Knospengrün über Strasse und Parkbucht ; und besagtes Grün , von dem man spürt , dass man es über wintrige Ewigkeiten erwartet hat  , deutet an , es werde dereinst dezenten Schatten spenden ; immerhin ist es nämlich sonnig heute , freundlich milde , und auch davon weiß man jede Sekunde , dass es nicht selbstverständlich ist in dieser niederrheinischen Bleiwüste ( meteorologisch gesprochen ) .

Ich fahre langsam an dieser Parkbucht vorbei , nehme mir vor , demnächst dringlich mal hier zu parken : HIER parken , das ist fast wie Sommerurlaub ; oder wie Alterswohnsitz ; hier parken und in dieser Landnahme der Gegend , vielleicht meinem Leben , einen Stempel aufsetzen : Es war nicht alles  schlecht .

A propos Stempel . `The Nudge´ was here , too.

 

„ Ich habe mich gestern in eine Schulter verliebt – nein , verguckt  !“

Sagt Giacomo beim zweiten Frühstück .

„ Und gemerkt , wir schulden den Fahrlehrern mehr als nur Verkehrs-sicherheit und Führerscheine .“

Er erzählt , eine Frau habe ihren Wagen rückwärts eingeparkt

( Na und ?! ) , sich vom Steuer weg nach links umgedreht  : Ihre Haare warfen sich über ihre nackte rechte Schulter ( und den BH-Striemen ) : Die Schulter der Schultern ! Frau Atlas , habe er sie getauft .

 

Das folgende Gespräch geht nicht über einen Aprilscherz .

Giacomo und Malevitch sprechen wirklich über das „ Hengstenberg-Stipendiat ? Was ist das denn ?“

Mein Bruder erklärt Malevitch , es handele sich nicht um einen Aprilscherz , vielmehr ….

Besagter J.A. Hengstenberg  sei Vertrauter und Berater von ex- Präsident G.W.Bush gewesen , der in seiner Zeit als Gouverneur von Texas versuchte , seine bibeltreue Wählerschaft in ihrem Kampf gegen die Legalisierung von Homosexualität zu bedienen . Schwule und Lesben sind , wenn nicht vom Teufel besessen , dann doch mindestens vom rechten Weg  , wie zweifelsfrei in der Bibel festgelegt , abgekommen . Jene Konservativen verstehen sich als Menschen-freunde , erklärt Giacomo , und wollten Homosexuelle als Kranke ansehen , die man heilen könne und müsse !

„ Wer ist Hengstenberg , und was hat das mit mir zu tun ?“ fragt Malevitch .

„ Nun , es geht um einen Teil des Erziehungsprogramms , es handelt sich um ein UM- Erziehungsprogramm . Männliche Schwule , vor allem die Jüngeren , sind zu Heteros umzupolen . Und dies wiederum  sei möglich über eine Orientierung auf erotisch faszinierende Frauen , die besagte Gays auf andere , die richtigen Gedanken eben , bringen

sollen .“

„ Ich soll umerziehen ? Wie das ?“

„ Nun ,“ sagt Giacomo und versucht sich an einer Formulierung .

„ Ich habe mir erlaubt , einige Deiner erotischen Gedichte

einzuschicken .“

 

„ WAS ! Wie ? Nicht Dein Ernst !“ usw.

 

„ Und ,“ sagt mein Bruder fast kleinlaut weiter , „ angeregt , dass Du mit  Fotografen , Malern , Filmemachern und so zusammen arbeiten möchtest – zur höheren Ehre der Heterosexualität .“

„ WAAAS haben Sie eingeschickt , Chef !?“

„ Nun , etwa die Skizzen von neulich , als wir über die Mannequins lästerten , Du erinnerst Dich , auf dem Catwalk. Etwa……“ er   wischt über sein I-Pad .

 

„DAS hast Du doch sehr schön gesagt . Das hier :

Die Dame am Schalter

 

Blässe , Blöße und ein Ohrring :

grün , der Haare wegen , klar ,

die ganz kurz und cool geschrägt sind :

raffiniert  , weil :  lapidar  ;

 

man ist gespannt ,  WAS uns die

roten Lippen sagen wohl  ;

hellblau  ,  venenblau die Bluse ,

nasenspitz  und  spottfrivol .

 

 

Malevitch ergänzt aus der Erinnerung :

 

„ Oh Milch und Honig , welche Blässe ,

Blässe , Blöße , welches Blau !

Und dann jenes  Tuch  in Weiß noch ,

schwarzgepunktet ,  lochgenau .“

 

„ Ja , es hat so was klassisches .“

 

Giacomo hat  weiter gesucht .

„ Oder das hier über Radfahrerinnen :

 

 

Sommerliches Jojo der

Holländerinnen auf Rädern

aufab der Rocksaum aufab

Männerblicke werden zu Tätern

zwischen den Schenkeln höchstgebotene Höhle

Frauen quälen die Männerseele:

SAVE OUR SOULS ! “

 

„ Schon gut , schon gut !“

Malevitch ist je länger desto mehr  geschmeichelt , dass sein Arbeitgeber sich an seine Werke erinnert . Er sagt : „ Eine gute Hure macht bekanntlich alles . Gut also ,ich versuche , Mr. Hengstenberg zu Gefallen zu sein .“

 

Giacomo daraufhin :

“That´s the spirit ! Jeder Zentimeter mehr an Erektion  ein Beitrag zur Rettung des Abendlandes! gemeint : Erektion provoziert durch DIE Richtige ! Sechs Richtige ? Auch nicht schlecht . Stiften Sie einen Zentimeter !“

 

 

12

Malevitch ? Wie sie ihn finde ?

„ Was ich mitkriege : Er ist sehr hektisch . Wirft sich immer in seine Bewegungen hinein . Damit verursacht er auch viel Scherbenbruch in seiner Kabine . Und , stimmt , sehr viel Gegenstände hat er gar nicht um sich herum .“

 

„ Und da er sehr spontan ist ,“ fährt Aliya fort, „ für alle seine Ideen aber nie Zeit hat , ist er immer hektisch , wie abgebrochen oder ab-

brechend “ .

 

„ Wenn ich in Amsterdam bin , liebäugele ich immer mit den winzig kleinen Zimmern , Häusern , engen Treppen : Ganz Holland , so weit es Stadt ist, besteht nur aus Raumknappheit ; wie auch ein Schiff eben

auch eigentlich für niemanden Platz hat . Das hat für mich Reiz , aber ich stehe spätestens nach einer Stunde auf Kriegsfuß mit meiner Physis , die nach Befreiungsschlägen giert .“ Sagt der Sänger .

Zu diesem dialogischen Psychogramm stelle man sich vielleicht eine flankierende Situation vor :

Malevitch und Aliya retten sich vor einem Gewitter in eine Telefonzelle . M. der Künstler , will Freiraum. Wegen Ramponierung der öffentlichen Einrichtung in Beisein eines Streifenwagens wird Malevitch in eine Gefängniszelle gesteckt . So geschehen. Im engen  Holland .

Erzählkammer: Was Schwätzer so fluten mit (s.a.) Detailfreude .

 

13

Malevitch versucht sich auch als  Geschäftsmann . Das hat er noch nie erwähnt , wohl auch noch nie in der Praxis angefangen ; er denkt , die heutige Zeit lechzt nach Quereinsteigern und Start-ups ,  und er erklärt mir sein Vorhaben .

Er will ein Blindenheim aufmachen und den Klienten die Welt am Strom ausmalen . Die passende Geschäftsidee :

Da gibt es in Bonn –Beuel einen noch leer stehenden Neubau , direkt hinter dem Uferdeich  . Die oberen Etagen sind schon verkauft ( sündhaft teuer verkauft , da sich dort aufs malerischste der Blick auf Bonn , die Ville , die Eifel , den Strom bietet) . Das untere Stockwerk , das Erdgeschoss , sieht nur – auf den Deich , von hinten ; nichts zu sehen von Strom , Bonn , Ville , Eifel . Entsprechend billig diese Etage , die der Bauherr sonst vielleicht sonst auch als Keller oder Garagendeck nutzen könnte . Wohnungen für Blinde wären da für den Eigner einträglicher , und insgesamt doch eine sinnvolle Nutzung dieser Immobilie .

Sagt auch Notario Notarionowitsch von Söhringer , der das Projekt

praktisch betreut .

Aber Malevitch hat viele Pläne !

 

Als wir wieder über `The Nudge ´sprechen ( aus gegebenem Neu-

Anlass ) , sagt Starbacks : Der Fingerzeig könne eine Reklame für ein Nagelstudio sein : „ Hier mein Fingernagel. Jetzt malen Sie mal!“

Ich denke gerade , es könne ein Stupser sein , der einen Menschen endgültig vom Hochhaus herunterstürzen lässt . Von Bypass´

Hochhaus , zum Beispiel , den Blinden unten vor die Füße .

 

Zurück in Köln . Im Lokal ist nur ein Tisch frei .Und am Nebentisch sitzt Frau Oberstudienrätin M. Die ich nicht kenne , aber jeder im Umkreis kann mühelos den Mitteilungen dieser Dame entnehmen , was wissbar sei über Name , Profession , Fachrichtung , Kindheitstraumata , Kochrezepte .  Zur Zeit sitzt sie aber solo an jenem Tisch , was die Möglichkeit eines angenehmen Aufenthaltes an anderen Plätzen im C&A. verheißt  .

Giacomo und ich setzen uns und bestellen . Frau Oberstudienrätin M.

bekommt einen Anruf .

„ Hallo Marissa . Ja , ich bin hier im C&A .“

 

Die übrige Klientel möchte am liebsten schreien : „ Wir leider auch !“

„ So so …ja ja…nein …ich bin um 7 verabredet mit Alice . Also , wenn Du jetzt kommen möchtest ….in einer Viertelstunde ?

Ja , das lohnt doch . Lohnt doch immer . Ich warte . Bis dann.“

So weit der markante Wortlaut  .

Giaco und ich sehen uns an und denken simultan :`Eine Viertelstunde haben wir noch Zeit . Genießen wir den Krieg , der Friede wird fürchterlich .´

Wir  essen in relativer Hast  und haben sogar noch Zeit für einen

Grappa . Danke , Schicksal . Giaco geht zur Toilette , ich zahle ; die Bekannte von Frau O.M. kommt an .

 

Eine Überraschung ! Jung , blendend aussehend , eine Erscheinung . Giaco kommt zurück und erbleicht . Es ist die Göttin . Die mit dem Chihuahua .

 

Er wird ihr später sagen : „ Richtig . Ich bin zu alt für Sie ; Sie sind zu jung für mich .“

Sie : „Ich werde übermorgen 18 !“

Er : „Betrachten wir es als reines Kino .“

 

 

14

Einige Tage mit Flussbetrachtung später .

Ich erschauere , als ich die Grenze zwischen Traum und Tag endgültig überschritten habe , einen ersten Blick in die Kabine werfe und  den nächsten aus dem Fenster . Es ist grau draußen . Nicht einheitlich grau getüncht , sondern dramatisch , mit solide gezeichneten Wolken schwarzweiß verhängt , die von West nach Ost auf der Durchreise sind . Zwischen zweien tut sich ein Spalt auf , darin wird es gleißend weiß ; ein dankbares Malermotiv  . Der Spalt wandert langsam , der Geschwindig-keit des Wolkenzugs gemäß , von rechts nach links über das Fenster .

 

Ich verspreche , ich werde aufstehen , wenn der Hellefleck am linken Fensterrand  angekommen ist . Eine exquisite Uhr ; da wir in Basel  festgemacht haben , könnte man auch sagen : Ein Schweizer Fabrikat .

Ich schlafe aber noch einmal ein und wache erst am späten Vormittag wieder auf , als gerade Ines , die Chihuahua-Dame , und Giacomo zurück zum Anleger kommen und einen schönen Einkaufstrip in Basel hinter sich gebracht haben . Sie sprechen über Tattoos .

„ Wir  fahren da  an einem Laden vorbei : Er heißt `Gretna Green ´ . Kurioserweise ein Tattoo-Studio .“

Giacomo spricht mit vollen Backen , hustet ; Starbacks klopft ihm auf den Rücken und mein Bruder fährt fort :

„ Passend , der Name , ewige Treue wird auf die Haut gebannt – auch wenn der Träger dieses Pattern garantiert nächstes Jahr öde findet .

`Ich bringe radikal meine Zukunft auf dem Altar der kürzesten Gegenwart  zum Opfer ´ . Der Sommer entblößt alle diese Treueschwüre in der Baseler Jugendszene : Einmal eingeätzt – dauerhaft mitgenommen in die Zukunft .“

„ Meine These,“ fährt er parallel zu einem Kaviarbrötchen fort   :

„  Junge Menschen halten Freiheit ( zum Beispiel die Freiheit, morgen vielleicht NICHT ` Lena für immer ´ zu lieben ) nicht aus . Seltsamerweise weniger als die Alten . Opferbereit gehen sie dann schlimmstenfalls voll Idealismus in eine Terrorzelle – oder ins `Gretna-Green ´ Tattoostudio .“

 

„ Indirekt ,“ sagt Starbacks , „ geht es natürlich auch um eine Art Währungsstabilität . BZW . die Suche nach derselben . Geringschätzung von dem , was man vielleicht morgen denkt , heißt : Den Kick bitte

heute . Insofern ist diese Geschichte vielleicht doch wieder ein kleines bisschen schweizerisch – oder anti-schweizerisch ?“

 

Allgemeine Schweizereien an einem Sommernachmittag in Basel .

„Der Rhein ! wie er riecht  !“ sagt Aliya;

„ Nach Sauerkraut , “ erwidert Malevitch .

 

Ines , die gerade 18-jährige , hat übrigens von ihrer modern denkenden Mutter die Erlaubnis  zur Fahrtteilnahme bekommen , da ihr Chihuahua angeblich ( man wundert sich über die Leichtgläubigkeit der Leute !) in der Schweiz in einem Kurzlehrgang ( und NUR in der Schweiz gebe es das ! ) zum Blindenhund ( für Aliya ) ausgebildet werden könne .

 

 

XI Loersma

 

1

Sonnentagbalance : Der tut dies , die tut das .

Ich bin im Bordcafé  für überhaupt alle und für die beiden Bootsgenossen Aliya und Malevitch das Publikum und bewache die Balance der genossenen Gleichzeitigkeit . Keine einsame Tat nirgends , überall ein zufällig anwesender Zeitgenosse , aufgehoben und verzeichnet im Buch der Glücklichen . Zitierbar , hoffentlich dauerhaft verzinslich .

Aliya ist neugierig und möchte , dass Malevitch ihr etwas über die Anwesenden erzählt .

Sei es , weil der Musiker müde ist , oder er meint , Aliya nicht näher zu kommen , wenn er nur ihre Fragen abarbeitet , sagt ( sinngemäß ) :

Man soll die Leute nicht so genau  ansehen ; der Blick , in den man den anderen tapsen lässt , wie in eine Falle,  ist immer sozusagen hämebereit ; der Blickende verschafft sich einen unfairen Vorteil .

„Was solls ?“ fragt  Aliya . „Haben die Menschen nicht eine Hornhaut des Gesehen-Werdens ?“

Malevitch hat halt keine Lust aufs Übersetzen ( Bild … Sprache ) heute abend .

„Viele Blicke sind doch so eine Art : SIE habe ich schon erwartet ! Ist das jetzt Paranoia ?“ fragt er . „ Aktiv? Passiv? Projektiv ? Ich schäme mich für die Überlegenheit meines Blicks .“

„Das ist kein Satz , den man einer Blinden zumuten sollte ,“ entgegnet Aliya .

„Vor dem Café-Eingang ,“ setzt Malevitch fort , „sollte ein Hinweisschild angebracht sein : Vorsicht , Sie verlassen den Nicht-Beobachtungs-sektor .“

„ Schlimmer noch : Ab jetzt werden Sie von Formulierern beobachtet .

Ich entbinde Dich von Deinen Formulierungsaufgaben ,“ sagt Aliya .

„Mach stattdessen was Musik . Spiel was .“

 

Mittlerweile hat Malevitch sein weißes Dinnerjacket angezogen und  nickt dem Disc-Jockey zu , damit der mit seiner Lounge-Konservenmucke aufhört , und der Sänger setzt an .

 

„  Moritat von der Fliese :

Was kachelt das kennt keine Krise !

Ja eine Kachel ist die Welt

was immer wieder auffällt

 

nichts was nicht abwaschbar ,

gilt auch für alle Gegend

die mal ein Schlachtfeld war

diese These belegend :

 

kein Schlachtfeld wo nicht später

Jogger und Turnväter

bei Frischluft was für Fitness tun

 

so lassen wir die Toten ruhn

ob Waterloo ob Stalingrad

die Welt ist nun mal kachelglatt .“

 

 

2

Ich komme morgens um sechs wieder ins heimische Köln zurück und schalte meine Möbel an . Meine Wohnung ! Sie hat sich erholen

können , sich beruhigt ; alles macht einen friedlichen Eindruck .

Starbacks erzählte jüngst  vom Einbruch in seiner Kabine , letztes Jahr . Das war in Mainz ; keiner weiß , wie die Einbrecher an Bord kamen ; die Polizei nahm ihre Aufgabe ( Spurensicherung , Verhörung von nicht/ Beinahe/Kaum –Zeugen ) sehr ernst , der Dampfer lag einen ganzen Tag still . Taras hat ein Alibi.

`Wat willste machen ; wat cyth dat cyth ´ habe Starbacks angeblich getwittert .

 

Es wird also ein Sonnentag . Sonne Du großer Relativierer , der Du das Essentielle in die untere gewichtigere Wagschale einsortierst . Unser Zentralgestirn gibt ein ausreichend großes Gegengewicht : Gegen die eigene Schwere , Schwärze , Schwachheit , Schande , Schuldheid (!) , gegen Schmuddel , Schlamperei , Schlieffen-Plan , gegen die allgemeine Schlaumeierei , Schlappmache , Schlackungskur , gegen Schlecker-frauen , Schlamassel und Schlupkothens . A propos .

 

Ich erinnere mich an gestern : Da war an Bord der `Cythera´und auf dem Kai davor eine große Public Relation Aktion zugange . Hier tat nämlich gerade Ruud van Loersma wirklich alles für eine gute Sache .

Von New Yorker Freaks abgekupfert , verlangt seine Idee , dass er  gegen Geld Leute umarmt , die eine Spende für den Umweltschutz leisten wollen . ` Hugs for Euros ´, heißt das Ganze und findet am Anlieger der `Cythera´  statt . Es hilft sicherlich , dass Ruud ein attraktiver , athletisch überzeugender Werbeträger ist . Zwei Fernsehteams rotierten um das kleine Podest , auf dem die öffentliche Umarmung stattfindet .

 

Unter den Umarmungswilligen ( Spende : mindestens 10 Euro ! ) findet sich , vorläufig uninformiert , auch Aliya .

„Was bedeutet der Tumult,“ fragt sie.  Malevitch weiß es .

„Ruud Van Loersma ist aufgetaucht ,“ sagt er .

„ Das ist der  Schwimmer , der den Rhein in ganzer Länge durch-schwimmen will , als Demonstration für Greenpeace , zur Reinerhaltung unsrer Flüsse.“

„Den ganzen Fluss entlang schwimmen ?“

 

„Natürlich geht er abends an Land , und da findet dann meistens ein Event statt . Pressekonferenz mit Party zum Beispiel . Schon erstaunlich,

dass Loersma dafür dann noch Kraft hat . Na ja , er trinkt natürlich keinen Alkohol , anders als unser Käptn .“

Aliya lächelt .

„ Beschreibe mir diesen Mann .“

 

Giacomo hat Loersma gefragt , ob er eine Nacht an Bord der `Cythera´ zubringen darf , ohne die Statuten zu verletzen . Ruud lächelt und bedauert . Er ist im Hotel Grünburg untergebracht , was eine weitere

gute PR-Aktion verspricht ; und morgen wird er schon vor der `Cythera´ wieder unterwegs sein ; aber vielleicht sieht man sich ja noch ?

Unterwegs ? Rheinkilometer 749 ?

 

„ Wie ist das so , wenn Sie auf Höhe des Wassers in so eine Rhein-schlaufe hinein schwimmen ?“

„ Haben Sie keine Angst vor Schiffen ?“

„ Ist Ihnen nicht kalt ?“

„ Quatsch , der hat doch einen Thermopren-Anzug an . Steht ihm

sogar .“

„ Schlucken Sie manchmal auch Wasser ?“

Alle möglichen und unmöglichen Fragen seitens der Zuschauer .

 

Und auch unsere Bekannte von der Erotik-Messe findet sich ein .

Frau Doktor Brunner-Koch trifft eine Verabredung ( `Wann haben Sie denn mal Zeit ?´) mit Ruud , und über einem  Prosecco an der Bordbar macht sie ihm ein Angebot , für das er sich Bedenkzeit ausbittet . Er lehnt , nein , nicht von vorneherein ab .

Allerdings fragt er ungefähr 4 mal nach , ob er das Ganze auch wirklich verstanden hat . Sie sagt :

„ Ja , so könnte ich mir das vorstellen.“

 

Er lacht , zuckt die Schulter , sagt :

„Ich bin ja nicht prüde , ehrlich nicht ; aber …vielleicht machen wir das erst nächstes Jahr ? oder noch besser : In zwei Jahren ? So eine

Aktion , das mit dem Rheinschwimmen , darf man  ja nicht so einfach wiederholen .“

Sie seufzt .

„ Ich wiederhole es einfach noch mal . Also : Ich nehme das Risiko auf meine Kappe. NOCH erinnert sich die ganze Welt ja an Ihre sportliche Tat . Das Eisen muss man schmieden solange es heiß ist .“

„ Ich habe Sie richtig verstanden :  Ihre Sex-Puppen  bekommen mein Gesicht aufgeklebt ; man umarmt Ruud van Loersma ? Mit …….Penetrations-Möglichkeiten siehe Rückseite  ?“

 

„ Das muss nicht zwingend so sein , wir können auf die Körperöffnungen verzichten .“

„ Und dann  , als Höhepunkt des Ereignisses , werden zehn von diesen Puppen in den Rhein geworfen , und die schwimmen dann für die gute Sache ab bis Rotterdam ?“

„ Für – seien wir nicht kleinlich – 10.000 Euro. Für SIE . Aus unserem Werbeetat . Das können Sie ja dann spenden . “

 

„ Ich bitte um Bedenkzeit ! Ich muss mit meiner Organisation, mit meinem Anwalt und …….“( er zögert ) „mit meinem ästhetischen Gewissen verhandeln .“

 

Er sieht  die Beate Suse -Beauftragte an und lacht in sich hinein .

„ Ich lese gerade Swifts `Gullivers Travels ´ ; da gibt es jede Menge wirklich lustiger inspirierender Stellen .  Sollten Sie mal lesen ,wenn Sie so auf Ausgefallenem stehen . Also : Man könnte zum Beispiel auch einen Ruud van Loersma zwei Tage zu Extrem-Speed-Sauerkrautessen verdammen, alles für die gute Sache , versteht sich ; immer alles für die gute Sache . Irgend ein Kohl , der unheimlich bläht . Mit der Blähungsluft füllt man dann diese aufblasbaren Sexpuppen und ……“

 

„ Nein ! Wie ausgezeichnet ,“ sagt die Dame .

„ Und könnten die Luftmatratzen kleine Haifischflossen haben , mit denen ich da im Wasser plansche ? Pscht , kein Wort weiter ,“ lacht Ruud.

Aliya tritt in das Bordrestaurant .

 

Und draußen auf dem Pier macht derweil Herr Ratzy Photos . Vielleicht stellt sich eines Tages heraus , dass der `renommierte Hochzeits-photograph ´ in seinem Sold zwei junge Leute beschäftigt ,  Norah und Jens , die sich im Standesamt-bzw.Kirchen- Outfit  vor eine Gangway stellen , auf der gleich der Erfinder der nichtklebenden Marmelade mit seiner Seitensprung-Hostesse ( die mit dem Atem-Lehre-Programm )  auftauchen wird . Norah und Jens sind die meist fotografierten Nicht-Verheirateten , die in Weiß und Cut an einem Flussufer optimistisch in die Zukunft lächeln . Und Papa Ratzy ist der Aufrechterhalter der guten alten Sitte , dass Seitensprünge (bah! ) von Erpressern zu nutzen sind .

„ Sie finden meine Preise überhöht ? Sie können sich die Photos ja mal ansehen …….“

 

3

 

Schauen wir weiter in diese Spielzeugwelt , den Betriebsalltag an Bord der `Cythera´ , herab .

Elvira erzählt gerade ihrem Kunden aus irgendeiner Diskretionsbranche nach dem dritten Glas , wie sie zu Anfang ihrer Berufslaufbahn als Journalistin ( `Journalistin ?!!´ Elvira besänftigt  ihren Gesprächspartner mit Hinweis auf die Verschwiegenheitsklauseln  ) ; –  erzählt also  ihrem Kunden die Episode ihres Rauswurfs bei der Erftstädter Zeitung . Damals .

 

„ Es begab sich um die Zeit des ersten April . Zufällig . Einer unserer

Korrespondenten kommt ganz aufgeregt von der Sitzung des

Polizeipräsidenten . Kalle sagt : „ Ich muss aber jetzt zum Stadion , wo der rausgeschmissene Trainer ` Abrechnung mit dem Vorstand ´

vor der Presse zelebriert . Mach Du das hier so lange und schick mir dann die erste Fassung rüber .“

 

Es kam alles anders . Ich dachte , nachdem ich die Notizen gelesen hatte :  „Die Freiheit nehme ich mir , und außerdem ist erster April .“

Also . Am zweiten April erscheint die Schlagzeile im Lokalteil ( Hinweis schon auf dem Titelblatt ) :

 

Leichensammler findet Flasche im Container .

 

 

Fand ich lustig . Die Redaktion nicht . Kalle erst recht nicht .“

 

„ Nun,“ sagt der Kunde vorsichtig ( man ist  erst beim Kennenlernen und weiß nicht , wie skurril vielleicht  dieser Kontakt noch wird , obwohl…Elvira sicher über Charme verfügt , und über lange blonde Haare  , die den Kunden diffus an Weihnachtszeit erinnern ) .

„ Wie kommt denn bitte ein Leichensammler nach Erftstadt ?“

„Ich habe  mich , nach Musterung der eher humorlosen Visagen in der

Redaktion ,  dann  schnell entschieden , das Ganze als bedauerlichen Irrtum darzustellen . Natürlich musste die Schlagzeile heißen

(kleinlaut ) :

 

„ Flaschensammler findet Leiche im Container“ .

 

Aber das war dann schon alles , und notgedrungen der Anfang meiner brillianten akademischen Karriere – außerhalb  der Medienwelt .“

 

4

„Nach der Dusche . Nicht meiner , oder der von Loersma . Morgens legen wir doch alle die Wasserrüstung an .

Steffika ist noch liegen geblieben , als ihr Kunde sich schon zum Frühstück aufgemacht hat . Typisch diese Leistungsfreaks , mit denen kann man nie morgens länger im Bett bleiben . Nach der Dusche in neue Klamotten : Ein guter Tag ! Das liegt auch an den Klamotten : Das Gummiband-( `Flitsch!´ oder :`Flupp!´)- Geräusch vom Slip : Daheim ! Tür zu !

Ach die Dusche : Irgendwie doch das Ereignis des Tages .“

 

Aus dem Erinnerungsschatz oder Klatschbeitrag dieser oder einer anderen Hetäre :

( `Strictly Hätero ´ ) „Ich hatte mir für die Nacht einen Teehändler ausgesucht . Aus Ugandah ! Natürlich reizte mich seine Herkunft , seine Art  , und ich wollte sowieso auch in der Übung bleiben , ehe mich ein schlechtes Gewissen meinem Verlobten Udo gegenüber zementiert , so erotisch und moralisch……..

 

Maurice also war sehr schwarz , was man zunächst vor allem an seiner runden Glatze merkte , die weithin spiegelte . Wie ein leckeres schwarzes Lutschbonbon , Hochglanz . Er sprach kein Deutsch , was aber kein Problem war . Ich trug meine leichte weiße Kokon-Bluse mit deutlichst sichtbarer Corsage darunter , und aparterweise einen Hosenrock in Blau , den man auch gut für einen Rock halten konnte .

Es war auf der Strecke niederrheinabwärts , Duisburg- Ruhrort Ableger , Richtung Emmerich , Arnheim , Rotterdam und zurück . Genau das passende Wetter ! Für meinen Campendonck-Vortrag , meine ich : Düstere Wolken , als ob der ganze Tag aus nichts als Nachmittags-dämmerung besteht ; das Grün der Wiesen auf beiden Flussseiten  . Ich zeigte berühmte Werke des Malers auf dem Laptop , erzählte von Ähnlichkeiten zwischen Chagall ( den Maurice kannte ) und Campendonck mit seiner Tiermagie ,  phantastischem Realismus ; in dunklem Bauernhofszenario leuchtet an zentraler Stelle höllenpfortenrot ein Strauch auf ; oder wo fahlgrün eine Bäuerin mit maskenhaftem Gesicht Kühe melkt .

 

„ Phantastischer Realismus “ , sagte Maurice und ließ sich die Worte auf der Zunge zergehen , „ wäre doch eine gute Wunschformel für das ganze Leben“  oder so ähnlich , auf Englisch .

Er hatte altmodisch gute Manieren ; sagte , er rauche nicht ; bestand darauf , mich mit  `Mistress Küppers ´ anzureden .

„Sie fragen , wie es um die sexuelle performance des Schwarzen bestellt war ? Gut , sage ich ; gut .“

Erzählt Frau Küppers dann Herrn Loersma an der Bar .

Ihrer Freundin , die sich Sex als Dienstleistung nicht vorstellen mag , erzählt sie am Telefon :

„ Klar , anfangs ist es einfach Kuscheln , wie mit  einer Portion

Müdigkeit , aber eine wie nach einem erfolgreichen Tag , und mit einem Kissen , das frisch ist und weich und alles von Dir in Empfang nimmt ohne selber Ansprüche zu stellen . Es ist wichtig , dass ich entweder nicht verstehe , was Maurice sagt , oder dass er das Richtige sagt und tut . Gestern sagte er : „ Komm , ich nehme Dich jetzt ,“ wie eine Art Brummbär , mit tiefer Stimme , und ich fand das das richtige Wort  , Sesam öffnete sich .  Meine Brüste – Du kannst Dir denken , dass Hände da viel erkunden können ; er sagte , sie seien wie ein Vorgarten , wo das Gartentor ein bisschen quietscht ; aber der Blick durch den Garten auf das Cottage sieht gut aus und man riecht den Frühling .

 

Dann fährt er den Schwung meiner Hüften ab , ich erkunde die seinen ; wie Schwerkraft , jeder kennt sie , jeder weiß der Schnee rutscht bis in die Talsohle : Ich lege meine Hand auf sein Glied , es ist wahrlich groß und fest , wie etwas zum Halt gewinnen ; und er hat seine Hand innen auf meine Schenkel gelegt und führt sie nach oben , und meine Lippen sind triefend und offen .

 

Beim ersten Mal war ich auf Halt ! und Vorsicht bedacht , bitte kein Crash , und ich drehte mich um . Ich ließ ihn von hinten rein , sah sein Gesicht nicht ; er sagte auch jetzt nichts , oder Unverständliches , oder das Richtige ; aber ich sah sein Gesicht dabei nicht , und es war ein bisschen wie Sex mit mir selbst , mit meinem Dildo , mit einer Wand vor mir , die mir keine Vorwürfe macht ; die aber sieht , was hinter mir ist und mich warnen würde , wenn da was Gefährliches wäre .

 

Und jetzt bin ich in der Brandung , ein Brecher , eine hohe Welle mit Gischt ; ein Sog zurück , es riecht nach Frische und Salz , die nächste Brandungswelle , ich werde erhoben und nach unten getaucht , ein Rad , ein  Schwung , ein Jauchzen von oben auf die Welt herab , von unten hinauf zu irgendwie freundlichen Zuschauern auf der Höhe , es brandet und wellt und tanzt und fängt mich auf , und dann – dann fließe ich den Sandstrand hinauf , und die Welle hat sich ergeben .“

 

5

Ich keile gegen meinen Bruder :

„ Weißt Du was mich aufregt ? Da drüben ein Plakat von der Oper für ein klassisches Konzert . Siehst Du die Pianistin ? Heute gibt es nur noch Virtuosinnen , die genauso auf dem Laufsteg oder auf Deinem Dampfer Dienst tun könnten . Anna Tschernowenskaja , ja , die berühmte , in unserer Stadt , geneigt über ihren Pöseldorfer , und sie schickt zur Begutachtung schon mal ihr Décolleté voraus .“

 

Lila wundert sich über meinen Ausbruch . Sie kommt gerade vom Sonnendeck und setzt sich zu uns . Das Pfarrerehepaar aus Emmerich hat  nämlich 1 ( in Buchstaben : EIN ) Flussfahrtticket gewonnen . Die Fahrt nach Amsterdam dauert ja auch nur einen Tag , hat jeder von beiden dem Anderen gegenüber jeweils gesagt/beklagt/beanstandet .

 

„ Das machst Du ,“  sagte Knorr dann , „ ich habe morgen zwei Beerdigungen .“

 

Ach ja , damals , diese erste Tangoveranstaltung an Bord ! Lila sieht

sich und offen für alles die betrefende Fotoausstellung im Saal an .

 

Starbacks sagt : „ Das war auf der Saône .“

Ich sage : „ Ja, das war schon filmreif .“

Starbacks : „Softporno  bis zum Abwinken.“

 

Ich erinnere mich : Die Tänzer sind noch in ihren Garderoben , ich komme gerade an Deck , als die `Cythera´ in die Flussmitte wechselt  und die nächste Schlaufe der Saône nimmt . Hinter dem Berg , der bisher Schatten geworfen hat , liegt jetzt wieder Sonne auf dem Fluss ; kein Dorf weit und breit , nur Ufergebüsch , dahinter Weiden . Und Charolet-Rinder . So was von Ruhe . Ist die argentinische Pampa vielleicht ähnlich ? A propos Tango .

Kein anderes Gefährt weit und breit  . Die Wellenschleppe des eigenen Dampfers läuft ohne Webfehler gleichmäßig ruhig auf die Ufer zu . Und dann kommt doch ein Wind von vorne ; wir schnuppern , ob da von Süden ein Hauch Camargue , Mittelmeer , Pinien in der Luft liegt .

Tut er . Passend zum in der Luft liegenden mediterranen Leichtsinn , mit einer Prise ernstnehmender Leidenschaft : So findet dann die Tango-darbietung an Bord statt .

 

„Ilona und Salvador Rioferrante geben sich die Ehre , zu unterrichten und  zu demonstrieren .“

Die Tangolehrerin ist überraschenderweise eher schmuddelig gekleidet ,

und sieht nach Feierabend mit Chips auf dem Sofa aus .  Anders ihr Gatte . Der  ist  Mexikaner und schwarzhaarig , von der pomadig-öligen Art . Die Brille tut seiner Latinität sprich Maskulinität keinen Abbruch ; fügt vielmehr eine Prise Mafia-Erfahrung hinzu . Er trägt dazu ein weißes Rüschenhemd ( Barock inclusive Rokoko forever! ) und schwarzweiß gestreifte Hosen . Was mir an jenem Tag noch besonders auffällt ,  sind seine eleganten Lederschuhe ,  deren Oberleder  vanillegelb und schokoladenbraun ist …hmmm! leckere Pralinensorten !

 

Sieger des Abends , beim Concours ,  wird ein recht paradoxes

Pärchen :

Er , nicht unbeleibt , Typ Amtsschimmel vom Katasteramt ; sie , unbestritten sexy : Ein Seidenkleid reicht ganz kurz an ihre Hüften

heran ; unter dem Saum  fängt ihre schwarze Strumpfhose an , die – besonders raffiniert – Strapse andeuten , auf das Strumpftextil aufgelegte Verzierungen : Ich muss auch mehrfach hinsehen , was der Dame –wetten- nicht unrecht ist . Sie hat einen wahrlich rasanten

Körper  : Drall energetisch windschnittig gerundet , so wie man auch einer antiken Propyläensäule ansieht , dass sie kein Gramm Fett zu viel drauf hat .

Lila sagt : „ Aber so eine schöne Frau muss man irgendwem erstmal

ausspannen , nicht wahr , Herr Neuhaus ? Ist das nicht ein bisschen viel

Leid , das Sie da zwischen die Menschen bringen ?“

Giaco murmelt was von `Casanovas sind nur Teilchenbeschleuniger ´

( wenn ich das ganze richtig verstanden habe , es war gerade sehr laut ).

Bei anderer Gelegenheit verwendete er zu Verteidigungszwecken  wieder eins seiner Lieblingswörter : „ Perforation ! Es gibt zwar oder noch einen Zusammenhang …aber an einer Stelle ist er brüchiger als sonstwo . Und wenn das Toilettenpapier an der vorgesehenen Stelle reißt  , hat punktgenau das geklappt , was auch sonst in unserem Kosmos die Logik so anstellt : Ursachen haben Folgen , das Blatt fällt , wenn seine biologische Funktion erfüllt ist .“ Giaco , der  Meister der

Perforations-Performance .

 

6

„ Ach , Sie sind der Pfarrer mit der Morgenandacht . Und wie kommen Sie hier auf das Schiff ?“

„ Und Sie ?“

Der erfolgreiche Mensch aus der Reklamebranche wartet vergeblich auf

eine interessiertere Reaktion von Knorr .

„ Was Ihr Morgenlob angeht : I couldn´t agree more : Morgenwelt ist unsere Welt . Werbeblock vor den Frühnachrichten , jedenfalls morgens ab 8. Um 7 kommen wir uns ja noch in die Quere , und Sie dürfen dem Tag ein besinnliches Motto geben . Aber egal , Frische und Unschuld , davon verstehen wir beide alles .“

Knorr lässt ihn stehen .

Sowieso haben es aber heute wirklich alle auf Giaco abgesehen .

`Böser Blick ´- das hat dem Schiffseigner noch niemand gesagt . Und dann Aliya ! Schon paradox .

Es stimmt ja , sein Blick läuft wie ein Magnet ( ich sagte auch schon

mal : Rammsporn ) durch die Straßen ; wird zuverlässig von Gesicht und Figur der jeweiligen Frau angezogen , wenn er einem Paar begegnet . Er hat sich so trainiert , dass er bei Sichtung einer schönen Frau sofort ihren Begleiter ansieht , um nicht in den Ruf des Glotzers zu kommen . Erst der dritte , vierte , fünfte Blick gilt dann wieder der Frau , die dann meist schon an ihm vorbeigegangen ist .

 

Giacomo trinkt gerade einen Kaffee mit  einer anderen Dame  auf dem Marktplatz . Sie ist höchstens zwanzig ; ihr schmales Gesicht ist  , noch wenn sie lächelt , ernst . Vielleicht sehr entschlossen , immer konsequent erwachsen auszusehen , vielleicht ein bisschen wie ihre Mutter . Auf dem Rückweg schlägt Giaco den Ufersteg vor , der dann, wie sich herausstellt , an einer Stelle etwa 20 Zentimeter überspült ist . Giaco hat schon Schuhe und Strümpfe ausgezogen , um zu waten . Sie zögert und schüttelt dann den Kopf ; sie hat einen Rock und eine Strumpfhose an , die sie weder dem Ruin aussetzen möchte noch ausziehen .

 

Dort drüben sitzen unterdes einige Schulmädchen auf der Bank mit einem einsamen Verehrer . Die rechts mit den langen blonden Haaren hat die Beine angezogen und presst ihren Busen auf die Oberschenkel . Giacomos Hand bahnt sich getarnt als Blick einen Weg zwischen ihre Schenkel . Als sei da etwas gerade erst frisch in der Mitte getrennt und wolle zurück ;  in einem Magnetismus der Spaltung . Halbiert , nach Dopplung gierend . Klebefläche , frisch .

 

7

Renate Engel ist etwa Ende zwanzig ; ich machte ihre Bekanntschaft vor einigen Jahren , als sie eine ambitionierte, wenn auch nicht talentierte Künstlerin war ; bekam dann in rascher Folge zwei Kinder und war  die erwartet gute Mutter . Eine Montessori-Type .

 

Jetzt , da ich sie zufällig in Norahs Ausstellung treffe , hat sie sich

emanzipiert von ihren früheren `graue Maus ´ Accessoires in Garderobe und Ansichten ; sie trägt ein leichtes , nicht zu langes Kleid ; ihre Beine sind wirklich zum selbsttragenden Ansehen , und eine neue Haarschräge wirkt kokett wie auch ihre EyeShades . Sie neigt beim Lächeln gerne  den Kopf , einladend  und zutraulich ; das muss sie erst in letzter  Zeit gelernt haben .

 

„ Du bist überrascht , dass ich bei `Cythera´ arbeite ? Vielleicht sehen wir uns da ja mal ?“  sagt sie , als ob sie schon über die Schulter zum Abschied lächelt . Weshalb natürlich  Anne auch schon einmal unglücklich mit mir sein könnte wenn sie wüsste .

Die `Cythera´ war ihr Schikcsal ( sic !) , hat Starbacks  ins Gästebuch

der Stadt eingetragen . Und immer was Lustiges auf den Wulstlippen .

Am Nebentisch im Caféabend , dramatisch ausgeschnitten und

gebügelt : Zwei Jongleusen , deren labile Kurzgleichgewichte sich geschmeidig schnell fassen und orientieren , Arme und Busen stets neu einwerfend in einen Klimperkasten von Offerten .

Giacomo hat zwei Angebote für Escortdamen vorliegen , die sich beide um die Stelle jener einen Petra bewerben , die jetzt endlich ihre Masterarbeit fertig machen muss . Mein Bruder braucht nicht lange Zeit zur Abwägung , und entscheidet zu Gunsten der Polin , Karolina .

 

Gut aussehende Blondinen gibt es auch aus aller Herren Länder sonst wo , aber die Stimme von Karolina ( er sagt : `Typisch polnisch ´) bringt eine besondere Note auf den Kahn . Deutsch , aus polnischer Artikulation heraus gesprochen , hat immer so eine Art Schleier  vorgezogen , steht immer im Unterrock , sagt Giaco . Karolina spricht mit besonderem Schmelz  ; Diphtonge auseinander-gezogen , Nebensilben noch deutlich mitausgesprochen , und aus `anfangen ´wird `anfang-gen´ oder so . Also : schlechte Karten für die Kubanerin , die sich ebenfalls beworben hat , aus Guantanamo , nicht Havannah (` nein ? Sie sind nicht aus Ch-avannah ?´), Architekturstudentin , die demnächst auf Kuba viel zu tun haben wird in einem dortigen Stadtplanerbüro .

 

Aber die `Cythera´ sollte , meint mein Bruder , auch einmal die Weichsel entlang fahren ; Giacomo stellt sich ausgedehnte , wenig bevölkerte Weidelandschaften zur Rechten wie zur Linken des Bugfähnchens vor .

Ach ja , das Bugfähnchen .

 

„ Und wieso kriege ich den Job nicht ?“ fragt eine andere Schöne schulterjustierend beherrscht genervt .

„ Bin ich Ihnen nicht attraktiv genug ?“

„ Nein ,“ antwortet Giaco. „ Ihre Stimme .“

„ Meine ….Stimme ?“

„ Sie klingen irgendwie ….so flötselig wie eine Reklametussi , so…frischbeatmet , enthusiasmiert , erlöst-erleichtert … -´

 

„ Aber ….ist das Non-Verbale hier nicht wichtiger in diesem Metier ?“

„ Lesen Sie sich das Cythera-Profil noch mal durch . Danke fürs Erste .“

 

 

XII Malevitch in Venedig

 

1

Er hat nämlich wirklich einen stolzen zweiten Platz gewonnen !

Aus Malevitchs Venedig-Tagebuch demnach . Er darf in der Lagunenstadt auftreten und einen Song einspielen ; mit der Filmmusik war es nichts .

 

Dienstag 28.September :

 

„ Arrival . Der alte Mann schiebt seine Frau aus dem Lift heraus in den Ankunftssaal des Marco Polo Flughafens , stopft seine eigenen Mitbringsel , Brieftasche , Buch usw. in das Haltenetz an der Rücklehne des Rollstuhls . Ihres Rollstuhls .

 

So viele alte Leute heute an Bord des Flugzeugs ; eine Gesellschaft der Zerbrechlichen und Siechen , wenn man bitter sein möchte . Das größtmögliche jemalige Reich der vergegenwärtigten Erinnerung , noch nie dann auch so auf eine Spiegelfront ausgerichtet : Weißt Du noch ? Damals ? Noch ?  ` Damals ´ und `noch ´ sind die meistgenutzten Wörter in diesem Gespräch . Die abgeleitete Herrschaft des `noch ´. Noch nie gab es soviel zu spiegeln , noch einmal gucken , noch nicht vergessen . Passt natürlich zu dieser Stadt .“

 

„ Am Giudecca –Kanal , abends : Speckschwartenglanz auf dem Kanal ,  und Strudel im Wasser wie von Stromschnellen . Weiter runter am Kai sind alte Boote vertäut . Die Schiffsfriedhöfe von Venedig : Jeder Bug blind , jedes Heck traurig und verwundet . Entgegen aller Erwartung sind die Leben hier nicht abgerundet . Wasser wühlen in den Treppen-einschnitten . Kurzberockte Japanerinnen schreiten aus wie irgendwo angelockt .

 

Venedig ? Ich war ja schon mal hier , wie fast sowieso die ganze planetarische Bevölkerung . Nur Aliya noch nicht . Was fällt einem schon noch ein zu dieser Stadt . Das Mainstream-Getrotte will einem einfach so die Reisesehnsucht austreiben  .“

 

Mittwoch 29.September

„ Liebe Aliya ! Was ich an der Arbeit mit Dir so toll finde , so dass ich es besser überhaupt nicht als `Arbeit ´ bezeichne :

Du bist blind . Und das macht Dich auf die Welt neugierig . Die Besuchertrauben hier hinter Fremdenführern hertrottend oder mit  Ehepartner im `Guck-mal-Agathe-Modus ´ : Die sind ganz anders blind .

Alles , was man in der Gruppe sieht , wird sozusagen gleichzeitig gelöscht . Ja , ich weiß , das wäre dann ein Argument gegen Museen und Kino und gegen Public-Viewing sowieso . Aber mir scheint , nur wenn ich morgens allein auf bin , zu Hause den Fluss und die Weinberge und die Dörfer sehe , den Qualm aus dem Schornstein und einzelne Autoscheinwerfer auf der Uferstraße : Dann sehe ich wirklich .

 

Und da , wo alle sehen : Sollte man die Augen zumachen und einen Dichter hören .

 

Du bist reicher als die , die sehen KÖNNTEN , es aber nicht tun oder sich gleich verlassen auf Seh-Autorisierung via Digitalcamera und Selfie.

Obrigkeitsgläubig , alle diese Globetrotter  . Hier in Venedig ist das besonders beleuchtet .

 

Nun . Wie dem auch sei . Über der Stadt : Nicht landende Vögel und wachsame Kirchtürme  . Regen stäubt gerade an die Scheibe ; eine Zufallsregatta kreuzt vorbei  auf dem Weg vom Airport . Jetzt hört man Glocken und sieht Menschen in den Gassen .

 

Das ist die Stadt , in der Carpaccio ( der Maler ) die Hinterpartien der Gondoliere entdeckte , die knackig gültig blieben bis in unsere Tage hin ; immerfort Gesäßbacken : Hintersinnig zeitgemäße .

 

Zwei junge Amerikaner , er und sie , wenn sie sich bei Wiedersehenstreff  im Flughafen wie Schmetterlinge aneinander werfen : Eine sympathische Verschwörung .

 

Ein junges arabisches Paar . Sie ist fast ganz ,schwarz und braun , verschleiert , in leichtem Tuch , nicht un-elegant ; nur Augen und Nase sind sichtbar . Sie geht immer zwei Meter hinter ihrem Mann , aber wenn er stehenbleibt , schließt sie zu ihm auf .  Sie betrachten die

Sehenswürdigkeiten und Perspektiven , und , was mich überrascht , SIE hat eine dicke Kamera umhängen und macht selbstbewusst und kritisch viele Bilder , dirigiert dabei ihren Mann vor die Perspektive .

 

Die Skyline gegenüber Giudecca ist eine Zuckerbäckerstraßenzeile , im Morgenrosa : Wie  Zahnarztträume !  Ein Schwelgen in der Konditorei .“

 

Donnerstag , der 30 September :

„ Der herbstliche Wellengang , den man auf dem Vaporetto spürt ,  speichert sich in unseren Kniekehlen  für den ganzen Tag , und lässt mein Gehen auch  an Land schwanken ; Vollmatrose der man ist  , als seien wir auf dem Stern der Trampoline : Die ganze Welt ist elastisch , wie zum Nachgeben gemeint .

 

Helden des Morgens : Das Meer ; aber auch eine Washingtonie und ein fächernder Bananenbaum , aus mauerversteckten Gärten ragend .

 

Schiffe ! Ein stur immer neuer Formationstanz . Die Häuser dahinter sind vertrauensvoll gesenkt geneigt gesackt eingeschlafen am Kanal , doch weniger als ich aus dem Paradies vertrieben .“

 

Malevitch spielt Bass bei den Jazz-Messengers in der Scuola Giovanni  Evangelista zu Venedig  . Kommentar :

 

„ Es gab nur wenige Proben , Leitsatz : `Ohne Proben/ganz nach oben !´  und jedes Mal haben wir den Miles-Davis-Standard anders gespielt . Bläsersatz ! Diesmal hört man da das Niederzwingen eines großen Tieres , Bläser in Silber und Gold ; wir andern mit Elfenbein und Saitendraht haben erst mal Pause .

 

Zwei schwarze Saxophonisten vor dem Weiß der Kirchenwand : Ein guter Kontrast . Die  Könige in Bethlehem ; im Crescendo wie dem eines Action-Films stehen sie trotzdem locker . Solos schrill , wie ausge-bremste Taxis : Gab es in Jericho schon Taxis ? Barockgrimassen in Musik verdoppelt  auf  Gegenwartsniveau .

Alfonso den Skulpteur brachte das auf die Idee :`Frenetischer Beifall als Skulptur ´  darzustellen – , korinthisch zum Beispiel , als : Aufbruch pur. Venedig ist ….vieles ; aber auch eine Jazz-Rhapsodie .

 

Ausgefallen coole Besucherfrauen mit Cordhut :  `Wir stöbern nur in Venice , haben schon alles ;  aber zur Sicherheit auch noch den Stadtplan dabei .´“

 

 

„Japaner trauen sich auf die Gondel , auf nie endender Suche nach der aquatischen Leichtigkeit des Seins : Hinter dem Schlüssel am Gondelschnabel treiben wir steten Bilderfang durch Kamerasauger.“

 

Malevitch weiß nach seiner Rückkehr über dem vierten Bier immer noch nicht , wie er es Aliya erklären soll .

„ Nein , ich verstehe es nicht ! Diese Menschen sind nicht blind . Sie sind ganz normal Sehende . Ich weiß  nicht , wie für mich das Leben als Blinder wäre . Ist das wie eine Weichzeichnung der Welt ? Um es positiv zu sehen .

Aber diese Sehenden : Warum fotografieren sie wie die Wilden ? Als ob sie nicht glauben könnten , dass sie auch ohne Digitalcamera und Selfie sehen würden . Darf ein blinder Mensch beleidigt sein ob dieser Besessenheit ? Irgendwie  wie ein Millionär , der die nächste Million auch noch braucht  .“

Aliya sagt dann : Nein , sie verstehe es auch nicht .

 

Freitag , 1.Oktober

„Wenn das Boot an den Anlegerponton rempelt , fällt mir auf ( so Malevitch weiter ) :

Die alten Häuser präsentieren ihre Fassaden wie im Kartoffeldruck , farbsortiert , grobkariert ; nicht zu schön  , doch schön genug .“

 

„  Backbord voraus : Ein Vaporetto tritt aus der Krümmung vom Canale Grande : Langsam ,  ein bisschen wie ein blinder König auf die Bühne gezerrt wird .  An den Malven in unserem Hotelgartens vorbei  ; der Canale dabei so etwas wie eine vibrierende Bühnenplanke .

Ich fühle mich immer nach dem Passieren eines Schiffes , hier an den Fassaden der Paläste vorbei , wie durch eine gute Botschaft erleichtert .  Ein Schiff lässt sich steif herzitieren , wie eine Marionette. Möwen mischen sich in die Porzellandämpfe : Das sind die weißen Frühnebel .

Die Häuser auf der Riva dann ! auf gesackten Mauern und Pfeilern . In dieser freundlichen Kontorsion , die das Haus schon seit Jahrhunderten hält , etwas von der einen in die andere Hand umbettet , liegt eine Art Gruß : Das Haus spricht zu Dir . Später erfährst Du, die Balken des Fundaments stammten von den Rümpfen alter abgewrackter Segler . Teile des Hauses sind also schon mal um die Welt gefahren . Auf dem Kiel gekippte Galeonen und Galeeren neigen sich zutraulich über die Gasse in Pastelsandstein und kalkbröckelnden Fassaden . Schreckensbleich , ergraut , peinlich rot berührt : So geht das Farbenspiel auf  Straßenzügen der Altstadt vormittags .Wohnte man hier in diesem Gassenlabyrinth : Die Nachricht vom Lottogewinn fände einen nie .“

 

„ Denk Dir , Aliya , wen ich gestern traf . Herr und Frau v. Söringer .

Sie taten so , als ob sie mich nicht gesehen hätten ; tragen ja ohnehin die Nase immer ein bisschen hoch . Und wo sie sind , verbreiten sie den Eindruck , sie seien there strictly on business . Ich vermute , SIE ist auf Einkauf von Messwein , für Pater Brown oder Pfarrer Knorr ( gibts bei den Evangelen auch Wein zum Abendmahl ? ) ; und ER ist wahrscheinlich auf der Suche nach der letzten noch zu kriegenden Immobilie . Man hört , draußen auf der Lagune seien noch einige Fischersteghütten gerade eben nicht in Oligarchenhand . Wer weiß . Na ja , und nachmittags trifft man sich zufällig wieder , in der kleinen Kirche Scuola….. , die einen berühmten Caravaggio haben . Beinahe hätten sie mich nicht nur gesehen , sondern auch gegrüßt , wenn ….nicht draußen ( ich will rein , sie wollen raus ) ein konzentrierter Angriff von Möwen und Tauben auf Herrn v.S. erfolgt wäre ; sein Mantel , sein Schal , sein Kopf voller Vogelscheiße . Ich wollte ihm schon vorschlagen , in den Guano-Handel einzusteigen .“

 

„ Auf dem Weg zu einer alten Kathedrale in der Lagune . Ein Dörfchen kommt backbord in Sicht , nur ein Weiler , gelegen an einer Flusseinmündung . Schlick – und Sandwülste brüten wie eine zusammengepresste  Stahlfeder . Wenn das Land sich so in den Fluss hinein presst , haben die Bänke die Zeit aufgehalten . Wie long term geparkte Autos . Wer wäre einsam angesichts von Gezeiten .“

 

Malevitch hat später ein Lied parat :

( Das vom Lido-Hotel  )

 

hier am Fenster ists steril

und Lounge Music riecht nach nichts

angesichts des Wassers überall blaugrün-

graue Tarnung des Herbstlichts

 

Lounge Music ist Glückssache

manchmal nichts für Nervenschwache

Marinemaler planschen im Aquarium

die Fenster sind dicht

sie planschen stumm .

 

Endlosschleife hinter Barfenstern

ein Missverständnis , sagen Meere und Gezeiten

aber bitte ! wir verstehen dass unsere

Rhythmen Euch Schwierigkeiten bereiten .

 

 

Samstag , 2. Oktober

„ Das solltest Du sehen !  Die japanischen Kämme in der Ca Pessaro  , in der Ostasien-Sammlung! Eigentlich müssten hier Besucherinnen Schlange stehen , aber ich bin ganz alleine auf dem Flur . Nur 20 Miniaturen ; viel leerer Raum im Bilderrahmen und dann nehme ich 1 Detail mit Anlauf  ;  habe realistisch eine Realität durchkämmt ,die nicht detailüberschwemmt  ist  ; aus Holz oder Metall , darauf ein Blütenzweig mit Schmetterlingen in begrenzter Zahl . Kämme ….und ich habe an Dein Haar gedacht .

 

Am Bootsanleger gibt es lauter Nicken an den Landungsbrücken ; Venedig ist also eine Stadt voller Zustimmung .“

 

Sonntag ,3. Oktober

„ Hatte eine schlaflose Nacht ( daraus mache ich wie der Pavlov´sche Hund immer einen Song ! ): natürlich bringt einen Venedig in Stimmung für so was :

Willst Du es hören ? Ich schicke es Dir :

 

In dieser Religionsstifternacht

im Hilton wird nirgends ein Fenster aufgemacht

 

weil sich hier kein Blick öffnen lässt

ist der Anfang auch schon wie ein Rest

 

in der Stadt die mit Erlösung dealt

mit Sinnfindung ( klar doch!) Menschen abfüllt

 

hier kommt alles Reisen vorbei

mit Katerstimmung nachts um drei

 

( Gut , oder ? )

 

Venedig bricht an der  Trennlinie zwischen Kunst und Banalität . Diese Stadt ist nichts für schwache Nerven . Bist Du , süße Aliya  , schwindelfrei?“

 

„Venedig macht schlechte Laune !“

 

„ Die  sieben Inseln der Lagune sagen aus der Ferne : So wie wir uns in das Wasser kuscheln : Komm an unsere Brust .

 

Wir drehten auf San Michele / Cimitero .

Das Boot fährt umständlich um die ganze Insel herum , aber irgendwann ist es dann da . Weißwasser spritzt um unseren Bug , an Bord der Betriebsausflug aus Minneapolis  und Duluth : Viele Sexagenarians mit nicht mehr viel Zeit .

Seit etwa 1950 gibt es alle Gräber auf dieser Friedhofsinsel  mit Photobeigabe (!)  : Freundlich lächelnde Ex-Zeitgenossen hinter Glas , dem Grabstein eingesetzt .  Aber….das ist ein anderer Fotokult .

 

Badeschaum im Kielwasser der ablegenden Boote. Alle Vaporettos  putzen sich breit die Zähne .  Dieselgeräusch ,  das an Zahnarzt erinnert ( aber an einen heilenden ! ) . Aufsetzende Bugpartien von Schnellbooten polieren an diesem Edelstein .

 

Sankt Petersburg oder Lissabon sind andere Städte , die Du nicht  kennst , vielleicht fahren wir da mal hin ?  wo drüben hinter der Wasserstrasse Häuser stehn . Wasser heißt : Alles ist vorläufig, alles wird verziehen . Ist somit verlängerte Kindheit ,  Venedig oder Lissabon : Man hat ewig davon .“

 

„ Gesucht : Irgendwo : Ein dazu passendes Meer !  Haben SIE nicht irgendwo eins gesehen ? für diesen unsicher seine Fahrt antretenden Schiffs-Koloss : ` Knossos Adventure ´ ?

Beim Auslaufen des Kreuzfahrers gibt es auf dem Oberdeck eine Art Demonstration , dicht gedrängt , Abstimmung mit den Füßen  : Alle wollen noch mal so eine richtig schnuckelige Kleinstadt sehen , asynchron niedlich , am besten von oben .

 

Krummboote sind manchmal auch nur mit Gondoliere , ohne Fahrgäste unterwegs : Halbmonde unter den Füßen wie eine Renaissance- Maria . Dosiert geprüft mischend streichelnd ans Ziel über den Giudecca Kanal .

 

Die Werftarbeiter aber fahren mit der Schnellfähre  zum Terminal San Basilio ; Nachtschicht !

Im Sonnenuntergang  leuchten noch lachsrot Ziegelsteinhöhen auf : Il Redentore , fleischfarben wie Tante Rosas Korsett .

 

Vor dem Danielli-Anleger ; Bootsmotoren gurgeln , Jogger überwerfen sich mit Pudeln . Weißer Buggischt wie Brilliantenfassung dazu . Schiffe sind eine große Verlässlichkeit wie Mutterhand . Wenn Giacomo Neuhaus wüsste , wie ich sein Schiff liebe  .“

 

Soweit Malevitchs Venedig-Tagebuch .

 

 

2

Nachbemerkung :

 

Die Löschtaste !  Was dem einen die Dusche , ist dem anderen besagte Taste . Dachte sich Malevitch . Öfters . Beim Schreiben . Was dem einen der Beichtstuhl , ist dem anderen sein Meerspaziergang . Ist dem dritten die Löschtaste . Am Flughafenschalter sagt einem die  Angestellte : Ihr Gepäck hat Übergewicht . Können Sie nicht was aus-oder umpacken ? Jedem Tag seine `Entf-´taste , am besten schon vormittags , sagte der Selbstmordkandidat . Oder , wenn der Suizid warten kann , geht man am Fluss spazieren und beobachtet die schönstmögliche , jeden Frischerekord brechende Entsorgung .

 

 

XIII Pfarrer Knorr im Hintergrund

 

1

„ Die Schwerkraft hat es manchmal schwer,“ sagt Giacomo .

„ Man möchte gelegentlich nachhelfen . Etwa dort drüben .“

Die  Anfang- Zwanzigerin , um die es geht , sitzt mit ihrer Freundin beim Frühstück im Chien Anadolou ( Sie lesen richtig : Das Café hat seinen Namen und seinen Pächter gewechselt  ) : Ein Schulterriemen ist herunter gerutscht , was sicherlich nicht Zufall ist ; zumindest ist es der Besitzerin nicht peinlich . Allerdings hat sie ihren Auftritt hier als `große Müdigkeit ´ getarnt , was bei einer –wetten wir ?- Künstlerin  auch durchgeht , nachdem sie sich sicher in der Nacht an Staffelei oder  Skulptur verausgabt hat  .

Nicht nur da , wo der Riemen weggerutscht oder -gerückt worden ist , wird jetzt langes panterhaftes Haar aufgelegt , und , wenn dieses sich wieder auf die andere Seite gewedelt findet , ist viel Milchrosa ( Haut!)

zu sehen : Sehr frisch , gesund und munter und allgemein belebend  .

Über der beschriebenen Haut  klimpert munter ein Ohrring .

„ Schwerkraftnachhelfer ! das wäre doch unter gegebenen Umständen ein redlicher Beruf ,“ sagt Giaco.

Ihre Nachbarin hat wirklich sehr enge Jeans an , was sie – warum auch immer –  weniger intelligent herüberkommen lässt .

 

2

Nach zwei Wochen Novemberregen kommt also noch einmal die Sonne heraus . Lila merkt es , als sie auf den nassglitzernden Bürgersteig schaut und sieht : Sie wirft sogar einen Schatten ! Nur schwach , aber es ist doch fast wie Schrift , fast lesbar . Sie hat ihren Gatten zu einem Besuch bei mir abgesetzt (`den armen Strohwitwer trösten ´) und Hochwürden erwischt mich beim Hemdenbügeln .

 

Tango und bügeln .Tangobügeln . Das eine wie das andere  ist imkompatibel mit schlechtem Atem . Ich bügele immer selbst , und gar nicht so schlecht , findet jedenfalls Anne .

Was mir genauso neue Kraft an schlaffen Tagen gibt , sagt Knorr  : Entrümpeln , wegschmeißen ; zur Wohlfahrt bringen . Am besten , wenn man sich dabei einbildet , man habe soeben ein Opfer gebracht .

Etwas opfern ist die aktivere Schwester von Fasten , Entsagen . Sozusagen auch zeitgemäßer , action- hafter .

 

Was tut das gut ! Im abgesicherten Bunker sitzen und sich sagen : Egal was ich da jetzt draußen verliere ( aufgebe!) , an meinen innersten Besitz kommt ihr nicht dran . Wieviel ich doch habe , und wie sicher mir dieser Besitz ist . Und was ich habe , genieße ich jetzt intensiver : Genussverstärker , intensiver leben , eine Art Droge : Komm , wir ziehen eine Nase Opfer .

 

3

Beim Friseur im Lehnstuhl . Ja , hier , zuhause in Emmerich , denkt

Knorr . Nicht irgendwo im Ausland , dem flussdurchkreuzten.

 

Er ist auch rechtschaffen geschafft . Die letzte Woche ! Können die Leute nicht gleichmäßig übers Jahr versterben , gebären ,`Ja´- Worte hauchen . Es war wirklich wie ein Rennen vor Ladenschluss , was da auf einmal alles kirchlichen Service in Anspruch nehmen wollte . Und die

neue Idee musste erst mal warten : Wettbügeln in der Kirche .

Knorr hat aber schon  die Einladung  im Druck .

 

Im ausgeräumten Kirchenschiff werden also zwanzig Bügelbretter stehen

und Profis und Amateure , -Auch-sonst-Bügler und Bügler-Novizen  bügeln was das Zeug hält für einen guten Zweck ! Bringen Sie ihre Wäsche vorbei und lassen Sie bügeln , oder machen Sie gleich selber mit ; um diese Erfahrung geht es ja : Das Herstellen von Sanftheit und Glattheit , sozusagen eine Art Tisch-Decken , die Welt bereit machen für Gaben , für Kommunikation , für Sagen , Hören , Streicheln und Schwamm-Drüber . Auf die Idee hat ihn übrigens Hammelrath gebracht , und sein Name muss unbedingt im einleitenden Vortrag erwähnt werden.

 

Surat wieselt und zappelt um Knorr rum , macht  auf Helikopter-Rotor ; der Kunde selbst verzieht nur mal den Mundwinkel , probt die Feldherrenmine , wird imposant Herr über Tod und Leben . Finster der Blick ; kritisch das Auge , Blick geradeaus , dem Leben ein Stoß mitten ins Herz  – auch wenn das Leben einem selber gerade ziemlich ähnlich sieht .

Friseure können jedem Leben einen Höhepunkt geben.  Friseure sind auch ein Publikum , für das man leben könnte . Als ich mich eben in den

Frisiersessel fallen ließ , war ich zehn Zentimeter kleiner . Mit jedem

Schnipp ! der Schere wachse ich wieder , denkt Knorr .

 

Ein Blick aus dem Fenster auf die Passanten ; aber jetzt geht einen das Draußen glückliche 10 Minuten nichts an . Insgesamt passable Performance da draußen   ! ja wir haben gute Plätze . Soll die Welt doch mal gucken , wie sie ohne uns klar kommt , das hat sie jetzt davon ; wir sagen Surat mit knarzender Kommandostimme , er solle sich ruhig Zeit lassen , so ein Boxenstop ist viel zu schnell vorbei . Ach könnte man in diesem Kino dauerhaft leben .

 

4

Aliya bittet Giacomo  , ihr zu sagen , was er sieht .  Er räuspert sich und beschreibt dann jene Japanerin dort , die mit ihrem Bekannten hereinkommt und sich am Nebentisch niederlässt . Sie trägt , unschwer festzustellen , einen schwarzen BH .

Die junge Japanerin und ihr Begleiter ,  (noch ?) nicht ihr Freund oder Gatte , sind , wie wir merken , in einem Gespräch bemüht , gefangen ,

verwickelt . Beide sind bestrebt

 

a ) sich selbst möglichst interessant zu machen

b ) möglichst viel Interesse am Anderen zu zeigen .

 

Neudeutsch gesagt : Man baggert , `hier gibt es freies Baggern für alle´ .

Eigentlich , trotz a) und b)  , ahnt jeder der im Radius von zwei Metern unterschiedlich Betroffenen , dass jeweiliger  Wortlaut und Thema ziemlich schnuppe sind . Wobei immerhin die Wortwahl Initialzünder für Scherze , Bon Mots , vorübergehende Missverständnisse abgibt .

Zunächst spricht man über Paris : Warst Du schon mal in Paris ? Ja , aber nur kurz . Nur die Sehenswürdigkeiten . Warst Du auch auf dem Tour Eiffel ? Ja ? Ganz schön hoch . Man sieht wirklich weit .

Dann geht die Thementour über Lieblingskaffees hin zu Energydrinks . Um in Verden in Niedersachsen Station zu machen , wo sie eine Fachhochschule besucht hat . Was ist da die nächstgelegene

Großstadt ? Oldenburg ? Ich dachte , das wäre in Bayern . Und Bremen . Soll ja auch eine schöne Stadt sein . Ja , wirklich . Ich fand früher Werder Bremen einen tollen Fußballverein .

 

5

„ Wo ist eigentlich Malevitch?“ fragt Aliya .

„ Ich habe ihn schon seit zwei Tagen nicht mehr  treffen können . Ich glaube , er hat sich in seiner Kajüte eingeschlossen ,“ mutmaßt Aliya.

Ich weiß Genaueres , zögere aber , die Geschichte in all ihrer Skandal-trächtigkeit weiterzuerzählen .

„ Er schämt sich .“

„ Wie ? Wofür denn ?!?“

Ich erzähle ihr , man habe unserem Sänger den Preis aus Venedig wieder aberkannt , und winde mich ein bisschen , als ich von der Urteilsbegründung erzähle .

„ Du hast es vielleicht nicht mitgekriegt , seinerzeit , über Karneval . Wir hatten den Erfinder der `Sound-Exterminator´ Maschine an Bord . Dr. Brandstaedter . Malevitch hat also damals an der Bar mit dem Doktor Freundschaft geschlossen , und der hat ihm ein Exemplar des

S.EX. Automaten ausgeliehen . Und Malevitch hatte nichts besseres zu tun , als den Automaten auszuprobieren .“

„ Ja und ?“

„ Er machte das auf dem Konzert eines Uralt-Feindes von Malevitch .

Ein – Malevitch nennt G-Wise immer einen weichgespülten Softrocker ,

mit GANZ VIEL GEFÜHL und das IMMER  – also jedenfalls ein Intimfeind von Malevitch  gab da dieses Konzert im Festzelt der Gay Community in Neuss – und der Automat hat alles , was irgendwie Sound war , weggeschluckt.“

„ Aber Malevitch ! “ haucht Aliya . „ Und jetzt ?“

„ Jetzt vergräbt er sich erst mal in der Kabine . Und dann wahrscheinlich einige Zeit auf dem Schiff . Ohne Landgang .“

Malevitch hat wirklich nicht viel , mit dem er sich von seiner Misere ablenken könnte , keine Inspiration ; denkt zufällig an den Erpresserbrief,

den Brandstaedter bekommen hat . Was wird seine Frau von dem Bild  denken , das ihren Gatten zeigt mit – wie heißt die Dame vom Oberdeck noch ? bzw. wie nennt sie sich hier ?  Ich wette , dieser Ratzy steckt dahinter .

 

6

Und es gibt das zweite Tango-Festival an Bord .Fast alle Teilnehmer sind ein bisschen aufgekratzt wegen des ungewohnten Ambientes ;

Malevitch gibt seine monastische Zwangssperre auf und

singt . Alles jubelt und klatscht , seine Geschichte ist mittlerweile bekannt geworden , und niemand ist ihm böse ; alle sind erleichtert , dass er wieder auftritt . Und zur Einstimmung singt er gleich eine schaurige Ballade  :

 

Wisch im Porzellanladen

( zeitgenössisch )

 

 

Er trägt die ganze Welt huckepack,

der Grobmotoriker mit  City- Rucksack ,

und glaubt einfach nicht , dass hinter ihm was ist  !

(wo er erstmal war…. IST es dann auch wüst  )

der Grobmotoriker mit City-Rucksack

 

was nur entfernt erinnert an Keramikladen

ist Schauplatz von klirrendstem Scherbenschaden…..

Heh Sie ! Ja SIE ! schon mal was von Tango gehört ?

Nein ? Tango ist – wenn keiner keinen stört ……

und ohne klirrenden Scherbenschaden

 

und diese Enge elektrisiert –

zermalmt  nichts, niemanden blessiert –

doch wer SO nach vorne lebt ( als Rucksacktourist )

wie Sie  –  braucht schon Zeit bis er was vermisst .

niemand zermalmt , keiner blessiert

 

Ach , dem Grobmotoriker ´ne Prise Tango-Dosierung –

gegen  bracchiale Strafraumhalbierung !

Ja , Atlas trägt die ganze Welt im Huckepack ,

Ruprecht-gleich / chic/ tumb/ mit Stadtrucksack

gegen Wetraumhalbierung .

 

Zwei Zwillingsschwestern betreten während des Applaus den Panoramaraum am Bug ; die eine mit weißem Pullover , die andere ganz in Trauer ; schmal , jeweils ein glasiger Blick . Sie sind mit ihrer Mutter zu dieser Milonga gekommen .

Diese Dame ist schlank , um nicht zu sagen schmal , und hat ein

ausgeprägt kräftiges Kinn . Das findet sich alles dann doppelt wieder in den Töchtern.  Die Schwarze ist womöglich Tanzlehrerin ;  sie tanzt in der Folge mit zwei verschiedenen Partnern . Wohingegen die mit dem weißen Pullover nicht tanzt und  bei ihrer Mutter bleibt .

Die Tänzerin trägt eng anliegende schwarze Hosen und Leggings . Aus

schmaler runder Hüfte heraus zieht sie zirkelgenau regelmäßige , eher langsame Kreise  . Ihre Beine sind im Dialog , in einer Art  Kartenspiel , in dem man auf die niedergelegte Karte des Gegners wartet und dann zielbewusst reagiert . Sie gleitet mühelos von einer Spirale in die

nächste , alle zusammenlaufend in ihrem süßen Hinterteil , grazil , kieselrund ; Barrida ; Cancho , schnipp .

Die vollendeten , im Höchstmaß eleganten Bewegungen , ein Wehen und Streicheln und Beruhigen sind wie eine endgültige hohn- und hoheitsvolle Antwort auf  männliche Vergewaltigungsfantasie :

Diese Eleganz ist nicht zu zerstören , diese Würde von weiblicher Vollkommenheit  ist nicht zu zerzausen.  Cancho! ( zu deutsch : Haken !) …..und sie hat blitzschnell ihr Knie angewinkelt und Schienbein , Fuß und spitzen Schuh hinter den Schenkel ihres Partners gelegt .

 

Und doch ! wenn ich heute , am nächsten Morgen noch unter dem Eindruck ihres Auftritts, an sie denke , frage ich mich : Hat die Nacht nicht alles getilgt , hat sie womöglich heute morgen Kopfweh , den Wecker verschlafen ; putzt übellaunig die Zähne mit Schaum vor dem Mund und schreit etwas die Treppe in ihrem Einfamilienhaus am Wendehammer ihren Kindern unten nach ?

 

7

Backbord an diesem Nachmittag eine Reihe von freundlichen grünen Uferbuchten . Die `Cythera´ schwappt gutmütig an ihnen vorbei , Rheinknie ein. Rheinknie aus .

Derweil an Bord Knistern und Sprungbereitschaft : Das Tangomenuett .

Übertrieben gesprochen : Wie der Fluss uns die Richtungssuche abnimmt und eine Richtung vorgibt ….. so zwingt der Tango die Tänzer in einen Kreisel auf ein Parkett , eine Linie , ein Treppen- Zickzack , eine Konkavserie : Menuett .

Wehende Röcke ,  Gardinen in plötzlichem Windstoß , ein munterer Fohlenkick , in einer Largopartie wie in Zeitlupe vornehm stochernd  .Oh Piazolla ! Deine Säge von Konstellationen .

Die Frau vergibt ihren Kopf an die Schulter des Tänzers , ihre Augen abgewendet in eine innere Emigration . Wie zwei Wachsfiguren  ineinander verschmelzen , bei Hitze Wirbel und Gegenwirbel . Manchmal wie ein Ehekrach in kleiner runder Küche mit Tritten : Ein Scheinboxen zu Fuß . Luftnummern .

Am schönsten zu sehen sind die Paare , die  in etwa gleich groß sind ; bei ihnen gibt es ein Nochmehr an Kohabitation und Assimilation . Geben und Nehmen , Schieben und Ziehen . Der schmale und kleinwüchsige Tanzlehrer im schwarzen Anzug , unter dunkelöliger

Tolle , pendelt vor einem Ausbruch ; steht markant wie einsam .

Die Frau ergeben . Carlos Gardel sieht und segnet alles .

 

„ Doch , ich habe sehr gut geschlafen ; entschuldigen Sie mein Zuspätkommen zum Frühstück “ , sagt einer der Turnier-Profis , mit

iberischem Tonfall :

„ Ich hatte wieder diesen Traum , den ab und zu wohl alle Tango-Tänzer träumen : Man liegt auf dem Rücken , auf einem Schneefeld , auf einem Floß auf einem See  ; jede nur mögliche Körperzelle – alle Körperteile sozusagen außer der Nasenspitze – sind an den Boden – nicht

gepresst , sondern angeschmiegt ; eine Ekstase des Liegens beseelt  Dich , so muss Leben sein , oder zumindest gewesen sein , als Du zum ersten Mal von deiner Mutter in eine Wiege gelegt wurdest . Gulliver ,Sie erinnern sich , wird auf Lilliput von den Zwergen auf dem Boden festgezurrt :

Eine herrliche Vision . Fatalismus pur ! Der Boden unter dir von Dir verhaftet , dingfest gemacht , Du hinderst ihn am Wegfliegen ; und über Dir der Himmel : Dein weiter extraweiter Gesprächspartner .“

„Da sind Sie ja auf einem Fluss an der richtigen Stelle , sozusagen auf dem Transportband ,“ sagt Starbacks .

„ Ja , es ist Fatalismus pur , seht her , ich bins , Unschuld und Verletzbarkeit im Zustand völliger Geborgenheit .“

„ Und was ,“ frage ich , „ hat das mit Tango zu tun ?“

„ Nun ,“ so die Antwort , „ Tango , was ist Tango anders als ein wildes Herumfuchteln mit Senkrechten ? Besenstile , die überraschend schnell an allen möglichen Stellen des Raumes auftauchen ? Nur die Beine bewegen sich , trippeln , gehen zurück , greifen Raum ; der Oberkörper bleibt starr , maskenhaft , eine Gefriervisage  . Alle unsere Verdammnis , wer zu sein , ein Subjekt , ein Name , ein Charakter , irgendwer , irgendwer : aber das gefälligst bis zum Ende ! Bluff, ohne Möglichkeit des Entkommens oder des Maskenwechsels : Das ist der Fluch des Tangos“ usw.

 

8

Giacomo Neuhaus , der Seiltänzer . Gut , dass er gerade nicht seiltanzt , dazu ist er zu besoffen ; und Knorr ist auch nicht viel nüchterner .

Sie stehen am Niedergang zu den Toiletten , von unten schaut Botswana ängstlich nach oben , weil sie beide nicht trittsicher wirken und vielleicht gleich herunterfallen wie aus dem Apfelbaum geschüttelt .

 

„ Wie schon wer sagte ,“ artikuliert Giacomo gerade , „ es gibt zwei Arten Tragik : Nicht zu kriegen , was man will – oder es tatsächlich zu

kriegen .“

„Oscar Wilde .“

`Sex allein macht auch nicht glücklich ´ : Giacomo überlegt allen Ernstes,

ob er nicht das als Wappenspruch für die `Cythera´ nutzen sollte .

„ Einer schönen Frau opfern :  Im Gedanken an sie masturbieren : Eine fromme Tat .Wie Woody Allen sagt : Masturbation ist Sex mit jemand , den man liebt !

Aber Sex allein mündet für mich auch immer in den amtlichen

Bescheid :

 

Du bist einsam .

So schauerlich einsam . Ja , Du bist kein Kind mehr , erwachsen  : Aber was hat es Dir gebracht ?“

„Und  Sex zu zweit ?“ fragt Knorr .

„ Ach ja .  Die Situation zu zweit im Bett ist allzu oft ( nicht wahr ?)  ein Belagerungszustand : Ab jetzt kann jedes Wort , jede Handlung  , alles womit Du wahrgenommen wirst durch Deine Partnerin : Gegen Dich verwendet werden .

Ja , ich bin jetzt Dein Schicksal , und Du bist meine Sackgasse .Hick.“

 

Es gibt später in diesem achzu warmen Herbst eine Veranstaltung für Standardtänze auf offenem Platz in Roermond , in den Niederlanden , wobei es allerdings regnet !  Penner treffen sich am anderen Ende des Platzes ; ein Mädchen, etwa 10 Jahre alt , leistet dieser Gruppe  Gesellschaft ; spielt mit einem Hund , mal mittendrin unter den Stadtstreichern , mal ein paar Meter weg .

Soll man sich beim Jugendamt wegen dieses Kindes erkundigen ? wäre das telefonisches Denunzieren ? Ein gleichaltriger Junge gesellt sich zu der Pennergruppe , schießt einen Fußball in die Gruppe der Tango-tänzer ;  ich spiele den Ball zurück .

Später erzähle ich das Pfarrer Knorr . Als ich mich ausführlich über die Penner und ihre Fantasy Stories , zwischen Heulsusigkeit und Wutbürgertum , aufgeregt habe , will er besänftigen und fragt :

„ Haben Sie nie ? in ihrem Leben ?  einmal Phasen gehabt , derer Sie sich heute ? schämen ?“

Die  pädagogischen Dringlichkeiten in seinem Satz sollen mich dazu bewegen , in mich zu gehen und von meinem hohen Ross herunter zu kommen . Na ja , den Punkt kann er haben . Ich frage aber , immer noch übellaunig , zurück :

„ Und Sie ? Wie kommen Sie zu Ihrem Menschenbild ? erstmal auf Vorrat alle Menschen für unschuldig zu halten ? oder wenigstens entschuldbar ?“

Er winkt mich näher herbei , als wolle er nicht von allen gehört werden , und sagt hinter vorgehaltener Hand :

„ Ich begegnete dem Teufel  , der mir einen Wunsch freigab im Tausch für meine Seele .“

„ Und was wünschten Sie sich ? Und ……wie lebt es sich so ohne

Seele ?“

„ Ich wünschte mir vom Teufel ein gutes Menschenbild . Sobald ich einem Menschen begegne , sehe ich in meinem Gesprächspartner einen

taumelnden Engel , der wieder ins Gleichgewicht kommen will .

Und was meine Seele angeht : Hier und heute lebe ich ganz gut , und an ein Jenseits glaube ich bei der Supervision .“

 

1o

Malevitch ist mit Aliya in Bamberg unterwegs . Aliya ist neugierig und  atmet  die Stadt  durch ihr Gehör , auch durch ihren Geruchssinn , ein . Malevitch aquarelliert, wenn man zu diesem Wort greifen darf , trifft es doch die ausblassenden , aus-und verlaufenden Eindrücke , wie sie ein Musiker und Sänger halt wahrnimmt , und schildert was er wahrnimmt  .

„ Es ist nicht Ursache und Wirkung , aber auch nicht  Zufall ,“

erklärt er seiner Begleiterin , „ Du hörst vielleicht  nicht unbedingt einen Unterschied : Der Verkehr in der Stadt ist  eigentlich  genauso hektisch wie mittags , eher noch mehr , auch noch im Herbst .

Aber die Lampen ab späten Nachmittag machen die Stadt  zutraulich , der böse Wolf kommt näher und wedelt lieb mit dem Schwanz . Lichter gehen an, und Menschen sind zuhause oder gehen nach Hause . Sie sind im Feierabendmodus . Es sind nicht die Lampen , die ihnen diesen  Impuls zumorsen ; aber fast könnte man es meinen . Die Stadt ist zutraulich , hinter den Fenstern Glanz , über friedlichen Aktivitäten wie Essen , Trinken , Freunde treffen ; als ob die Lampen dieses Verhalten jetzt eingeschaltet hätten .“

 

11

Giacomo erzählt von Frau Kosziusko , künftighin : Frau K.  Sie ist die Sekretärin von Pfarrer Knorr und gebürtige Polin . Ihr Deutsch ist unauffällig , ihre Stimme überhaupt nicht . Eher rauchig wie von

Whisky ? vielleicht ; und wenn sie ( die Stimme ) nicht slawisch getönt

ist , dann italienisch .

Lebenserfahren , und doch zutraulich fast backfischhaft ; verrucht und mütterlich , spöttisch und kichernd , trägt sie eine Sekretärinnenbrille , was dazu passt , dass sie eine Sekretärin ist . Ihre Haare würden schulterlang fallen , aber sie sind immer in einem Zopf nach hinten geworfen . Ihr Busen ist ( auch Giaco kann nur spekulieren , meistens trägt sie Pullover ) wohl straff , ein BH wie in den 50er Jahren wäre ihr  wie zweite Haut gewesen . Hoffentlich zieht sie ihn auch  bei der Begattung nie aus ! denkt Giaco .

Ihr Gang aus der Hüfte heraus ( als würde ein Tennisball von Wand zu Wand einen Korridor entlangspringen , kontaktfreudig ) ist die die Rempelbereitschaft von  Autoscootern : Ihr Gang einfach eine Show . Man hätte ihr gerne den ganzen Tag zugesehen auf dem Weg vom Schreibtisch zu Knorrs Sozialstation am Ende des Gangs.

 

Knorr telefoniert gerade mit mir .

„ Wie das Wochenende war ? Och ja , entspannend . Keine Besuche , keine Besucher . Lil hat gelesen . Ist ja eher nichts für mich . Es war ruhig , abgesehen von diesem Trauergottesdienst . Anschließend allerdings noch opulenter Leichenschmaus , vor dem ich mich aber

früh gedrückt habe.“

Er hält inne und zieht an seiner Zigarre .

„ Wir sprachen doch neulich über die Leute auf der Platte . Einerseits kann sich auch ein gut bezahlter Kirchenangestellter in diese Stadtstreicher hineinversetzen . Muss ich ja , déformation

professionelle , wie die Schweden sagen  . Andererseits romantisiere ich deren ihre Situation  auch gerne .

Übrigens : Per Zufall hatte ich am Freitag kein Bargeld mehr abge-

hoben , und  dann nur irgendwie noch 1o Euro in der Tasche ;

also , sozusagen : KEINE Knete über den Sonntag ! Und dann gucke ich in den Kühlschrank , relativ leer , und ich denke mir : Wir spielen jetzt einfach mal Rettungsfloß im Pazifik , Überlebensübung  . Mit wie wenig kommt man aus über drei Tage hinweg  ?

Ich habe meine Geldbörse und mein Handy im Mantel , bin somit in Maßen beweglich und verbringe die drei Stunden in Wohnungsnähe , im Café , im Buchladen , im Park , in einem anderen Café .

Heimatlos . Ja , ich habe eine Adresse : Theoretisch . Nein , ich kann jetzt nicht an meinen Schreibtisch . Ich bin gezwungenermaßen Voyeur und Flaneur  und definiere mich jetzt über das , was ich in meinen Taschen bei mir habe , zum Beispiel zur Not kaufen könnte  : Wobei mir auf einmal alle Preise stark überhöht vorkommen , als nutze da wer meine Notlage schamlos aus . Unsinn , der Capuccino kostet immer 2,50 Euro .

 

Klar , ich hätte sofort per Karte irgendwo in der Oberstadt  ein 5-Gänge-Menü einnehmen können . Aber wir haben wirklich mal gefastet , sind am Rhein spazieren gegangen und haben uns vorgenommen :

Kein Geld nowhere . Nichts ausgeben , und jetzt haben wir schon Dienstag und ich war immer noch nicht bei der Bank . Das reinigt , ist eine alte Klostererfahrung : Asketisches Lebensideal und so .“

 

12

Wenn ich mich morgens zum Büro aufmache , bin ich unter Kindern , die zur Schule schlendernschleichentrippeln  ; schalldicht verstöpselt die Älteren , oft von ihren Mamis bis zur Ampel gebracht die Kleineren . Miniaturen . Es ist noch dunkel , afrikanische Kinder sind also bestens getarnt , schauen aber oft verunsichert . Ihre Muttis gucken verschlafen , zuversichtlich oder tröstend . Die Kinder haben Berge von Schulsachen in ihren Rucksäcken (Wasserflasche nicht vergessen ! es geht bekanntlich durch die Sahara ! ) . Oft tragen Papa oder Mama den Tournister . An der Ampel , die den noch gar nicht dichten Verkehr

regelt , also von den besonders wachen oder kühnen oder geistesabwesenden eher adoleszenten Jugendlichen straflos missachtet werden kann , halten die Kleineren erst einmal inne , ruckeln den Rucksack zurecht , bekommen letzte Instruktionen von Mama , sticheln gegen die noch kleinere Schwester .

Aber etwas in mir denkt : So ist unsere Stadt doch wirklich ein freundlicher Märchenort , die sieben Geislein spielen zunächst einmal ohne Wolf .

 

Mein Bruder rührt eben in seinem Märchen- Kaffee , dabei werden auf einmal seine Augen starr .

Ja , ich sehe sie auch . Eine veritable Erscheinung . Giacomo sieht sich um wie nach einem Auditorium ,mit dem er sein Staunen teilen könnte.

„ Welche Verschwendung ! Welten von Raum und Zeit : Von Deinem Make-up Spiegel morgens, vom anderen Ende der Stadt , von der Arbeit schnell in die Boutique ( bevor Du wieder nach Hause gehst ) .

Welche genetischen Langfolgen waren notwendig ….soviel Anlauf für die vier Sekunden , die ich Dich hier sehen darf…“

Ich finde sie eher schön als sexy und sage etwas der Art ; leicht giftig füge ich hinzu : „ Da lobe ich mir doch Lila ; unreine Haut und unregelmäßige Zähne . Hat sie eigentlich Mundgeruch ?“

Wie bereits erwähnt , Giacomo und ich sind enge Freunde . Auch

Brüder .

 

Lila hat sich mittlerweile zu uns gesellt . Als ich von der Toilette zurückkomme , reden sie über

 

 

lifestyle .

 

 

„ Sexbesessen ?“ Giacomo ist nicht beleidigt . Eher dankbar , Lila etwas erklären zu können . „ Für mich ist physischer Sex , und sei er noch so

( Du weißt schon ! Nein ? nun, ) abgründig und überraschend , doch nur eine Art Interpunktionszeichen . Punkt Komma Strich , fertig ist das Mondgesicht . Der Text dazwischen ist ( wohlbemerkt , der Text , der auf das Ausrufezeichen zuläuft ! ) die eigentliche Botschaft . Wie  wirbt man für sich ? wie baut man Brücken ? Wie fange ich Dich auf ? Mit Kenntnis welcher Deiner guten Seiten überrasche ich Dich ? Das ist der Text . Wie reagieren wir auf Überraschungen , welche Risiken gehen wir ein , wie viel Leine lassen wir einander , wo ist der Magnetismus ?“

Lila sagt nichts .

 

Wo ich ankreuzen würde ? Wenn ich meinen Bruder beruflich einzuordnen hätte ?

Er ist Rhapsodiker . Hingerissen . Einfach von Beruf hin und weg .

Etwa wenn er ( da fallen mir so viele Beispiele ein ! ) – etwa wenn er Frauenschultern ( nackt !) von hinten sieht . Gespannte Muskulatur unter

Schulterriemchen . Giacomo erklärt :

„Zunächst einmal wohnen wir angesichts dieser Expo einer Verschonung bei . Sie , die  woman in question  , sieht woanders hin und wirft nicht DIR den Medusenblick zu .

Oder , anders gesehen : Sie hat sich vor Dich gestellt , schirmt Dich vor einem bedrängenden Feind ab . Sie ist bereit , Schlimmes zu schultern

( für dich vielleicht ) . Frauen von hinten sehen : Immer schon gut

genug . Frauenschultern unter dünnstem Schleiertuch , Gaze ; eine Art Nebel um sie . Überhaupt : Ist nicht jede Frau , die sich subtil kleidet , eine Art Nebelqueen ? Aus dem Reich der weißen weiten Distanz ?“

 

Ich sehe noch einmal zur Eingangstür . Aus gutem Grund .

So muss es damals mit Aimée gewesen sein . Sie kommt in das Café , sieht sich suchend um ( nach mir !) ; hat frisch geföhnte lange Haare und einen schicken grauen Tuchmantel an ( rührend und doch auch unbehaglich der Gedanke , dass sie den Mantel nicht allein gekauft und bezahlt hat , dass ihre Mutter mit ihr zusammen einkaufen gegangen

ist ! ) . Dazu trägt sie , eher unchic , aber : Es hat was !  – weiße Tennisschuhe , die sowohl für Aufbruchslaune stehen können wie auch – andererseits ! – für die Noch-Revidierbarkeit eines vielleicht vorschnell gefassten Beschlusses – mit mir abzuhauen .

In ihrem halb zögernden , halb zutraulichen Betreten des Cafés  mischen sich Unschuld mit ein bisschen Ratlosigkeit und einem noch kleineren  Bisschen Genervtheit .

 

13

„ Ars longa , vita brevis ,“ sagt Malevitch .

Knorr hat ihm das Gespräch eingebrockt . Worüber redet man schon mit einem Pfarrer ? es geht um die Frageachse : Was ist gutes Leben , wofür lohnt es sich zu leben .

„ Ars longa ? Unsinn,“ sagt der Pfarrer . „ Wie wollen Sie denn voraussagen , welchen Publikumsgeschmack es in 20 oder 100 Jahren gibt ? Wenn wir die Bezeichnung ` Hochkultur ´ benutzen und dabei selbstzufrieden dreingucken , meinen wir doch nur unseren heutigen

Kenntnis-und Geschmacksstand . Bewahren , alten Dingen einen Platz in einem neuen Tag geben : Das alles gibt es umso weniger – je kultivierter und narzisstischer , in der Folge : Produktiv gekitzelt die heranwachsenden Generationen sind .“

Sie sehen auf den Fluss hinaus .

„ Überproduktion und Flohmarkt , Capitalism , instant gratification ! das sind die Stichworte . Und der Künstler : Produziert eigentlich nur vor dem Spiegel,  für den Spiegel.“

„ Sie haben es ja einfach ! Das ist ein unfaires Gespräch , das Sie mir hier aufdrängen ,“ lacht Malevitch . „ Wie soll man so ein Thema mit einem Pfarrer diskutieren ?“

„ Handlungsreisender in Sachen Unsterblichkeit , ichweißichweiß ,“ winkt Knorr ab . „ Aber , mal im Vertrauen ,“ sagt Knorr , wird dabei aber wirklich nicht leiser ; „ nehmen wir mal an , nur so , ICH könnte mit dem Himmelfahrts-und Auferstehungsglauben auch nicht viel anfangen …wenn es diese Perspektive nicht gibt , bleiben immerhin doch ein paar Sachen , die den Versuch wert sind . Gute Taten zum Beispiel . Sorgen einfach dafür , dass man ein paar mehr unterernährten Leuten die Chance gibt , dieses Gespräch überhaupt mit Dir zu führen .Gute Taten holen Dich aus der Bleikammer raus .“

Es ist eng auf diesem Deck ;  sie drängen sich an die Reling und  lassen Schlupkothen im Jogginganzug vorbei.

„ Und vielleicht kann man ja mal einfach – nur so , just for a try , kann ja nicht schaden – dankbar sein . WEM ? lassen wir mal unbeantwortet , vielleicht wirklich nur dem Zufall .  Aber wofür dankbar ?“

„ Carpe diem,“ sagt der Sänger geringschätzig .

„ Was wir gerade genießen , kriegen wir nur mit wie ein Zitat , wenn uns wer ein Stichwort hinschmeißt . Entweder im Rückblick , bei einsamem Strandspaziergang , wenn man so seine eigene Zeitlupe einstellt ; oder an leerem Nachmittag mit lautem Hall . Oder bei Lampenfieber : Jetzt gleich wird es passieren ! Wie bin ich in Form ! Welchen Fehler darf ich nicht machen ? Vielleicht kommt sie gar nicht ? Und so .“

„ Schwitzige Finger vor Auftritt ,“ sekundiert der Musiker.

„Das sind die Momente , die es wert sind , soll sagen Ewigkeit , oder die es zur Hölle machen :  Verdichtungen .“

„ Wenn jemand auf dem Sterbebett viel Zeit hat , klappt diese Nachlese vielleicht . Aber was ist bei schnellem Unfalltod ?“ grübelt Malevitch .

„ Tja , gute Frage,“ sagt Knorr und wirft seinen Zigarillo in den Fluss ; sie sehen am gemächlichen Abtreiben des Stummels , dass die  `Cythera´   kaum noch Fahrt macht und  vor der nächsten Schleuse in Wartestellung geht . Langsames Leben .

„ Wer weiß , vielleicht gibt es dann in ein paar Sekunden die absoluten Gefühlsspitzen : Wie der Kokain-Kick .Wenn Samstagsmorgens Lila vor mir aufsteht und ich höre den Föhn im Badezimmer . So was . So was noch mal hören . Aber lassen wir das  .“

 

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Neptuns Fest , Karneval ( irgendwo auf der Welt ist immer gerade Karneval ) . Notiert im Rheinhafen zu Duisburg . Ich gehe übrigens als `Failing State ´.

 

Dabei haben wir noch Zeit für eine Charakterstudie so im Vorüber-

gehen : Susanne .

Sie hat blaue Augen , blonde Haare , einen Pferdeschwanz für  energische Nackenbewegungen . Sie gibt in der Tat eine Art aufbäumender Hengst (`Fury!!!!!´ ) . Susanne nickt  eher

selten , liebt aber fröhliches Kopfschütteln über ihren stämmigen Schultern , hat auch stämmige Zähne . Und den Augenaufschlag der unschuldigen Maid vom Pferdeschober.

 

Ach ja , die Pornos von früher !

„ Wissen Sie noch , geneigte Zuhörer,“ ( sagt Schlupkothen ) „ in den 60er Jahren , als alles noch schön verklemmt war ? Sex etwas für die Erwachsenen ? Oder noch nicht mal die , wenn man sich so umsah . Farbdrucke , leicht nachgekitscht  : Freikörperkultur auf jugoslawischer Nudisteninsel  oder in österreichischer Berglandschaft  ! Statuenhaft

die Charaktere , gebräunt von richtiger Sonne mit versonnenem , schmollendem und mutwilligem Gesichtsausdruck ; schwarzes Schamhaar  oder wie Susanne eben : Schwedenblond , gesund , vielleicht leicht gerötet , prall und drall .  Viele Dorfschönheiten, keine weit aufgezerrten,-gesperrten,-geklemmten Schamlippen , Gynäkologen-

Postillen , in denen Monster aus der Grotte lauern konnten . Ach ja , denke ich ,“ sagt er ( und denkt dann nur privat an „ Susannes lautes regelmäßiges Atmen , ein aus ein aus auf ab ; die Wellen in unserer schallgedämpften Kabine nur zu hören als ebenso regelmäßiges aber eintaktiges Schwapp-Schwapp-Schwapp Plätscher Plätscher .“ )

 

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Die Uhrmacherin , Frau Öztunali , ärgert sich über einen Nudge-Aufdruck in ihrem Geschäftseingang ( von dieser Stadtguerilla hat man lange nichts mehr gehört !) , erzählt  und erzählt .

„ Wenn die Welt nur von Uhrmachern bewohnt wäre , wäre es eine bessere .“

Und  wir glauben ihr alle alles . Und restlos  überzeugt sie uns dann mit der folgenden Anekdote .

„ Ihr habt gehört neulich von der Stadionrandale  bei Fenerbace ?

Die Polizei musste kommen , Feuerwerkskörper einsammeln ; es gab Straßenkontrollen , Prügeleien , Verhaftungen , Zeitungsschließungen ,

das ganze Programm . Und warum das Ganze ?

Der Präsident des Fußballvereins ist ein etwas älterer , tüddeliger

Funktionär , seinerzeit ein toller Spieler , aber jener Zeit nicht  bei Fenerbace , sondern bei Trabzonspor . Haben ihm die Fans von Fener nie ganz vergessen . Aber , wie gesagt , das ist vierzig Jahre her . Jetzt wollte er , bevor das Spiel angepfiffen wird , für die verschütteten Bergleute eine Gedenkminute in stiller Trauer ausrufen .

Und die Minute wird zu 65 , 70 , 80 Sekunden , es gibt Unruhe ; der

Präsident  hat seine Brille vergessen und  kann auch nach 90 Sekunden nicht feststellen , wo der Minutenzeiger  gerade ist , und da ist es zu

spät , Bengalos fliegen und die Meute tobt . Tja .“

 

Wer bislang nicht von Ehrwürdigkeit und Wichtigkeit der Uhrmacher-innung überzeugt war , ist es jetzt .  Die Uhrmacherin sagte einmal : Wem ich eine Uhr verkaufe : Dem habe ich eine Heimat gegeben . Solange er dem Zeiger folgen kann . Solange er sich sagen kann : Habe noch soundsoviel Zeit .

 

Diese Pennerszene zum Beispiel braucht Uhren . Überwiegend Männer . Sie drehen der Welt meist den Rücken zu , haben mit der Welt nichts mehr zu tun , ihr kleiner Stehkreis reicht . Sie sind nur auf dem Weg von/nach . Sie haben keine Heimat ; bräuchten aber dringend eine . Soviel Bedarf an Heimat , soviel verschwiegene , verrülpste Nachfrage  , soviel Schulterzucken .

Kleine Idee für einen Film : Besagte Uhrmacherin ist fasziniert von der Reklame der Beziehungsagentur : Alle 17 Sekunden verliebt sich jemand

auf Parship . Der Mann , den sie sich da aussucht , ist Killer ; Auftrags-

beseitiger .Ich mache Klarschiff , sagt er . Und die Uhrmacherin träumt vor sich hin : Da haben wir doch ein gemeinsames Feld zu bestellen .

Ich verkaufe Uhren , sozusagen auf Zeit ; und Sie setzen den Schluss unter die Biographie .

 

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Tauben leben auch im Duo . Gurren oft mit der Dreifachtaste `GuGu GUGu ;GuGuGu-GUGu ´; ich rufe ihnen zu : „Heh ! Heute ist Sonntag !“

(  stimmt nicht , aber Tauben sind ja doof ) : „Habt ihr das nicht mitge-kriegt ? Ihr habt frei heute !“

Dann gibt es noch Elstern im Luftraum um meinen Garten und mich herum  , oft auch im Paar auf Aasfresser-Streife . Bei Landung ein Federnsprühen , ein Lichtkranz . Fröhlich wie Fohlen .

Und meine Einzelteile finden sich langsam wieder auf diesem Planeten ein . Ich wachte auf von ersten Frühmorgensgeräuschen in der Stadtwohnung . Der Nachbar über mir knetet seine Schritte  durch die Decke ; seine Frau liegt noch im Bett . Wenn sie dann aufsteht , hört man sie bloßen Fußes  über die Fliesen watscheln , was ich mit `back from sin ´ verbinde .

Eins der neueingezogenen Fräuleins aus der vierten Etage macht behutsam ( ich höre es trotzdem ) die Etagentür zu und tippelt , stöckelt und tingelt die Stufenabsätze herunter . Wie ein Korkenzieher dreht sich ihr Abgang durch das Treppenhaus bis zur Klingklang- Haustür ; weg ist

sie , der Tag hat sie geschluckt .

 

Um das Gravitationsfeld des Frühstückstisches herum  konzentriere ich mich auf  die Printmedien . Wo ich die Marmelade absetze, aus welcher Schublade ich Löffel und Messer herausnehme : Alles habitualisiert , geht blind .

Abends , beim Tango  , soll es auch so aussehen , als ob ich in Gedanken woanders wäre ; ich bin aber in meinen einmeter-sechsundachtzig plus Bauchumfang  völlig konzentriert , besitze nichts anderes , denke an nichts anderes als an die Musik  , auch nicht an die Ochos meiner Partnerin . Das sieht aus wie Kieselgeröll , irgendwie zwischen Flusswirbel und Sonneneinfall .

Ich fließe , also bin ich ; ich fließe als Ausdruck meiner geometrischen Kalküle . Unsichtbare Schalter bedienen meine Bewegungen .

 

Mittlerweile tönt die Turbine – nicht der `Cythera´, sondern der Umlüfter der Dönerzentrale nebenan ; das erinnert mich allerdings an Starbacks , der heute vor dem Schifffahrtsgericht gegen den Fährenkapitän aussagen muss. Am Fenster sehe ich , dass die Bankfräulein gegenüber schon am Schreibtisch sitzen ; eine wirft gerade mehrfach /entschlossen/ ihren blonden Haarschopf nach hinten .

Sie hat wahrscheinlich bereits höchst Prosaisches hinter sich : Ein quengelndes Kind in die Kita gebracht , ist über den Putzeimer in der Garage  , immerhin im perfekten Neubaugebiet , gestolpert .

Was so ein Nachbarschaftsfenster  nicht alles an Neuanfang , an Versprechen , an Neufundland kostenfrei liefert ; wie die göttlichen Bewegungen dieser Sachbearbeiterin in der Fremde .

 

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Parken ist ja auch  Artikulation , sagt Giacomo . Wir sitzen zu viert auf der `Cythera ´ ; Käptn Starbacks hat soeben von der Verhandlung nach dem Fährunglück und seiner Zeit als Leichtmatrose erzählt , um Noah

Wichtiges mitzugeben für seine Berufswahl . Und drüben auf dem Kai steigt eine Frau aus ihrem Auto .

„ So wie diese Frau parkt , finde ich sie – irgendwie besonders . Raffiniert , frech , in aller Unschuld raffiniert und frech . Und sie ist keine Presbyterin , sondern Frau Pfarrer Knorr.“

 

Ach , tatsächlich ? Starbacks steht auf , um nachzusehen , und  geht dann noch sein frisch gebasteltes Vogelhäuschen draußen aufhängen . Ist es nicht viel zu kalt auf dem Fluss für so eine Brutstätte ? Auf selbiger steht geschrieben : Ubi bene , ibi Patria .

Der Käptn kommt zum Frühstückstisch zurück und erzählt : „ A propos Vögel . Habt Ihr gehört von dem Junggesellenabschied auf der ` Dalmatia Queen ? ´ Ein unbeschwertes Jüngelchen wollte Hochzeit machen . Seine Freunde also ! ebenfalls reich und sagen wir – mit dem Hang zum Besonderen..“.

 

Starbacks will  es so spannend machen wie er es mit Byepass eben so

kann.

„ Seine Klicke  heuert drei Damen an , eine schwarz , eine Koreanerin , eine Finnin ; die drei nehmen nebeneinander auf einer Tischkante Platz und entledigen sich ihrer Panties . Der nicht-mehr-lange

Junggeselle hat seine Augen verbunden , wird ein bisschen im Kreis gewirbelt ; soll dann seine Zunge der Reihe nach einführen zwischen die Schamlippen der  Frauen . Und raten : Welche Dame ist aus welcher Weltgegend.“

 

Pfarrer Knorr denkt an die Stadtstreicherszene am anderen Ende der sozialen Skala und erzählt :

„ Vor Jahren kam die Illustrierte `Komet´  ( durchaus gewollt !) in die  öffentliche Diskussion . Fanden wir in der Emmeran-Gemeinde sehr interessant , dieses Experiment . Sie hatten also zehn Stadtstreicher in all ihrem pittoresken Elend aufgesammelt : verdreckt , zerrissene Klamotten , zerzauste Haare , kaputte rote Haut . Und – so war ihr mitmenschliches Anliegen – die Redakteure schickten besagte Penner zum Friseur , in einen Schönheitssalon , zu einem renommierten Herrenausstatter , und  :

Natürlich kamen die `Nicht-Sesshaften´ als Soignierte , Interessante , wenn auch immer noch sehr lebenserfahren aussehend wieder zum Fototermin .

Botschaft : Seht her , diese Menschen sind nicht  abzuschreiben . Aus jedem kann man was machen : Helfen wir ihnen , damit sie auch selber was aus sich machen wollen .“

Pfarrer Knorr drückt seine Zigarette aus .

„ Und neulich – wie sich die Zeiten ändern , auch für Pfarrer  !

hatte ich die Idee zu einer Variation : Wir machen das noch mal , das mit der Maniküre und dem Outfit ; zusätzlich drücken wir jedem von den Leuten auf der Platte den Schlüssel zu einem BMW in die

Hand , auf dass sie – wie unsere maghrebinischen Zeitgenossen , die

Male Machos aus dem Milieu , endlich auch einmal mit ihresgleichen inoffizielle Rennen veranstalten können . Hundert Sachen durch die Blücherstraße : WUMMMMH!“

„ Aha , eine Art : Resozialisierung also ? ,“ fragt Starbacks .

 

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Das Gespräch geht dann um Noah und Norah . Du bist verliebt , und das alles ohne Norah als scharfe Frau , als sexuelles Wesen wahrzu-nehmen , sagt Giaco ; irgendwie muss ich Dich beneiden .

 

Ja , aber ( sagt Noah sinngemäß ) , diese Spannung ist wahrscheinlich wie Sex  . „Meine Sehnsucht ist wie ……ein aufwühlendes leichtes Frieren , und andererseits wie überall Kerzen anmachen . Ein freundliches Licht , und kein Wind , der die Kerzen bedroht .“

 

Giaco mag sich noch an seine Jugend erinnern , grübelt und sagt : Sexuelle Reize , erotische Signale , eine Atmosphäre  sind doch Suchexpeditionen Richtung Seele . Beim Begehren ( er verwendet tatsächlich kein anderes Wort ) geht es doch eigentlich nur immer um das Gesicht oder um das richtige Wort , den richtigen Wortwechsel .

Ein Make-up ist  eine Art Sesam , und jeder kramt nach dem Schlüsselwort .

 

Und Ehe , sage ich , ist wenn der Zahlencode gewechselt wurde und

Du warst nicht dabei . Eine neue Bekanntschaft , die Frau nach Norah ,

( Noah stutzt ) heißt eine neue Unschuld finden , oder sie suchen .

Noah meint , Norah und er , das sei ES ! (besagte Schneelandschaft ).

 

SIE habe zwar bisher kaum etwas Verbindliches gesagt , aber

irgendwie , ähnlich Frösteln und Kerzenlicht ,  sei Verliebtsein auch wie die Spannung im Memoryspiel : Wo ist die zweite Karte , die Symmetrie herstellen würde , hier in diesem Kartenhaufen .

 

Um mit meinem Satz von den wechselnden Zahlencodes nicht allzu verzweifelt nachzuhallen , sage ich etwas Freundlich-Vermittelndes  , etwa : Ehe kann man natürlich auch positiv sehen : Askese, weiße Wände, nichts , was Dich daran hindert ,  Dir selber Spiegel

vorzuhalten .

 

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„ Guten Tag , Frau Uhrmacherin ! Habe ich recht gehört ….stimmt es wirklich ?“

Frau Öztunali winkt ab , als könne sie es nicht mehr hören . Mit redlicher Arbeit kommt man ja auf keinen grünen Zweig . Da muss man einfach  Lotto spielen .

„ Ich habs gestern gelesen ,“ sagt Pfarrer Knorr . „ Stand an der Annahmestelle .` Hier ergab sich ein Hauptgewinn in Höhe von…´.“

„ Pscht!“ unterbricht ihn die Uhrmacherin. „Und mit meiner Investition

für die Öffentlichkeit werde  ich mir auch keine Freunde machen .“

„ Was haben Sie denn vor ? Ich dachte – verzeihen Sie einem Seelsorger – vielleicht an etwas Wohltätiges ? Sie wissen schon , Berufskrankheit …“

„ Sie werden schon sehen .“

 

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Iris tut das Richtige für  meine Aufwachphase :  Mir meinen Bauch zu streicheln . Rundung , Handstrich rauf , Handstrich ab . Bauch , wohlgemerkt . Kein System-Hochfahren der gemeinhin so getauften erotischen Art .

„ Wenn Du auf dem Rücken liegst ,“ sagt Iris , „ ist Dein Bauch so – belastbar . Auf diese Steine können Sie bauen . Dann hängt er nicht so ,“ setzt sie schonungslos hinzu , „ als wie wenn Du vor dem Spiegel

stehst .“

Sie macht die Musik an .

Ich mache sie sofort aus . Es gibt sowieso zuviel Musik auf der Welt . Da lobe ich mir den Stöpselkult der Jugend .  Diskret , hygienisch . Aber auf der `Dalmatia Queen ´ , wohin Iris und ich gestern Abend geflohen sind , herrscht spätestens auf den Gängen Zwangsbeschallung . Aua .

 

Iris ist nett . Sie ist eine von meinen Freundinnen von vor 10-15 Jahren ; damals im Wesentlichen sie selbst , verspielt , ein unsteter Gast , gastfreundlich , die ideale Besucherin .

„ Warum ich Dich damals  nett fand ? Bilde Dir nichts ein . Manchmal sind die Dinge halt stärker.

Du lagst im Trend .Trend ist , was gestern noch nicht ist , und was man heute nicht verpassen darf , fast aber verpasst hätte . Das kommt so leicht daher , jeder macht es , und auch Dir steht diese Tür auf einmal einfach so offen . Also , die Gesellschaft . Bilde Dir nichts ein .“

 

Ich kann mir gerade keine Gesellschaft , keine Zeit , keinen Trend vorstellen , bei denen Iris nicht als hinreißend attraktiv   , Typ `skandinavische Schlankheits-Beauftragte ´ , empfunden würde .

 

Ich erzähle ihr von meiner Traumsequenz letzte Nacht : Ich – in einem großen menschenleeren Lesesaal  . An den Wänden und Hutständern hängen viele Zeitungen ,  in ihrem Papierweiß gut sichtbar abgesetzt von braunen Wandtäfelungen . Im nächsten Augenblick ist es ein Krankenhaussaal mit vielen weißen Betten ; bis auf meines sind alle

leer ; flach ,  unbenutzt , geduldig und weiß wartend .Sonst passiert nichts .

 

Ich verbinde diese Traumbilder mit unserem gestrigen Besuch in den Niederlanden  , in Zaltbommel , wo die `Cythera´  angelegt hat .

Das Land hinter dem holländischen Deich ist platt wie ein grünes Floß und dehnt sich zum Horizont ; durchzogen von böschungslosen Wasserläufen ; als seien es nicht Kanäle und kleine Rinnsale , sondern Nahtstellen : Das Land platzt auf und zeigt wässrigen Untergrund . Gegenüber von einem Straßendorf , das sich den Deich entlang zieht .

Hier war ich als Jüngling , wild zeltend , auf dem Sprung nach Amsterdam , in die große Metropole . Wo es risikofrei das viele Haschisch gab. Neugierde sowieso, immer , das selbstverständlichste Recht der Jugend  .

 

Die Zeit ist einfallslos : Besucht man heute einen Ort der eigenen Vergangenheit , ist dieser entweder trivialisiert ( jetzt mit Tennisanlage und Fußballplatz auf früherer Kuhweide , funktionierende Strassen-reinigung , Bordsteine)  –

 

und/oder gentrifiziert : Alles schön auratisch hier , Galerien und Kunstgewerbe ; altes Mauerwerk wird exhibitionistisch , gynäkologisch freigelegt , das Fachwerk frisch gelackt . Wollt Ihr den totalen  Impressionismus ?

„ Ich will mal wie ein Mönch leben“ , sagte der zu viel Geld gekommene Stadtplaner , und mietete billig eine alte Lagerhalle an , in der sich dann

nur einige wenige Möbel verlieren . „Alles was ich hier tue hat einen

Hall , hinauf ins Universum ; ich bin auf Sendung und auf Empfang – durch Gentrification Special.“

Ich sollte hier mit Noah spazieren gehen , der hoffentlich weit über diesen Tag hinauswachsen wird , und könnte ihm den Ort meiner Vergangenheit  vorführen , so wie man eine gefährliche Waffe zeigt :

Vorsicht , hier ist ein Ort,   an dem Gegenwart auf tückische Art zu Vergangenheit wird . Damals sprach man irgendwelche Versprechungen in die Landschaftsweite hinter dem Deich hinein . Oder Fragen .

Die Weite ist geblieben , wenn auch natürlich viel besser vermessen

jetzt . Die Weite , die jetzt erst hinter dem Sportzentrum anfängt , wo früher die Kühe lagerten . Ich würde sagen : Noah , die Landschaft hört Dir zu , ist ein Spiegel .  Gerade dem einsamen Spaziergänger sollte gesagt werden : Ab jetzt kann jedes Wort gegen Dich verwendet werden.

Es ist wie auf Schneeflächen gehen : Einige Wörter sacken tief ein oder bleiben stecken , andere gehen zügig weiter.

Auf das platte , fast endlose Grün haben sich Familien von Schwänen gelagert . Ich denke wieder an meine Traumsequenz , aus der ich dann in einem weißen Bett aufwache . Erstes Regen der Glieder lässt mich die Knie anziehen ; mit der Bettdecke erhebt sich dann eine Art Berggipfel vor mir , `den müssen wir aber noch schaffen ´ ; vielleicht haben alle Flachländler solche Träume und Assoziationen .

Vor 30 Jahren war ich hier , auf diesem Deich ; lasst uns doch einfach ……..einen Windstoß von damals rekonstruieren  !

` Damals ´  ist vor Aimée . Banaler Satz ! Was sagt er über Aimée , über damals , über mich . Wie gesagt , eine gefährlich geladene Waffe , dieses Leben entlang einem Vektor  , Noah .

 

Neulich erzählt er , er sei mit seiner Mutter zum Einrichtungskaufhaus Ikea gefahren . Ich spotte :

„ Ah , zu dem Nudisten-Paradies ?“

Noah stutzt : „Nudisten ? Die Leute , die nackt rum laufen und sich nie

dabei ne Blasenentzündung holen  ?“

„ Nein . Die niemals Geheimnisse in Sachen Geschmack für sich behalten können .“

 

 

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Die `Cythera´- Belegschaft machte dann auf der gleichen Hollandfahrt einen Ausflug zum van Gogh Museum  in Amsterdams Museumsquartier –Zuid . Ja , eine Stadt mit eigenem Museumsviertel : So was gefällt Hammelrath .

 

Das van-Gogh-Museum also . Hier traktiert man Dich gern zu Deinem Anteil vom Mainstream ; eine wahre Van Gogh-Industrie kümmert sich um die zivilisierten Klassen , und in den Besucherschlangen haben die dezidierten Nicht-Künstler ( die sich zum Beispiel erkühnen würden zu sagen : `ICH würde ja NIE einen Pinsel anfassen !´)  Seltenheitswert .

Der letzte non-chalante Bohème ( heutzutage eben : Erwähnter dezidierter Nicht-Künstler ) im Foyer investiert auf dem Wartesofa in : Zwickelblicke , sagt Giacomo Neuhaus .

 

„ Schöne Frauen sind einem die letzte Rettung  hier : Sie schwenken die Sichtwinkel und sind Markierungen .“

Ist wahre Rettung vor der Masse nicht die Deflation ? Also  Reduktion und Scheuklappe und Singular ! Nichts als Singular , wünscht man sich hier. Radikale Deflation ! Askese , Austerität , Eremitage , Solitüde , das alles verspräche Reinigung .

 

Aber Millionen kommen von weitweit her und lechzen nach Ausschreitung und Ausnahmezustand , auf jeden Fall aber Kunst-und- Künstlerfrömmigkeit . Armer Vincent !  denke ich , Hammelrath , mir , während ich tatsächlich so dicht wie erlaubt an sein Bild mit dem Schlafzimmer in Arles herantrete . Ich sehe , wie er das Kopfkissen mit einem dicken Farbschmierer , vielleicht mit einem Daumenaufsetzer und Farbabstreichen wüst und wild auf die Leinwand  gequetscht hat . Van Goghs Fingerabdruck , sichtbar für alle , jetzt hierheute für mich .

Armer Vincent !  lebtest Du wieder : Du würdest diese Prozessionen an die heilige Stätte Deines Niederländisch-Seins nicht wollen ; Du musstest damals Künstler sein , sein wollen und werden ,  um Dich als Person abzugrenzen ……

 

StopStopStop : Es ist alles ein Missverständnis ! Missverständnis  Deiner Lebensanliegen ,Vincent , sie haben Dich nicht verstanden ; aber mit dem Alleinsein , dem sie nicht entkommen werden , kommt irgendwann Ehrlichkeit auch zu ihnen , zu allen , die Hygiene danach .

 

 

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Je desto .

Je wacher Elvira wird , desto mehr versucht sie sich tot zu stellen . Sie weiß nicht , welches Gesicht sie dem Mann zeigen soll , neben dem sie gestern abend eingeschlafen ist , nachdem sie gefickt haben . Er atmet gleichmäßig ein und aus ; ein…und aus .

Ja. Sie ist nicht da. Es kann ihr keiner verbieten , nicht da zu sein . Elvira ist reglos . Draußen vor dem Fenster scheuert die Trosse vom Anleger . Da wäre eine Alternative zum Nicht-da-sein : In der Trosse hat sich Treibholz verfangen , der Fluss rauscht daran vorbei ; das Holztrumm wippt  in der kalten Brühe . Vielleicht macht es sich gleich frei und schwimmt breiten Rückens den Fluss hinab . Ein Floß . Im Wellentakt , mal rauf mal runter , auf ab , aber schnell weg hier , unter sich eine beruhigende Tiefe Wasser  , um die Biegung herum,  weiter , weg .

Sie , Elvira , ist nicht da , immer noch nicht  , aber immer weniger da : ist leider nicht wahr .

 

Das Nachbarschiff heißt  `Damokles´ . Nachts ist dort  ein Liebesakt zu hören . Die Fenster stehen anscheinend weit offen , und die Frau macht eine Schreitherapie . Das ist nicht so ein abendlicher Irgendwie-sex , unter Alkoholassistenz , vor dem Einschlafen . Das ist nachgeholter nachmittäglicher Jawohl-Genau-Schon –Immer-Sex .

Abends, denkt Elvira , Alkohol plus Müdigkeit , der Wunsch mit dem Orgasmus , Beider Kommen ?  versetztem Höhepunkt ? vorgetäuschtem Gipfeljauchzer oder Weitblick-Panorama- Schnaufen ? und damit für DEN Tag  ein Kapitel zu schließen . Wann geht es endlich woanders weiter ?

 

`Damokles ´ ? Nein , Elvira hat sich versehen ; das Nachbarschiff heißt

` Dalmatia ´ .`Queen ´.

 

Zu wissen , wann man glücklich ist . Sie regt sich immer noch nicht  , ist immer noch nicht da , obwohl sie sich ruhig etwas wacher  zeigen

dürfte , da der Mit-Mann in ihrem Mit-Bett immer noch ( ein/aus ) anscheinend tief und ungestört schlummert . Zu wissen , wann man glücklich ist . Wie oft weiß man es erst am nächsten Tag oder noch später später ; so als hätte man dann ein Zertifikat in den Händen , an einem Schalter postlagernd abgeholt . Ja, glücklich/ Stempel/ Geschichtsbuch .

Eine Unwucht . Man hat irgendwie ins Ungenaue hineingelebt , man weiß nicht , was dieser Augenblick hierheutejetzt eigentlich wirklich bedeutet . Wenn man anders leben könnte : Ich bin jetzt glücklich , weiß es , bin es und will nicht  zurück oder weiter : Das gäbe dem Leben etwas wie auf der Bühne Abgezirkeltes , ein Menuett :  Kein Zufall

dabei , ein vollendet gerundeter Kreis .

Eine Schleuse ! ( so scheint mir die Zeit ) Telefonzelle mit gläsernen Zugangstüren von allen Seiten . Fühlst Du Dich nicht wohl in einer bestimmten Zeit , warte nur  ! und das Morgen , das Heute zum Gestern macht , setzt zu seiner Rachenputzertätigkeit an wie der Vogel , um die Krokodilzähne flatternd .

 

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Einsame Menge , hässliche Menge , sagt Pfarrer Knorr . Fratzenhafte Stadt , hässliche Stadt , lächerliche Metropole .

„ Ich sage : Ein Land , das man sich mit der Bildzeitung teilen muss …ist schon eine schwierige Heimat .“

Eben kommen wir an einem Flugblattverteiler vorbei , der vor der

Islamisierung warnt .

„ Eine schwierige Heimat , aber nicht schlimmer als anderswo . In meiner Heimatstadt Emmerich ist die Welt sogar noch ein bisschen heiler . Aber auch hier , in der Metropole : Wenn ich jetzt einen Herzinfarkt habe , und jemand schreit : Schnell ! Ein Arzt ! – dann wird – wetten ? – ganz schnell jemand aus genau der Menge da sein , und es ist schon fast schwierig , heute auf offener Straße zu sterben .“

„Ich hoffe , Sie haben recht ,“ sage ich und bleibe ungläubig . Fahre  mit  Felix und Noah zum Straßenverkehrsamt ,um die Nummernschilder  dort abzuholen . Felix hat mit Noah zusammen sein erstes Auto gekauft ; Noah darf noch nicht fahren , ist aber schon stolz wie Oskar . Ein neues Leben ! Doch diese Warteschlange im Straßenverkehrsamt zu Köln will erst einmal überlebt  sein .

 

Die Psychologie der Schlange . Kleiner Exkurs .

In der Phalanx derer , die Dich anstarren  : Die Schalterinsassen , Vollmächtige , Bevollmächtigte , Plenipotentaten : Schalterbeamte halt .

Die Reihe vor diesen : Ihre privilegierten Gesprächspartner .  Schmeichler . Von weiter hinten in der Schlange hat man den Eindruck , diese beiden Positionen sind automatisch von nachwachsenden Gutmenschen  besetzt , die viel Zeit für einander oder Spaß und/oder Verständnis bzw. Interesse aneineinander haben.

Jeder in die zweite Position Nachrückende packt selbstverständlich , seiner neuen Rolle gehorchend , selber erstmal wieder das Knäuel seiner Familienbeziehungen aus und hat ja sooooviel zu fragen , zu klären , sicherzustellen , bzw. zu erzählen und mit verschiedensten ,

gern auch sich widersprechenden , Beispielen zu illustrieren .

 

Vis-à-vis , am Schalter , endlich dran ,

                          vis-à-vis mit zuständiger Frau oder Mann :

 

Das korrumpiert jeden zu ausladender Kommunikation , wie Malevitch einst sang . Noah rollt die Augen , Tantalusqualen erleidend ; ich , das Ganze  vorhergesehen habend , lausche zur Ablenkung  hinter mir einem Dialog zwischen Mitgliedern dieser und der Nachbarschlange :

 

Die eine Osteuropäerin . Der andere schätzungsweise aus Bangla-Desh;

sie entdecken ( hier ! heute ! auf dem Amt !), dass sie wirklich ( so leid es ihnen tut ) beide ! leider beide ! keine gute Meinung von dem neuen Libanesen ( gemeint : Ein Restaurant ) in der Kantstraße haben .

„ Ne nö , nix gut .“ „ Früher besser.“

 

26

Nachmittags sitze ich dann am Bildschirm und höre Kinder draußen .  Nach einiger Zeit geht mir der Krach auf den Wecker und ich stehe auf , um aus dem Fenster zu sehen . Dass ich die Kinder nicht sehen kann , auch nach Verrenken meines Halses ( sie müssen also irgendwo unter den Arkaden spielen ) , macht mich verrückt .

Stimmen oder sonstiger Lärm sind mir so wichtig , sind so aufdringlich und machtvoll , dass ich sie per Sichtkontakt zu den Urhebern zurückzähmen muss. Ich muss einfach wissen , woher diese Worte kommen . Sonst werden sie gleich noch lauter und unerträglich laut .

 

Mein Bruder Giacomo überträgt dieses Kontrollbedürfnis vor allem auf weibliche Stimmen . Ein Gespräch im Café hinter ihm mit Frauen-beteiligung kann ihn schon mal dazu bewegen , seinen Sitzplatz aufzugeben und sich woanders zu installieren , von wo aus er besagte Sprecherinnen ( lachend , feixend , larmoyant beteuernd , Intrigendetails ausbreitend ) sehen und in der Folge Stimme und Gesicht zusammen-bringen kann . Wie sieht sie aus , die gerade dies oder das gesagt hat ?

 

Sie sieht meistens ganz anders aus .

Das ist doch eine gute Seite an unserem Planeten , diese Über-raschungsfähigkeit . Das Leben blüht  , gedeiht , wuchert , unterhält . Ein wahres Dschungelbuch , sagt Giaco.

 

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Glück im Unglück im Dschungelbuch : Der Schlüsseldienst musste

mir zu Hilfe kommen , ist aber dann nicht so teuer . Oder überhaupt Glück : Verstanden als das Ausbleiben von Pech und Panne . Habe ich vergessen  , das Licht auszumachen ? Nein . Hach!

Ein Simulationsspiel : Es könnte immer alles noch schlimmer kommen , aber , bei Gott , was sage ich da , es ist natürlich schlimm genug .

Wir lernen zuwenig von Gustav Gans , dem Glückspilz .Wir führen uns an der ganz kurzen Leine , das Pech liegt hinter der Ecke , nein ? nicht ? nicht hinter dieser Ecke ? Dann aber wahrscheinlich hinter der

Nächsten . Und wenn das große Pech dann kommt , dann sind wir mentalitätsmäßig darauf schon voll eingestellt . Oder nicht ? Besser solche Sätze nicht sagen , die das Schicksal provozieren können.

„ Es wird schon schiefgehen“ : Ein Satz der Lebensklugheit ? Oder : Wir sind in Gottes Hand . Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt . Auf See

muss man mit allem rechnen . Schön bei Fuß ! Wenn wir brav sind , kommen wir in den Himmel – oder in die Unfallstatistik . Wenn es schlimm kommt , haben wir uns wenigstens  ein Leben lang in kleiner Dosis immunisiert .

 

Obwohl natürlich alles ganz schön duster ist . Wenn wir mal sehen , wie viel Gattungen jeden Tag aussterben . Jeden Tag werden 47 (siebenundvierzig ) Fußballfelder Urwald abgeholzt . Tja . Da haben wir es noch mal gut . Bei uns braucht keiner . Werden wir damit dem Potential ` Leben´ gerecht ?

 

Es geht Herrn Pfarrer Knorr , um es hier abzukürzen , wieder einmal um Balance , Hygiene . Um Stoizismus . Man soll sich selbst nicht unnötig zum Opfer stilisieren . So wichtig sind wir ja nun auch wieder nicht . Wären es vielleicht gerne , aber da ist das Schicksal vor . Man soll die Lust an der Simulation nicht übertreiben : Was alles passieren könnte , hätte passieren können . Wie gefährdet ich doch bin .Wir Egozentriker und Zimperliesen .

 

Oben gemachte Ausführungen entnehme ich sinngemäß der Rede von Pfarrer Knorr bei der Einweihung des Abenteuerspielplatzes

( gefährlich ! ) am Flussufer ( gefährlich ! aber –wg. Flussansicht -beruhigend – für die Großeltern ) .

 

 

28

Pfarrer Knorr  deklamiert weiter in einer seiner letzten Predigten  :

„Die Uhren Gottes – wie gehen sie ? Und stehen sie nicht manchmal

still ? Ich stand heute morgen vor meinem Kleiderschrank , suchte die Talartaschen nach einem Zettel ab , den ich dort vergessen habe ;  rechts im Schrank die Wintersachen ,  links die für den Sommer ; ach ja , dieses kurzärmelige Hemd trage ich immer besonders gerne an heißen Montagen . Wenn ich frei habe .

Ich versetze mich in einen schwerkranken Menschen hinein , der sich fragt : Werde ich das Ding noch einmal tragen ? Wird es für mich noch einmal Frühling und Sommer ? Und Menschen können es ihm nicht sagen .“

 

Der Pfarrer sitzt mittlerweile wieder beim Friseur . Der Kunde wohnt dem Prozess seiner Verjüngung bei  : Immer mehr altersgraue Haare weichen einem jugendlichen Vakuum . Und gleichzeitig  sehen wir im Spiegel die gedanklichen Tiefenwellen , die den Befragten im Sommerinterview mit

( Möchte-Gern ) Prominenten mitbewegen . Schwere Frage ! Nächste Frage . Ich möchte mal sooo sagen …

 

Draußen , nicht nur in Emmerich , eine zerknitterte Winterweltland-

schaft . Ende November schon und wieder mal . Nasse Kälte über den Gärten ; man hat sich gerade aus dem Bett gestohlen und schmusig haarende Katzen streichen um die Beine . Sonne und Uhr verschlafen sich beide  langsam , wir warten in der Bibliothek auf klärende Lebenszeichen im Haus . Giaco und ich sind mit dem Auto derweil unterwegs nach Bremerhaven , wo wir die `Cythera´ treffen sollten . Und kamen gestern an Worpswede vorbei . Zugegeben , hier in Nieder-sachsen gibt es mehr Landschaft als in RheinRuhr . Aber , dachte ich und erinnerte mich an Rilkes Künstlerkolonie , heutzutage , machen wir uns nichts vor : Landschaft gibt es nur noch als Anhängsel oder Verpackung von Autobahn . Dahinten der Hof , der sieht einsam romantisch aus , aber auch nach heiler Welt , Bauer mit Kuh und Dorfhochzeit ; aber diese Landverbliebenen sehen nur auf die Autobahn und  träumen wahrscheinlich :

 

In Castrop-Rauxel müsste man jetzt sein !

 

Autobahn , genauer gesagt : Autobahnfahren ist die einzige mögliche Landschaftskonservierung heutzutage .

 

28

„ Und wie fühlen sich die Schlupkothens,“ frage ich , als wir wieder

zurück sind . Starbacks berichtet : „ Eigentlich sauwohl . Aber er hat trotzdem ( oder gerade deswegen ?)  wieder ein Testament gemacht  und ich bin sogar Vollstrecker .“

„ Kriegen wir auch was ?“ fragt Giacomo . Starbacks schüttelt den Kopf . „ Nein . Und ich habe auch nur EINE Aufgabe : Dringlichst ! Bevor irgendeine andere Nachlassbestimmung auch nur angesehen

wird : ICH muss seine Pornosammlung sichern , zerstören , verbrennen , wegschmeißen ( oder darf sie wohl künftig selber nutzen ) – bevor seine Frau rauskriegt , was für ein geheimes Leben er geführt hat .“

 

„ Giaco und Frau Doktor mit ihrem Bildmaterial ,“ werfe ich ein . „Seiner Meinung nach ist  das , was diese Unternehmerin vertreibt , alles toter Plastikkram . Nichts lebt in diesem Universum .“

„ Ach ,“ mischt sich der hinzugekommene Testar ein , „ Pornos leben nicht ? Ich mache da“ ( er dreht sich um , ob seine Frau im Raum ist )

„ andere Erfahrungen . Werfen Sie mal einen Porno weg – so endgültig ! Montags Müllabfuhr ! – und wupps ! schon kommt er hinter Ihnen her ; sie vergessen diese Menschenvorschläge auf Hochglanz nicht ; die Figuren wollen wiedergesehen werden . Das Wegwerfen tut Ihnen leid ! Wahrer Bumerang-Effekt ! Aber es funktioniert nur bei Wegwurf .“

 

Bei anderer Gelegenheit wird Giaco Schlupkothen wohl als fünfte Kolonne von Frau Doktor Brunner-Siewissenschon- an Bord entlarven .

 

29

Ich bin für meinen 5-Uhr-Drink an Bord und erwarte Steffika . Als sie mit Trippelschritten die Gangway herabsteigt ( die meisten Frauen , in solchem Abenteuer befangen , tragen hochhackige Schuhe ; gut , dass sie keine Wanderschuhe tragen , meine Anerkennung ! aber hochhackige Schuhe sind hier wirklich gefährlich , und die Frauen werden sich alle so ähnlich im Abwehrverhalten gegen die Gangway!) ; als sie also angekommen ist – in meinen Armen , immerhin haben wir bereits einmal letzten Monat eine Nacht miteinander verbracht , von Mainz nach Basel ; als sie also angekommen ist , nehme ich ihr ihre Tasche ab und sage , komm , wir gehen zur Kabine ; da kannst Du Dich frischmachen ; nein , wir haben diesmal an Oberdeck Nr 17 .

Sie schwingt ihre Handtasche , jetzt , wo ich den Koffer übernommen habe ,  unternehmungslustig ; wir gehen den langen Gang entlang , der ist leer ; biegen um die Ecke , da ist Kabine 17 . Ich schließe auf , sie setzt den Koffer nur auf den Boden und sagt : Vor dem Frischmachen würde ich doch gerne erstmal was trinken .

Ich halte ihr wiederum die Tür auf ; der Gang liegt immer noch leer und der Teppich ist angenehm geräuschschluckend . Die Tür hat ein  Eigenleben und will sich nicht einfach so aufhalten lassen , ich muss mein Gewicht dagegen werfen , wobei ich gerade dieses mein Gewicht eben erst einmal verliere , taumle und leicht gegen Steffika falle .

Ihre Brüste – Ich spüre sie an meinen Handinnenflächen- sind eigentlich nur auf einen athletischen Körper aufgesetzte Brustwarzen .

Der Gang ist unverändert  leer , und weiterhin plüschig geräuscharm ; diese Stellung halb im Flur , halb noch im Kabineneingang , ich kenne das , das macht mich an , alles wäre mir möglich , ich meine erotisch , sie merkt das und zeigt in ihrem Lächeln : So schlimm/unpassend/ unversuchend fände sie das jetzt auch nicht , aber –

ABER vielleicht doch erst nach einem Drink ? Ich wiederum meinerseits ganz Gentleman nicke und bin glücklich mit Erreichtem und Ange-kündigtem , als die Tür mit letztem Federschwung zuschnappt und mir drei Finger im Rahmen einquetscht , Bluterguss und blaue Flecken

danke schön ! , die wiederum im Speisesaal später jeder falsch versteht , und  Steffika ist das auch peinlich und nimmt einfach meine Hand in die ihre , auf dass man die Kalamität nicht bemerke , sagt sie.

 

 

 

XIV Noah und Norah

 

1

Weihnachten : Man muss schon sehr in das Risiko verliebt sein , hat man sich erst auf diesen kalendarischen Hotspot , das Festival der Falschmacher begeben . Falschmacher sind alle die , die einen nicht anrufen , obwohl man es erwartet hat , obwohl sie einem verpflichtet

sind ; und diejenigen , die einen anrufen , aber eigentlich doch wissen sollten , WIE man das macht , ein Gespräch führen , zuhören , dosiert kommentieren .  Alles das können überraschend viele Zeitgenossen nun einmal nicht , und erst recht nicht zu Weihnachten .Verpasste Gelegenheit !

 

Wir leben in einer Wegwerfgesellschaft , in der eben günstige Gelegenheiten massenhaft weggeworfen werden : Vieles oder wenigstens das Überlebensnotwendige richtig zu machen .

Sagt Giacomo Neuhaus, der sich lieber wieder denen widmet , die das meiste und Wichtigste dann doch richtig machen : Schöne Frauen .

 

 

2

„ Nachmittag im Dezember

der Tag ist angezählt

den ich planlos verplemper

Weiterbildung wie bares Geld

 

am Tag als der Regen fällt

wer hat hier was bestellt

wenn sich wer beschwert

der Empfang ist gestört

 

sorry hab mich verwählt

wer hat das bezahlt

keine Gewalt ! keine Gewalt !

von jetzt auf gleich von hier bis da

 

von der Etsch bis an den Belt

der Tag ist angezählt

nun guck nicht so verquält

nichts ist mehr wie es schon mal wahr

 

wies wieder wird im Januar

 

……halthalt Sam , den Loop erst später “….

 

Malevitch weiß , sagt er , eine Minute vorher noch nicht , was er gleich ins Mikrophon räuspern und raspeln wird . Er meint er kann das , alle mögen ihn ; niemand , der seine Kunst nicht schätzt als Kommentar zur Situation . Er ist ein Pontifex Maximus , denn über diese Wahr-nehmungsbrücke kann man gehen. Neulich sagt er :

„ Ich kreuze mit Geräuschaufnehmer durch die Stadt ; vor allem , was Gesprächsgeräusch angeht .  Ein Phänomen ist zum Beispiel:

Migranten , die noch kein Deutsch können oder untereinander sprechen , aber in ihren Talk einzelne deutsche Worte hineinmixen . Etwa so :

 

üstschülüüstschülukeineAhnungüstschülüglu .

 

Oder :maimsahemaharabhrebmaghrebSonderangebotallahamaghreb.

 

 

Oder : Eine Mutter redet mit ihrem  Kind in Nicht-Deutsch :

 

wazistasboroschenkowojVORSICHTAUTOutschinizelsemstwo!“

 

 

( oder so ).

„ Klingt wie eine verlässliche Methode , herauszubekommen , was am deutschen Wesen so richtig wichtig und sprachlich absolut  unersetzbar ist – jedenfalls nach Dafürhalten von Einwandererkreisen,“ meint

Giaco.

Malevitch der Künstler . Ich bin Zufallszeuge eines Gesprächs zwischen ihm  und Aliya : „ Ich möchte Gerüche fotografieren .“ Aliya sagt : „ Es ist zwei Uhr nachts . Ich möchte schlafen.“

 

3

„Physik Klausur ? Sag mir , was ihr grade macht , ich kann dir da echt

helfen !”

Norah ( von Söhringer ) weiß , dass Noah gut in Physik ist , eine Liga für sich ; aber interessieren kann sie das nicht wirklich . Noah ist ein cleverer Kerl , Primus in Mathe und Informatik sowieso . Er plaudert nach Ablegung seiner ersten Scheu gerne mit allen und jedem und kümmert sich nicht groß darum , ob ihm wer zuhört . Die Jungen akzeptieren ihn . Den Mädchen ist er einheitlich egal .

Er sieht dabei doch nicht schlecht aus , hat den dunklen Teint seiner Mutter ; ist jüngelchenhaft schlacksig und ruckt seine schwarzen Haare gerne aus der / in die Stirn ; und er trägt immer finstere Textilien .

Überflieger ist er seit Klasse sechs , das bringt ihm aber keine Meriten ein . Obwohl alle auch herablassend sagen : `Netter Kerl.´

 

Seit ein paar Monaten , Ewigkeiten also , ist er hinter Norah her , genauer gesagt , steht er immer irgendwo Norah im Weg . Morgens , wenn sich endlich ihre Haustür öffnet , nachdem zuerst dort ein Licht im Flur angemacht worden ist , hat Noah schon in seinem Zimmer zwei Häuser weiter gegenüber  gezappelt und geharrt . Er schiebt sein Fahrrad  bis zur Bushaltestelle , von der sie in die gleiche Schule fährt wie er , und oft steht er zufälligerweise mit seinem Fahrrad wieder da , wenn sie aus dem Bus aussteigt .

 

Es wird ein schneereicher Winter . Nachts  neu hinzugekommenes Weiß hat die Strassengeräusche gedämpft ; Norahs ins- Haus- Treten oder auf die Strasse kommen vollzieht sich lautlos , wie im Stummfilm . Sie wird nicht grob , wenn sie Noah wieder dort sieht , wo er sie  am dunklen Nachmittag gestern allein gelassen hat . Sie lächelt still in sich hinein , erzählt von sich wenig . Einwenig/zuwenig .  Noah weiß auch nicht , ob sie ihm zuhört .

Heute sagt er : „ Ich fahre auch mit dem Bus , mein Fahrrad ist kaputt.“

Sie setzen sich zusammen hin auf der Rückbank ; die Tür schließt sich , sie fahren los .

 

Kategorische Adoleszenz ! Noah denkt nicht an Sex . Er hat auch noch

 

 

noch so verstohlen nie

 

auf ihren Busen geschaut oder auf ihre Beine in den grauen Strümpfen ; er korrigiert sich : In der grauen Strumpfhose . Aber alles was da nicht ist oder nicht gesagt wurde zwischen ihnen : Knistert ! Für ihn ! Er hat Lampenfieber , was man seinen Sätzen allerdings um keinen Preis anmerken darf . Schwierig . Da sie selten antwortet, springt er auch oft von einem nicht zündenden Thema zum anderen .

„ Bist Du heute Nachmittag wieder in der Garage ? Ach so , ja , ich weiß,

die Physik-Klausur .“

Eigentlich will er sie ja auch nicht in der Garage treffen , wo die Klicke der beiden zunächst mal Skateboards vergleicht , einstellt , repariert ; draußen wird man gleich Hindernisse auf die verkehrsberuhigte Straße stellen , eine Kamera will vorbereitet sein zur Aufnahme der wildesten Stunts . Eigentlich gehört Norah schon nicht mehr und Noah noch nicht zu der Klicke . Bis Jens kommt , spielt man Rundlauf um die Tischtennis-platte  ; dazu hört man die neuesten Songs . Die Jungs  beschimpfen sich gegenseitig als Loser , was das Tischtennis und überhaupt angeht ; die Mädchen tuscheln  irgendwas und lassen Namen von Jungs fallen , die die Jungs in der Klicke wiederum nicht kennen . Man tut aber gerne so als ob und macht über diese Patricks und Svens herablassende

Bemerkungen .

 

Jens ist Norahs Partner in der Agentur Ratzy , wie wir uns erinnern .

 

4

Norah , die älteste von drei Schwestern , wird von den Jüngeren imitiert ,

beneidet : sie als schon Schöne ; kindlich intrigiert man gegen sie  .

Hat sie Noah mal erzählt .

Noah war noch nie bei Norah zuhause drinnen . Ihren Geburtstag hat sie im Partykeller ohne ihn gefeiert .Wenn Noah Norah zur Haustür begleitet hat und sie diese ziemlich lautlos und schnell geschlossen hat ,  tritt er zurück . Er betrachtet den ganzen Bungalow und träumt : Wie mag es drinnen aussehen , was macht sie jetzt in ihrem Zimmer , guckt sie noch mal raus durchs Fenster ?

Nein , das tut sie wohl nicht . Im Haus gibt es genug Platz für sie , wenn sie mich nicht auf der Straße sehen will .

Und in diesem Winter ist alles lautlos . Der Tag wird lautlos in den

Abend , in die Nacht hinein verabschiedet  ; es schneit weiter , wozu lebt man ?

 

5

„Ich sehe natürlich ein paar Unterschiede ,“ sagt Giacomo gerade .

„ Die sehe ich auch ,“ antwortet Starbacks .

„ Aber ich sehe auch die Gemeinsamkeiten ,“ sagt Giaco.

„ In der Tat  : Gravierende !“ antwortet Starbacks .

Ich habe keine Ahnung , wovon die beiden sprechen ; bin gerade den Niedergang herunter gekommen zum Frühstückssaal , wo Kapitän und Reeder über ernsthaftem Diskurs hocken .

„ Aber schon ein faszinierender Vergleich ,“ sagt mein Bruder .

„ Das hätte ich nicht besser formulieren können ,“ antwortet der Kapitän .

 

Es geht um H. und M. Nein , nicht die Warenhauskette , sondern …

um

 

Harakiri (H)       versus           Masturbation (M) .

 

In beiden fernöstlichen Techniken  ( so der umfassend gebildete Starbacks ! ) geht es um Körperkult , in solipsistischer Extremsituation .

Der Körper , der EIGENE Körper , als Gesprächspartner . Der die Umwelt monopolisiert , sozusagen . Till death do us part , wenn man so will .

Wobei M. wiederholungsfähig ist . Sozusagen ein open mike , eine

Botschaft an die Welt , wenn auch aus einer Telefonzelle , sozusagen ; Telefonsex , wenn man so will .

„ Bei beidem sollte der Mensch vor dem Spiegel , oder sagen wir :

Zerrspiegel !  kein schlechtes Gewissen haben ,“ sagt Giacomo .

„ Man sollte den Begriff der Psychohygiene nicht nur für H. gelten

lassen .“

Um auch zum Thema beizutragen , zitiere ich den bekannten Spruch des bekannten US-Filmregisseurs  : „ M. ist Sex mit jemandem , den man liebt .“

„ Und wenn die Ehefrau uns bei M. antrifft , wird einem H. etwas näher gelegt ,“ fasst der Kapitän zusammen .

 

Oder doch M wie `Mikado´ ? Ich denke an die Situation neulich am

U-Bahnhof , wie mir erzählt wurde ; mithin in einer rüpelhaft ungehobelten urbanen Menschenmenge , ellenbogig in Eile und umfassend ignorant :

Sie und er .

Sie fallen sich gegenseitig überraschend ins Auge : Er will IN den

Wagen , sie raus ; er setzt einen Fuß voraus , sie auch . Er zieht seinen Fuß mit höflichem Wort zurück , sie auch . Jetzt lächeln sie schon ,

setzen beide wieder ein kollisionsträchtiges Bein voraus , das jeweils den andren blockiert ; sie lächeln und schütteln den Kopf und sind

dabei irgendwie beglückt . Er sagt jetzt :

 

„ Ich Tarzan , Du Jane!

 

Wir einigen uns , Sie dürfen raus aus dem Wagen .“

Sie sagt : „ Ich links , Sie rechts ?“

 

„ Top! “ sagt Giacomo Neuhaus , und sie kommen immer noch lächelnd und nicht mehr ganz so in Eile aneinander vorbei und tauchen unter in einer sterilisierenden Menge , die auf einmal eine Art Nährlösung geworden ist .

Und denken abends : Da war doch was heute ? Und drei Tage später sehen sie sich wieder usw.

 

6

Noah über Norah…und was sie mit ihm anstellt !  ( : Daran denkt er vielleicht , ohne es zu merken ,  noch mehr ; Liebe ist bekanntlich nur die Pille , die wir einschmeißen ; der Vorwand , dem wir dafür dankbar sind , narzisstisch sein zu dürfen : Ich liebe , also bin ich wirklich , eine feste Substanz , also gibt es mich – und diese Bushaltestelle zum Beispiel  ) :

 

Norah v.S. ist meine Sonne , mein Schatten ; sie ist wo ich bin , neben mir , an mich gebunden , gebündelt . Sie darf schwach sein ; wenn sie da ist , bin ich stark .Wenn sie mich verlässt….

Das wäre wie , sagt Noah , wenn mich wer von Kopf bis Fuß in der Mitte teilte ; ich würde umfallen , da ist nichts mehr , worauf ich mich stützen kann .

So wirkt wohl Norah . Seit sie mich verlassen hat , sagt Noah , liege ich wie der berühmte Käfer auf dem Rücken , zappele und komme nicht hoch . Alles sackt zur Seite , ich kann dem Gewicht der Welt nichts entgegensetzen , keine eigene Kraft  ; kann mich nur in Schwäche oder in Schlaf einrollen . Leider wartet da der Traum auf mich .

 

Noah träumt . Er macht Norah den Vorschlag , für sie die Flyer auszuteilen . Sie gibt sich nicht die Mühe , ihren gegenwärtigen Stress zu verheimlichen . Wann ist Liebe schon mal frei von Hierarchie . Und dass er ihr helfen könnte , bezieht sie gnädigerweise in ihre Überlegungen ein . Sie sagt sinngemäß , dass Noahs Hilfe bei der

Prospektwerbung für Ratzy zwar ein eventuell tauglicher Lösungsansatz sei , dass sie jetzt dahinter aber nur umso deutlicher weitere Gebirgsketten von Problemen sehe .

 

Norah hat in diesem Traum merkwürdigerweise eine Hasenscharte .

Aber täuscht er sich ? Er ist auf sie zugegangen , sie sitzt im Sessel in der Schulcaféteria . Es ist laut und sie , wie gesagt , ist eher von allem genervt  ( vielleicht ja doch nicht von IHM , aber egal ) ; und er meint ,

jetzt , da er ihr wegen des Lärms nahe gerückt ist , sei eine Art Glaszelt über ihnen , das sie zusammen von dem Rest der Welt abtrennt  und  schützt .

Ist es Glas oder eine Seifenblase ? Und zeigt Norah ein Lächeln ?

Das Lächeln von Einverständnis , ein Verschwörerlächeln ?

Wir zwei , denkt Noah ,  sehen gemeinsam in ein Kartenblatt , das die anderen Spieler , die vielen da um uns rum , nicht einsehen können . Wieviel Lächeln ist auf ihrem Gesicht ? Wie  dauerhaft ist der Glasvorhang ? Wenn er stabiler ist , kann man vielleicht auch nicht mehr so klar durchgucken ?

 

 

7

Noah denkt so was nie ! ( Giacomo gab gerade in seinem Beisein Kommentare zum Aussehen einer Schauspielerin ) , wenn er an Norah denkt . Natürlich ist Norah schön . Aber das ist so selbstverständlich

wie….. Schwerkraft , dass das Wort irgendwie gar nicht passt , als wäre es ein Text aus einem anderen Buch . Ausländisch .

 

Norah ist nicht schön , sie ist anders . Noah meint , ihm würde es

reichen , immer einen Meter von ihr entfernt zu bleiben ; nur Sonntags gäbe es einen Kuss. Oder nicht .

Noah steht am Fenster . Wer die Straße entlang kommt , wird durch den Spiegel angezeigt : Die Fenster gegenüber nämlich , in die Straße hineingeneigt ; Noah wartet .

 

Lauter egale Leute . Noch nie habe ich so egale Leute so schmerzhaft klar in allen Details gesehen . Geh weg ,  Opa ; Du Türkin mit zwei Kindern ; Du Politesse ; geh weg , Paul , Dich kann ich jetzt auch nicht brauchen . Falsche Leute . Das könnte alles nicht verschiedener von Dir sein , die NICHT kommt . Und ich muss sie notgedrungen alle sehen , weil ich auf Dich warte . Das ist Missbrauch .Wenn ich die hier mit Ray Gun oder mit  Zeitraffer erledigte, abservierte , wegwischte : Käme ich schneller zu Dir . Wie kann mich der liebe Gott so falsch verstehen . Alle diese Schemen , die sich schon im Spiegel als die Falschen heraus-stellen . Nein , diese Tussi ist es auch nicht ; und der Mac da tuts auch nicht .

Wenn ich schlafe und mich von ihr wecken lasse ? Aber sie weiß gar nicht , dass ich warte ; erst recht käme sie nicht auf die Idee , mich zu wecken . Kann ich diese Bürger und Bürgerinnen der Stadt K. , die

irgendwie gar kein Recht auf diese Straße haben , nicht einfach wegschlafen ?

 

Gestern abend habe ich noch einmal unseren Song gehört . Und Norah weiß nicht , dass es unserer ist : `Pilgrim´s Progress ´. Sanfte Orgel , traurige Stimme , tastend langsame Melodie . Es ist ein Aushallen , vor dem Schlafen in einer langen Dämmerphase .

 

Noah hat Kerzen angemacht . Der Raum ist Heimat , natürlich auch für Norah , die hier in  seinen Gedanken schon eingezogen ist . Hier gibt es noch Fotos und Spielzeug aus Kindheitstagen , die er heutzutage nur  ironisch liegen stehen und hängen lässt . Ein alter Säbel aus seinen Piratentagen an der Wand , ein Schiffsmodell . Wenn Norah jetzt hier auch eingezogen ist , zu dieser Schleppe von Trauermelodie , dann ist eigentlich  auch Noahs Kindheit noch da , und Norahs auch ,und Norah ist Teil der Familie ; also war damals auch schon alles gut . Und ist gut und wird gut bleiben .

 

8

Ach Lila  …..  Oh Lila .

Giacomo Neuhaus meinte damals , zu Karneval sei sie nur vorstellbar als Cowboybraut : Unter einem Hut mit Kinnriemen , in Lederjacke und Stiefeln , in Jeanshemd , gerne auch mit Pistole im Halfter . Hinter ihr schlagen sozusagen die Saloon-Türflügel .

 

Lila erzählt von Knorrs Ableben .

 

„ Er geht gerne zum Friseur ; sagt : Je weniger graue Haare man sieht , um so besser .“

Sie schüttelt den Kopf und ihre Augen sind rot . Seit Tagen schon .

„ Er ging. Gerne zum Friseur . Anders als all diese Leute jenseits der 50 , die sozialarbeitermäßig irgendwie noch ihre letzten Haare lang zerren und im Pferdeschwanz bündeln . Er sagt immer : Das ist meine Identifikationsverweigerung . Ich habe mit dieser Generation nichts zu tun.“

Pfarrer Knorr ist zehn Jahre älter als  seine Frau – gewesen .

„ Ich bekam den Anruf , als ich gerade……..“

Lila tupft ihre Augenbrauen .

„ Der Friseur , so ein Türke , der nicht besonders  Deutsch spricht , mit dem er sich also gar nicht gut unterhalten konnte ; ich glaube , er saß da einfach vor dem Spiegel und guckte sich selber an .“

 

`Wieso ist sie jetzt zu uns gekommen ?´ fragt sich Giacomo. Die `Cythera´-Crew ist fast vollständig im Restaurantdeck versammelt ; keiner wagt , irgendwas zu sagen oder zu tun , außer dass man den Stuhl noch näher zu Lila  heranzieht , damit man sie versteht –oder sie nicht laut sprechen muss.

`Gibt es niemanden , der ….. ihr eher helfen könnte ?  Sie besser verstehen könnte ? Ihr Vertrauen ehrt mich , aber ….ich bin doch der böse Wolf ! Der mit dem bösen Blick .´ Denkt Giacomo , wie ich dem Blick entnehme , den er mir zuwirft .

 

„ Also , er saß da im Stuhl , Frisierkittel um , hat irgendwas gesagt wie : `So kurz wie möglich ´ , Surat schnippelt los , oder rasiert mit der Maschine ,  und auf einmal kippt der Kopf nur ein bisschen zur Seite  , und sie merken , er ist tot .“

 

` Muslim schneidet Haare ; Pfarrer stirbt  ! ´ denke ich mir die

Schlagzeile . Strictly bad taste . Was gibt es nicht alles an Abgängen . Die Wüstenfuchsfans werden weniger . Pfui Hammelrath .

 

Und Lila sagt :“ Als ob der liebe Gott eine Knarre mit Schalldämpfer

benutzt hätte.“

„ Und er hatte Lammkoteletts für morgen gekauft . Ich habe sie dann zu spät in den Freezer getan . Essen wollte ich sie dann sowieso nicht

mehr .“

 

9

Noah ist verzweifelt . Mit dem Freitag ist das Ende der Schulwoche gekommen , und damit das Ende der morgendlichen Begleitung von Norah . Über das Wochenende fährt sie gelegentlich weg , oder bleibt

hinter verschlossenen Türen `erst recht ´ zuhause . Die Schule dagegen ( was für eine tolle Einrichtung !) bringt die strenge Regelmäßigkeit  von : Hin zur Haltestelle – zurück von der Haltestelle .

 

Die Lehrer sind einerseits angetan von Noahs neuer Zuverlässigkeit ,

` was  Pünktlichkeit angeht ´ ; da sie aber NIE zufrieden sind , meckern sie jetzt über seine Verträumtheit .

 

Jetzt , Freitagmittag , öffnet sich  also ein weiter Trichter von Sinnlosigkeit vor Noah . Er geht auf sein Zimmer , wirft sich aufs Bett , die Zeit stellt sich um auf den neuen langsamen , kaugummihaft dehn-willigen Leerlauf .

 

Und das Telefon geht . Und Norah fragt :

„ Gehst Du mit mir zum Tischtennisverein , ja , der bei den Katholen.

KTV . Wir treffen da auch einige andere .“

 

Noahs Einfamilienhaus ist Nachkriegsbau , nicht im besten Zustand ; und Aimée macht sich Sorgen um die architektonische Statik , als ihr Sohn jetzt pfeilschnell , wie Steinschlag die Treppe herabstürzt ; eigentlich betritt er den Erdboden gar nicht mehr . Er sammelt seine Sportsachen , ist ganz Strahlen ;

 

          er wirbelt um seine Mutter herum

          in einer Art Delirium :

 

würde Malevitch sagen .

 

Freitag  und Samstag also Tischtennis . Klick-Klick-Klack , Gejole um den Balltausch an den Brettern . Große Könner , die Norah das Schmettern beibringen wollen , und kleine Versager  wie Noah , die gerade einmal hektisch den Ball irgendwohin dreschen .  Dann schon lieber Skateboard .

Und hinterher , es ist nachmittags um 4 schon fast dunkel und die Wolken haben letzte rosarote Ränder : Hinterher geht es zurück zur Brunnenstraße .

Noah kann damit leben , wenn Peter mitgeht , dann kann es auf Norah

nicht wirken wie Belagerungszustand ; er MUSS nicht unbedingt jetzt/hier /für immer das Richtige fühlen/tun/sagen ; und im Vergleich zu Peter ist Noah wirklich doch wohl der Interessantere . Oder .

Andererseits wäre Noah gern allein , wieder allein mit Norah ; aber was würde er ihr dann eigentlich sagen ?

 

Und es ist dann Samstag ; wahrscheinlich ist Norah doch weggefahren zu dieser Familienfeier . Ausgerechnet Familie ! Norah wohnt da , im Haus gegenüber . Sie ist Realität  ( ab Sonntag Abend wieder ) .

Realität , aber sie gibt mir nicht , sagt Noah , was da wäre , gibt mir

nicht , was ich will .

 

Ich , Hammelrath , erkläre ihm : Sie lehrt Dich das erste Mal Armut . `Ohne Dich habe ich nichts . Du gibst mir nichts , aber was Du mir geben könntest , macht mich auch so reich , ohne dass Du es mir gibst ´.

 

10

Giacomo hat es bemerkt : Nicht erst heute auf dieser Busbank .  Lilas Geruch ist angenehm ( sowieso ), anders …und aufregend . Etwas zwischen Essig und Asche , Rauch , Rinde und Schnee , Moos und , im Spiel , frisches Wasser und stehendes .

 

Giacomo machte einmal im angeheiterten Zustand den Vorschlag : Wenn dereinst eine Raumsonde für einen intergalaktischen  Botschafterflug auszurüsten wäre mit Reklame für die Irdischen : Was würde man in diese Flaschenpost packen ? Die Runde erinnert sich zunächst erwartungsgemäß an Da Vincis Idealproportionen und Beethovens Ode an die Freude , sagt aber nichts dergleichen . Malevitch ist betrunken und sagt :

„ Eine Urne mit irgendwelcher Asche .“

„ Merkt Ihr nicht ?“ frage ich spitz . „ Es geht Giacomo Neuhaus um den repräsentativen Porno . DER Porno aller Zeiten , ins All gepfeffert , zur

…….libidonösen Fertilisierung des Kosmos .“

Starbacks fällt ein , er habe neulich ( er sagt nicht wo ) einen Film gesehen , den er für das Bordkino anschaffen wolle .

„ Also . Es war in einer Galerie . Dauerfilm : Eine Frau auf dem Fahrrad . Anscheinend ist die Kamera in einem Gefährt vor ihr montiert ; sie fährt jedenfalls Stunde um Stunde ( nein , ich habe es nur eine Viertelstunde gesehen !)  immer lautlos auf den Betrachter zu  .

Sie trägt einen leichten Sommerrock , und der Saum des selbigen hebt sich bei jeder Pedalrunde absehbar einmal hoch und senkt sich wieder

und lässt mal mehr mal weniger mal gar nicht mal : Sieh mal ! unter

den Rock , zwischen die Schenkel blicken .“

„ Aber Starbacks !“ sagt Lila erwartungsgemäß.

Mir ist um eine kultivierte Verlagerung des Gesprächs zu tun und ich

möchte alle Herzen mit der Idee begeistern :

„ Wir fügen Photos der schönsten Frauen bei  . Wenn wir zum Besipiel eins von….(gespielt längere Pause )  Dir nehmen“ ( und Giacomo schenkt Lila ein sehr deutliches Lächeln ) „ haben wir nächstes Jahr  Heerscharen von Aliens zu Besuch . Ich wette .“

 

Lila sagt , solche Komplimente hätten zuletzt  das Herz ihrer Großmutter

gewonnen . Aber wir sollten uns bitte weiter verdient machen um die Altersheiminsassinnen . Malevitch greift zu seinem Bass und rapt :

 

 

parlour

 

 

ja nein schachbrett-

schwarz schachbrettweiß

schön ist deutlich

ist kalt wie eis

 

schönheit lässts an deut-

lichkeit nicht fehlen

schönheit ist wachwerden

nach schäfchenzählen

 

schönheit ist trennscharf

schnörkelfrei sezierend

schönheit ist handschrift

kompromittierend

 

schachbrettschwarz

ja ja nein nein

mathematisch klar

nicht sein oder sein

 

planquadratisch sie

ist die sie ist die sie ist

ist nicht allgemein

ist nichts was Du vergisst

 

die schöne kommt ums eck

die schöne tritt ins bild

damit ist alles anders

mit sinn randvoll gefüllt

 

(Warum drückt  Aliya eine Träne aus dem Augenwinkel ? )

 

11

Urbarmachung . Einen Sumpf austrocknen . Worauf man halt so Lust hätte an einem langweiligen leeren Nachmittag in einem Straßencafé .

In dem und vor dem gerade hartnäckig nichts passiert . Zu welchem Gast passt welches Auto ? Drei (3!) Fehlurteile sind erlaubt .

Das spielt sich etwa eine Woche vor Weihnachten ab .

 

Urbarmachung also . Und eine junge Kellnerin , klein , schnuckelig –

muss dieses old school Adjektiv übersetzt werden ? Süß , fit , nett zu fast allen , umgänglich , wieselflink , selbstredend attraktiv , sportlich ,

zu spitzer Nase , die etwas Schnüffelndes hat mit ihren nervösen

Flügeln . Blau sind ihre Augen , wie ein Wolkenaufriss nach langer Düsternis ; lange blonde Haare finden sich hinten zusammengefasst , neben den effektiven Silberohrringen . Ihre Kollegin stiefelt mit Westernboots hinter der Theke ; dabei klingeln Metallsporen und machen mich nervös . Auch sie sieht iberisch aus , allerdings  wie die erfolglose ältere Schwester von Penelope Cruz .

Draußen passiert eine ältere Frau mit einer krankhaften Lippen-geschwulst , Lippen und Zunge scheinen dem Gesicht vorherzugehen ; der Blick ist vielleicht auch unabhängig von dieser Verstümmelung triste , mürrisch , misstrauisch , ungönnerhaft . Sie tut mir den Gefallen , nicht in mein Lieblingscafé zu gehen . Dabei würde ich ihr gerne Gutes ange-deihen lassen. Aber was . Das Leben ist eine strikt gerechtigkeits-feindliche Veranstaltung . Wem ich das sage ? Ihnen , liebe Leser , falls Sie es zwischendurch vergessen haben sollten .

Nachmittags bin ich noch einmal vor Ort  ; wiederum nämliche Kellnerin . Anscheinend ist dies ihr langer Tag . Ich erinnere mich an den französischen Künstler , der dieselbe Kathedrale mehrfach an einem Tag malte : Morgens , mittags , nachmittags . Vielleicht bringt mich ihr blondes Haar auf diesen Gedanken .

Blondies beherrschen am heutigen Montag die Szene , manchmal Mutter und Tochter . Die jüngere Generation immer mit viel längerem oder buschigem bauschigem Haar , Neuland und Terra Incognita  ,

mit Sternthalergold in den Locken . Alles in weihnachtlichem Krippen-glanz . Mutter und Tochter , beide straffen Busens ; die eine stolz noch gute Figur zu machen , die andere schon .

 

Auf einmal : Heulllllllheullllllheullllllheullllllheullllll. Kann man diese Sirenenschleuder eigentlich verklagen ob der Gehörschäden , die sie in Kauf nimmt ?  Mag ja sein : Es geht um eine gute Sache , Rettung oder Einsatz zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung . Ist aber ärgerlich .

Ein Lautsprecherwagen fährt durch das Viertel . Ich verstehe die Durchsage schon beim ersten Mal .  Warum sie dann noch mal wiederholen ?

„ Bitte verlassen Sie Ihre Häuser innerhalb der nächsten halben Stunde und begeben Sie sich Richtung Karlsplatz , mindestens aber etwa einen  halben Kilometer von hier weg . Schließen Sie vor Verlassen der Wohnung die Fenster und Rollläden. Es herrscht keine unmittelbare Gefahr . Eine Bombe , die seit dem Krieg hier liegt ,  muss entschärft werden .“

Und wo ? Was ? Soll ich das glauben ? Gerade hier am Humboldtplatz ?

Ich stehe verdattert , bin aber sowieso schon auf dem Weg zum Parkhaus . Im Treppenhaus helfe ich der alten Dame von gegenüber mit Rolator und Schäferhund .

Dann gehe ich an den Einsatzwagen vorbei Richtung Uferanlage .

Ich treffe Norah und wir reden über Gott , die Welt und ihr Kunstprojekt , und eigentlich warte ich so halb auf eine Detonation ; was man so aus Filmen kennt  : Einen Schattenwurf am Himmel , vielleicht ein Erzittern des Bodens .

Aber nichts dergleichen für meine Sensationslust . Es kommt wieder ein Lautsprecherwagen und  tönt , die Gefahr sei vorüber ; man könne zurück in sein Viertel . Ich höre dann auch im Autoradio von der Bergung der britischen  Weltkriegsbombe , die geordnet geglückt sei, obwohl der Boden teilweise sogar gefroren war .

Als ich mittags in unser Servicecenter zurückkehre,  sind die Sperren aufgehoben . Aber ein Wagen mit der Aufschrift  `Kampfmittelräum-dienst ´ steht noch mit langsam rotierendem Blaulicht an der Ecke .

Hier lag die Bombe ? Ja , da wo die Ausschachtungsarbeiten  für die

Normaluhr angefangen haben . Sie wissen doch : Die Uhr , die eine

Frau Öztunali hier aufstellen lässt , aus einem Lottogewinn ; wieso eigentlich hier ?

Jedenfalls :  Die Pennerszene hat sich da schon wieder drapiert . Business as usual . Kann uns doch nicht erschüttern . Der Platz ist halt Heimat ; die verlässt man nicht , oder nur  gezwungenerweise .  Auch nicht im Winter . Der Atem qualmt , die Füße stampfen .

 

Ein Beamter redet intensiv mit einem Obdachlosen , der anscheinend irgendwie seelisch aus dem Gleichgewicht geraten ist : Er macht abwehrende Bewegungen und jammert vor sich hin .

Ich will in den Hausflur unserer Stadtwohnung einbiegen und schaue nur halb hin , sehe aber , dass der Beamte im Plastikkittel eher klein geraten ist , und : Diese Figur kommt mir bekannt vor !

 

Ich zögere , stutze , gehe dann doch über die Straße und sehe nicht nur

verdattert , dass es eine Frau in Uniform ist , die mit dem Stadtstreicher  spricht , sondern auch :

 

„ Aimée ?“

Sie fährt herum , ist verschreckt , aber wohl nicht wegen mir . Sie macht eine abwehrende Handbewegung , wie `Jetzt nicht ! ´ . Aimée scheint etwas im Auge zu haben .

„ Ich habe hier nur gerade wen getroffen – oh , Gott , das ist so ….“

„ Was ist das für eine Uniform ?“

„ Wir hatten gerade einen Einsatz ! Hast Du das nicht mitbekommen ?“

 

Einsatz ……– Einsatz ? Ja , sie habe ja eben diese Bombe bearbeitet . Sie meint `entschärft ´ .

Aimée ?!

„ Und bei der Gelegenheit , ich bin ja nicht oft in dieser Gegend, “

was stimmt , was ich weiß ;  was ich bedauere .

„ Bei der Gelegenheit sehe ich ihn hier  ; hier diesen älteren Herrn ,“

und sie zeigt auf den Obdachlosen mit Bierflasche und Zigarette in der

frostig roten , zittrigen Hand .

„  Ja .Mein Vater . Wir haben uns seit 10 Jahren nicht gesehen .“

Sie dreht sich ab , um wenigstens für Sekunden allein zu sein .

Und da kommt auch Noah .

 

12

Morgens an der Fußgängerampel . Verschlafene Erwachsene , noch verschlafenere Kinder mit Schulranzen . Dieses Grüppchen , das mir auf dem Weg zur Fahrschule begegnet , ist sogar so müde , dass man nicht gegen die Ampel rebelliert und drauflosläuft ; sie bleiben tatsächlich schwankend stehen und warten auf Grün .

Alle sind irgendwie neben ihrer Müdigkeit :

–     Schnieke zurechtgemacht die Frauen ,

–     gebügelt die Männer ,

–     gerade noch abschiedsgeknutscht die Kinder .

 

Lieber Gott , sage ich , lasse bitte keinen von denen heute dem Ende begegnen , dem eigenen oder einem in Familie und Nachbarschaft .

Gleich dem von Pfarrer Knorr. Oder schlimmer .

 

Vormittags dann mit zwei Schülern im Wagen durch das Uni-Viertel , vorbei an Skateboardfahrern , Fahrradschiebern , Händchenhaltern.

Giacomo ist nicht der Einzige mit dem  Kamera-Auge . Ich sehe die jungen Leute mit Neid , sie deprimieren mich .

Ihre Jugend bricht den Stab über meinem Versagen : Nicht jung ge-blieben zu sein =  wie peinlich ! Damals gemeint zu haben , man habe die Weltformel ! Wie  schmuddelig . ICH setzte keine dauerhaften

Maßstäbe , damals , die zeitlos bleiben , also auch für diese Youngster gelten . Frank Sinatra : If you can make it NOW you can make it anyTIME ……Fragezeichen .

 

Ach ja . Ich denke ( das kann nicht schaden ) an Jesus . Wie er nach Jerusalem einritt vermittelst eines Esels . Und sage mir : Du hast das Recht , nicht als Sieger in diese Stadt einreiten zu müssen .Ist halt irgendsoeine Stadt . Schwerkraft siegt . Jesus lag auch mal in einer Krippe , wie wir erinnert werden .

 

12

Wie ich nur auf so was käme , würde Anne fragen . `Würde ´, weil sie jetzt  nicht da ist , immer noch nicht , schon seit zwei Monaten , noch weitere 30 Tage . Wie ich auf so was komme ?

Dass Anne weg ist , lässt mich aus sozialem Vakuum heraus genauere Blicke werfen auf die weibliche Klientel . Der Gedanke spielt sich ein : Wie wäre es , wenn ich gar nicht verheiratet wäre , wie wäre ein Frühstücken mit dieser oder jener oder gar dortiger Frau ?

 

Anne schenkte mir mal zu Weihnachten diese sehr teure Uhr , die nach zwei Jahren  aber einen Defekt hatte . Die örtlichen Uhrmacher sagten mir , ich müsse da tapfer sein ; eine Reparatur außerhalb der Garantiezeit werde durchaus einige hundert Euro kosten .

Nun habe ich immer eine ausreichend stolze Anzahl von Chronometern in Reserve  ; Anne hat auch nicht darauf bestanden , die Uhr reparieren zu lassen , und so war das Wrack halt in meinem Preziosenschrank verstaubt .

Ich beschließe , Anne bei ihrer Rückkehr zu überraschen mit dieser wieder instand gesetzten Uhr . Ein Schelm , wer schlecht davon denkt .

 

14

Weiß ! die Farbe , die brandgefährlich ist : Von der Kokainspur bis zur weißen Haut der Schulter , zum weißen T-Shirt , dem Weiß des AlfaRomeo , den sie zuhause fährt : Weiß ist die Farbe von Begattungsansinnen , und die Farbe , die Giaco wild macht .

Entsprechend ist mein Bruder auch hin und weg von , dort drüben , jenen nackten Schultern , dem Hals und dem angedeuteten Rücken . Wir stehen an der Rezeption des Hotels `Wonnenbacher ´ zu Wiesbaden . Wie ein sanfter verschneiter Hügel , der den Skifahrer einlädt : Hier gleiten ist Wonne , eine Wanne von Wonne , diese Wonne wird mich nicht verlieren !

Giacomo Neuhaus lässt den Blick schweifen , um nicht der Todsünde des Gaffens zu verfallen ; ihm fällt die Taktik der Fußballer ein , auf den zweiten Ball zu warten , nachdem ein Pass nur zu drei Vierteln angekommen ist ; diesen zweiten Ball dann zu zelebrieren .

Ach frisch geduschte Blondinen ! Wenn sie denn auch noch aus Mandelaugen vorsichtig huldvoll auf die Männerwelt schauen !

 

Sie

ist die aufregendste unter den Hotel-Rezeptionistinnen : Ihr quirliger Körper konzentriert sich da gerade auf ein einziges abschätziges Schulterzucken , als hätte sie nicht viel zu sagen ausser :

„ Bleib wo Du bist und mir gestohlen !“

Quirlig , sagte ich , wie ein Kiesel im Gebirgsbach ; Elvira wendet , nein wirbelt einer Riesenanzahl von Männern und Männerblicken den tiefausgeschnittenen Rücken zu , um dann gleich wieder haarscharf an allen vorbeizugucken . Ich muss an Kutschpferde ( wie bitte ? ) denken , deren Augenklappen den Blick nicht aus der Geradauslinigkeit

entlassen . Elviras Konzentration ist katzenhaft-sprungbereit , nahkampffreudig sozusagen . Wenn Tarzan schon besiegt ist , hält sie immer noch die Front , die Linie , die Liane .

 

 

15

Sonntag Morgen 10 Uhr . Noah wälzt sich noch einmal auf die andere Seite . Die Glocke vom Kirchturm . Autogeräusche . Er sieht

ohne zu sehen : Große Karossen ( aber die sind doch nicht nur Sonntags groß ?) , Menschen in Sonntagsstaat steigen aus .Chic wie unter der Woche nicht . Männer mit Fliegen ! Ist heute Palmsonntag oder sonst was Besonderes ?

 

Noah gähnt im Stakkato , steht auf und geht ans Fenster . Eine Nachzüglerin steigt aus , hat etwas unkorrekt geparkt , weil sie zu spät ist . Das ist die- wie heißt das noch ? Presbyterin ?  Die sollte doch eigentlich als erste in der Kirche sein ?  Auch sie : Schick . Ist sie wochentags nicht unbedingt . Heute trägt sie eine weiße Bluse , einen blauen Samtrock und Strümpfe. Das ist sexy . Sie ist untersetzt , kräftig , aber schmuck ; man könnte mit ihr knutschen ; wahrscheinlich hat sie deutlicher Lippenstift aufgelegt als sonst . Noah könnte ins Bett zurückgehen und sich einen runterholen .

 

Und Noah denkt so was nie , wenn er an Norah denkt . Natürlich ist Norah schön . Aber das ist so farblos , dass das Wort irgendwie gar nicht

passt , als wäre es ausländisch . Norah ist nicht schön , sie ist anders .

 

Wollen Frauen nur Männer , die Meister im Weggucken sind ? Blinde ?

„ Ich bin der Richtige für Dich ; dass ich nur Deine inneren Werte sehe , macht MICH so sexy und unwiderstehlich für Dich ; ja, zwing mich , Dich zu sehen , es tut so weh , aber es ist so gut ; mach den Scheinwerfer noch was greller !“

Ist es so mit der Presbyterin und ihrem Mann ? Und die Kinder mehren sich und sind glücklich und so froh ?

 

Die unterstellte Mutter und Kirchenaffine ist durch die Tür von St. Emmeran verschwunden . Natürlich ist ihr Auto ein Kombi , weil sie ja Kinder hat . Kinder , Kombi , Killerfigur . Und überhaupt Frauen .

 

Noah fragt mich am nächsten Tag : „ Haben Sie Aimée – ich meine , meine Mutta – wirklich geliebt ? “

Solche Fragen stellt man nur , wenn man lange Mut gesammelt

hat , sich ein Herz fasst , wenn man – wie wir jetzt grade – in einem Stau steht .

„ Ich war in sie verliebt . Wir waren ineinander verliebt . Reicht das ?“

Stop and Go , zwei Meter vor , dann wieder lange gar nichts an Fortkommen .

„ Und ich wollte um keinen Preis von ihren Eltern zur Rede gestellt werden : `Was veranstalten Sie da im Leben meiner minderjährigen Tochter?!!!´“

Ich denke natürlich an Aimées wieder aufgetauchten Vater  .

„ Verliebtsein ist was anderes als Liebe ,“ sagt Noah .

Ich will sagen : Meine Güte , DU bist ja  erwachsen ! . Aber dann ist mir klar , dass er Erwachsensein wahrscheinlich am ehesten mit Giacomos erotischer Schnörkellosigkeit verbindet . `Liebe ´ ist für Noah selbstredend halbkindlich-Märchenhaftes . Wer glaubt schon an `Bis dass der Tod uns scheidet ´ wenn nicht die Teenager ?

 

Ich beschließe , ihm zu erzählen , was damals zwischen mir und Aimée passierte .

„ Verliebtsein : Das ist wie ….wie eine überraschende Brücke zwischen zwei Fremden . Ein überraschendes Einverständnis . Das heißt dann auch : Eine plötzliche Abwertung von allen anderen , die nicht in diesem magischen Zweierkäfig drin sind . Abwerten bis zur Unerträglichkeit : Haut ab , ihr stört !

Und die Verliebten haben eine überraschende gemeinsame Sprache , oder das Interesse daran , die brennende Neugierde , die Sprache des Anderen zu lernen . Ein erster Blick , ein Zufall , ein Geschenk ! Fortsetzung von Weihnachten mit anderen Mitteln .

Und dann die Abrisskante : Ich muss jetzt gehen ! Oh wie schade …Und

man weiß , daran wird man zu knacken haben , an diesem Wegsein des Anderen  . Noch nie war man so allein ! Das arbeitet weiter an dir ( und IHR ? Fragezeichen !)  , an jedem für sich allein .

 

Aber man wird auch selber  auf einmal mehr  ; eben noch ist man vom Zufall begünstigt , jetzt ist man gehandicappt  ; da wurde etwas wegamputiert . Jetzt fällt man in ein Koma . Und wenn wir uns das nächste Mal wiedersehen , sind wir tollpatschig – wie besoffene Pandabären .

Du dramatisierst die Existenz des Anderen : Vielleicht ist sie ohne mich gefährdet ? Oder aber : Bin ich allein verliebt? Oder gibt es diese gemeinsame Verschwörung ? Wo man verliebt ist , ist es windig ; soll ich mich festhalten ? Die Haare flattern . Und abends , wieder allein , woanders , die Rekonstruktion , was hat wer gesagt , wie hat sie auf dieses oder jenes Wort reagiert . Was hat man gesagt , was hätte man natürlich stattdessen sagen sollen ? Kann ich es später noch mal

sagen ?“

 

Noah murmelt : „ Bei Euch hier an Bord oder im Café liebt jedenfalls keiner . Beim Tango spielen die Leute so eine Art Nachlaufen  , und die `Cythera´ gibt Giacomo jede Menge One-Night-Stands  . Ich finde meine Welt , die für mich und Norah , hier nirgends .“

 

Wusste ich es doch , denke ich .

„ Vielleicht im Rettungsboot ?“ scherze ich . Und denke weiter :

„ Und dann die Hierarchie , die schiefe Ebene . Dadurch , dass Du den Anderen so aufwertest .`Hätte nie geglaubt – glaube es  so richtig jetzt auch noch nicht – dass DUUUU !!!! MICH !!!!lieben könntest ´.

Und jetzt : Ein WIR gegen den Rest der Welt ?“

 

Tja . Im französischen Film wäre das ein Stichwort um an der Zigarette zu ziehen oder einen letzten Schluck aus dem Glas herauszuschlürfen .

„ Was bleibt in der Ehe davon ? Die Ehe…“ Hat meine Stimme tatsächlich was besoffenem Gelalle? „… ein Zerstäuber . Nichts bleibt . Eine austarierte Glasplatte , von der man mit Zerstäuber die kleinen Fettflecken wegputzt . Wisch und weg , gleich kommen die Müllers zu Besuch .“

Ich überlege , ein wenig provoziert durch Noahs Gegenwart und das Thema : Könnte ich mich neu verlieben – weil ich es WILL ? Die kleine Polin ? Die Tango-Queen ? Die rotwangige royale Bedienung im Chien , Typ : Ins –Exil- Vertriebene , verletzlich , ` ich gebe aber mein Bestes hier ´ . Eine schmale feine Nase , die sie rümpfen könnte , was sie aber nicht tut , aus guter Erziehung .

„ Du bist gut im Spiel , glaube ich .“

„ Was heißt das ?“

„Heißt : Du gibst jemandem  ( Norah ) zu denken , sie kommt irgendwann auf etwas zurück , was Du mal gesagt hast  ; wenn man jemanden einsam macht – vorläufig , bis zum Wiedersehen ; ja , Deine Mutter war damals unglücklich .“

 

Ich erinnere mich an besagte Tage .

Mit welcher Instinktsicherheit Aimée das genau richtige Wort fand , ein `Sesam-öffne-Dich ´ ; ein banales Wort , ich weiß nicht mehr welches , das aber edgy ist , eine Kante hat . Und im Nachhinein ist man sicher , dass auch noch eine andere Regung da ist : Das Vertrauen darauf , dass der andere haushalten kann , dass immer ein Rest Geheimnis bleiben wird . „Ab jetzt wird es das immer geben , Zauber und Geheimnis , die Droge oder wenigstens das Gewürz , das nie mehr fehlen darf .“

Noah spekuliert : „ Oder das Gefühl : Wir spielen so etwas wie `Ich sehe was das Du nicht siehst ´ : Der Andere sieht hinter mir was , etwas riesig großes Schönes , einen geheimen Everest in Schnee und Sonne , was ich bisher nicht sehen konnte . Um umgekehrt .“

 

„ Lass uns umkehren ,“ sage ich , genervt vom Staugeschiebe und unserem ` Erwachsenen- Gespräch´ , „ da vorne machst Du einen U-Turn , hier kommen wir nie weiter .“

 

16

Noah hat dann irgendwann Fahrprüfung . Hinten im Wagen sitzen Pellworm und Krüger von TÜV und  Straßenverkehrsamt . Der Prüfling  ist nicht sehr nervös , er kommt auch meist gut mit dem Auto zurecht

( welches von Pellworm und Co . erst einmal neugierig begutachtet und dann gelobt wird : „ Eine Beauty Queen für Ihr Imperium . Gut , Hammelrath ! Schaffen  Sie davon mehr an ?“ ) .

Noah biegt gerade vorsichtig in die Karolingerstraße ab , als Pellworm sagt : „ Sehen Sie den jungen Mann da vorne winken , der verzweifelt auf ein Taxi wartet ? Nehmen Sie den doch einfach mit !“

Der Mann vom TÜV ist berüchtigt für seine Unberechenbarkeit , aber Noah kriegt das Rechts-ran-Fahren ( Spiegel , Blinken , Bremse nicht zu

hart durchtreten , Notfallleuchte ) gut hin , und Giacomo , der zuerst verduzt auf uns runter schaut , steigt tatsächlich ein .

„ Das ist mal ein Service ! Fahrt Ihr in der Nähe vom Dorinth-Hotel

vorbei ?“

Als der Prüfling dort ausrollt , sagt mein Bruder : „ Seid bedankt ! Wir feiern Noahs Führerschein heute Mittag im Chien  . Einverstanden ?“

Noah besteht nämlich diesmal tatsächlich , und um eins studieren wir die Tageskarte in Giacomos Lieblingscafé .

 

Wo Noah dann schweigt  . Ich vermute er denkt an Norah .

Norah trägt irgendwie einen neuen Blick dieses Jahr . Ich weiß nicht , ob das auch Noah aufgefallen ist . Letztes Jahr schaute sie noch einfach kindlich neugierig oder kindlich trotzig drein . Heuer trägt sie den Blick wie irgendein schweres Gefäß schwappend mit Wasser an Dir vorbei , konzentriert in ihrer Nicht-Kenntnisnahme Deiner oder egalwess´ männlicher Anwesenheit.

Sie managt den Blick an Dir vorbei ; für eine Durchgangsphase  meinst Du , sie sehe gleich auch Dich an , alles kommt mal an die Reihe , auch Du wirst angemessen zur Kenntnis genommen . Wartet sie ? Nein , sie wartet nicht auf ein Losungswort – und dann ist ihr Blick an Dir vorbei-gewandert , unbeschädigt , Du warst gar nicht da ; oder nur gerade genauso viel wie die Telefonzelle .

 

17

Wenn nur endlich dieser Winter aufhören würde ! mit seinem gequälten Licht ; fahle Schaufensterbeleuchtungen an Straßenlaternen . Sie machen aus den wenigen Menschen , die einem morgens , abends , nachts begegnen , Styropor –Schaufensterpuppen , weiße Maden unter einem Stein , vor Kälte und Öffentlichkeit versteckt .

Norah sieht , was ihre Lehrerin sieht . Die sieht aus dem Fenster ; schließlich hat sie bei der Klausuraufsicht nichts zu tun . Auch Norah schaut in den Baum vor dem Fenster . Lehrer sind alle Hobby- Ornithologen und lieben Vögel ; sehen gerne aus Klassenraumfenstern , auch während der Unterrichtsstunden mit sperrigen Schülern , oder auch erst recht bei Klausurstille , hinaus in die Bäume , in denen Vögel ihre Runden fliegen und hüpfen . Elstern zum Beispiel , schön mit ihren weißen langen Federn und ihrem schwarzgrünen Kopf .

 

Sie denkt dann irgendwie doch an Noah . Immer der  Außenseiter ; konnte nie richtig Rollschuh fahren , auf der abschüssigen Siedlungsstraße Richtung Wendehammer , im Professorenviertel .

Noah würde sagen : „ Liebe hat nichts mit Frühlingsgefühlen zu tun . Liebe ist was für den Winter . Eisblumen am Fenster ; Schnee , der Schritte dämpft ; Licht , das Menschen draußen auf der Straße

zeigt , wie es sein könnte ; in der Kälte umarmt es sich besser .

Winter macht die Finger starr , bis in die Fingerspitzen , die ganz schmerzempfindlich sind , nicht taubgefroren .

Norahs Haus hinter den Schnee-Bäuschen , die Hecken und Büsche , die jetzt tief hängen unter einer Schneewächte ; lauter Wollpuffer , Knautschzonen : ja , ich leide darunter , dass sie mich nie in ihr Haus , in ihr Zimmer lässt ; bestimmt gibt es da einen gemütlichen Ofen ; aber es ist auch so gut , wie ich da hineinlinse  .“

 

 

18

Giaco hat Zeit , spielt mit der Zeit , lässt die Seele baumeln und sagt

sich : „ Mal sehen ! Ich werde C&A erst verlassen , wenn ich die dritte

herausragend aussehende Frau gesehen habe .“

Der Winter ist auch heute noch nicht vorbei , und seine Zählweise ist ihm ein gutes Mittel gegen winterliche Depression . Damen von besagter Anmutung lassen allerdings auf sich warten . Nur Sonja  kommt für die Zählung in Frage , jedenfalls normalerweise ; heute wird man nur vorsichtig formulieren , dass sie hinreißend aussehen kann .Sie kratzt  , selbst-vergessen  an der Theke stehend , einmal da wo sie der zu enge BH ziept . Das , na ja , ist ja schon mal ein Aufreger .

 

Aber ansonsten herrscht Langeweile , was die Frequentierung dieses

Cafés angeht , seitens  der Ausnahmeschönheiten und Beauty-

Queens  : Geringe Trost-Dichte , sagt sich Giacomo . Allerdings …

 

Unter diesen Umständen frischt er  die Bekanntschaft mit besagter türkischen Geschäftsfrau auf , die preiswerte Juwelen und Uhren verkauft .

„ Ich hatte da einen Traum ,“ erzählt er später . „ Schauplatz : Der Uhrmacherladen von Frau Öztunali . Der änderte langsam seinen Namen , über verschieden Farbphasen , von gold nach blau verschwimmend , von `Istanbul´ nach `…bal ´nach  `Babel´.

Ich ging rein zu ihr und sagte : Frau Öztunali , wenn Ihr Laden jetzt `Babel´ heißt : Verstehen Sie mich überhaupt ?

Sie lachte und sagte : Wieso nicht ? Wir sprechen noch die gleiche Sprache . Nur die Uhrzeit ist ab jetzt bei jedem , der hier einen Chronometer kauft , eine andere .

Noah kommt herein . Frau Öztunali gibt ihm eine Uhr und sagt : Auf dieser hier dehnen sich die Sekunden und Minuten , bis Du endlich Norah siehst . Wenn Du mit ihr zusammen bist , fliegen die Sekunden auf einmal vorbei . Wie ein Fahrrad , das Du erst langsam in Gang bringst , und wo dann die Speichen auf einmal sirren und fliegen .

Ihre Uhr , Her Neuhaus , geht ganz normal ; Sie Herr Hammelrath , kriegen eine Uhr , auf der die Zeit nicht schnell geht , nicht langsam , nicht steht , sondern : Hüpft . Zurück geht . Und wieder vor .

Und diese Uhr ist für Lila . Sie steht .

 

Ich wachte auf und …..“.

 

 

XV Aliyas Geschichte

 

1

Aliya ist mit Loersma allein an Deck geblieben .

„ Damals im Golfkrieg . Ich war tatsächlich der einzige Pilot , der ab-geschossen wurde ,“ erzählt er gerade .

„ Das war 2002.“

Aliya rechnet nach , wie alt sie damals war .

 

„ Ein Pech ohnegleichen . Keine andere Raketenbatterie hat ihre Projektile überhaupt in den Himmel bringen können , nur diese eine bei Basra . Ich sah das Ding kommen , schaltete auf Senkflug , aber es war zu spät . Nun ja , es hätte schlimmer kommen können ; ich konnte aussteigen , der Fallschirm funktionierte – aber unter mir das Meer . Und wahrscheinlich die Haie . Und erst spät ! sehr spät ! irgendwelche Rescue-Schiffe des Geschwaders .“

 

Aliya hat den Strohhalm zwischen den Lippen , ohne aus ihrer Cola  zu saugen .

„ Mit dem Fallschirm ? Ins Meer ?“

„ Ich war nicht verletzt ; es ging mir ganz gut , ich rollte sozusagen lustvoll durch die Luft , und dann planschte ich ins Wasser .

Die See war glatt , ich hatte besten Blick auf Horizont und auch das Land. Das war allerdings fünf Meilen weit weg . Wie eine Bühne vor der Aufführung . Einmal sah ich so was wie eine Haifinne , aber ich klatschte mit den Händen auf das Wasser ; das scheint die Viecher tatsächlich auf Distanz zu halten .  Uff!

Ich dachte : Wie lange soll ich noch warten , Ihr habt mich doch

gesehen , kommt endlich . Die Bühne ist bereitet , leer ; das Wasser

sanft und glatt , unbewegt ; nichts passiert hier , ich schalte von Rücken-auf Bauchlage ; das Wasser wie ein großes Wäschelaken , das man mit seinen Schwimmstößen ausbreitet und wieder zusammenfaltet . Diese Welt ist aber , auch wenn sie ganz mir gehört , leider auch ganz leer .

Dann , nach einer halben Stunde , fing mein Herz wild an zu schlagen . Ich war wohl irgendwie weggenickt . Als ich zu mir kam , war nicht der Himmel über mir , sondern so ein Segel . Eine Dhau aus Bahrain . Wind und Segel wie zwei schützende Hände über mir , ich in einer Art Waagschale . Ich wurde rausgefischt , die Dhau legt im Hafen an , am Kai : Diese Holzbrücke ist  dann wie eine Unterschrift unter meinem Rettungsdekret .“

 

Aliya fragt : „ Hatte der Fallschirm eine Nummer ?“

Loersma schaut erstaunt . „ Ja , bei den Holländern hatten alle Fallschirme eine Nummer . Ich hatte die 746 . Warum ?“

 

Aliya wird die folgende Nacht nicht schlafen . Sie hat den bösen Blick , sagt sie sich  , und erinnert sich . Das sagte ihre Tante .

„ Du siehst Männer an , die dann auf einmal bereit sind ,Unerwartetes zu tun .“

Und , sie war damals zehn , hat gesehen , wie ein Fallschirm in der Nähe von Basra im Schatt-el-Arab niedergeht .

 

2

Frühmorgens um sieben : Frauen vor dem Spiegel . Männer rücken die Krawatte . Hunde merken , dass man sie mag und freuen sich der Leine entgegen . Katzenpaschas liegen auf Mauern in der Morgensonne . Unten schwingen Müllmänner durch die Stadt , stemmen Mülleimer , springen auf den schnell anfahrenden Wagen auf , um die Ecke , abhüpfen , nächste Tonne , auf , weiter , ab , auf . Unten zwischen den Müllwagen zappeln die kleinen schnellen Flitzer aus Fernost . Sie können fast überall noch irgendwie parken ;  betrieben von Wilma Duda , der Agentur für Altenpflege .

Es ist sieben Uhr , polnische Zuwanderer und Zuwanderinnen wechseln die Windeln von Frau Schwertfeger ; messen Fieber , checken Diättabelle , ordnen Pillenschächtelchen : „ Nochmal auf die Toilette ?“ Aliya denkt an Jan , den einzigen männlichen Pfleger bei Duda ; Jan fühlt sich schlank und drahtig an ; morgens wickelt er Herrn Onken , abends hat er im Kölner Treff Tango-Training .

 

3

Es gibt nämlich dieses Jahr wieder den internationalen Tango-Parcours …….`die Welle ´, diesmal auf der `Cythera´ , in und ab Budapest . Letztes Jahr war es in Mannheim . Auch eine schöne Stadt , sagt Starbacks .

Ich erinnere mich so genau , weil ich damals Tango , diesen schroffen Tanz , für mich entdeckte ; seine Ästhetik , die sengende Atmosphäre . Und ich verstehe , wieso Giacomo immer schon ein Faible für  Tango , für Argentinien , für  spanisches Idiom hatte .

 

Was mir damals komischerweise als erstes Detail auffiel : Viele der Tänzerinnen trugen sehr hochhackige Schuhe , den Fuß nach oben kippend , wie mit schwarzen Lederstriemen an einen Marterpfahl gebunden : Diese Schuhe geben den Frauen einen Stups nach

vorn , ein Launching Pad à la  Cape Kennedy . Mit diesen Schuhen  könnte sogar ich wirbeln : Ocho , Barrida , Salida , Kreuz . Wie in den Schnörkeln einer Kalligraphie .

 

Ich erinnere mich :

Eine der Siegerinnen damals in Mannheim hatte ein eher stumpfes , erwartungsloses Gesicht ; sie stocherte auf langen Beinen , darüber reckten sich irgendwo fast athletische Schultern . Das pechschwarze Samtkleid deckte nur etwa ein Drittel ihres Körpers  . Kühn trat ein Herr in mittleren Jahren trat auf sie zu und forderte sie auf . Die Frau lachte  , wie Frösche mit miesem Charakter lachen würden , wenn sie lachen könnten . Warum eigentlich ?

 

4

Malevitch macht das melancholisch .  Er hat das Mikro in der Hand und sortiert  lustlos Zettel , auf denen er Notizen zu Songs gemacht hat .

Er entziffert also :

 

Ein Lied über Komparative

respektive

Liebe

und Triebe :

 

Nach der Schicht , allein zurück in die Kabine

dieser Raum hat keine Gardine

ich mach die falsche Lampe an

der Raum unter Schock

 

das Licht wie Größenwahn

Der Raum aufgeschreckt ,

verzerrt und fahl

Gespenster feiern Karneval .

 

Karneval , dann ist  es Februar

Februarsonne warm auf Restschnee

: alles besuchiger zuhauser

guter gelaunter o yeah !

 

 

Es ist niemand an Bord , außer unten im Maschinenraum , und

Malevitch , der auf der Bühne hantiert. Er sieht mich und schmettert

schlecht gelaunt los :

 

„Ach Sie mit ihrem Fahrschul-Fahrstil,

vorgestern im Fahrstuhl

Mann war das schwül lalala“

 

 

Einfach ein Tag zwischen den Stühlen .Und diese Szene hier kennen wir aus Billigkrimis . Der Undercover-Cop zieht seinen Mantelkragen etwas höher in Nähe der heruntergeknickten Hutkrempe und zischelt in das Mikro das einsame Wort : „Zugriff!“

Giaco hat den Film jetzt gerade eben anders inszeniert . Er sitzt gegenüber zwei Knien , einem Rocksaum , unter dem zwei schwarzbestrumpfte Frauenbeine verschwinden , man rätselt wohin . Die Beine der Dame in Kniedeckung sittsam gefaltet , aber nur manchmal , und manchmal schlenkern sie passend zur Kurvenlage des Busses auseinander , um gleich und viel zu schnell wieder zusammen –oder aufeinandergelegt zu werden , abgelegt , weggelegt , verlegt .

Verlegen ? Ungelegen ? Komme ich ungelegen , könnte Giaco natürlich auch sagen , wenn er seine Hand zunächst auf das Knie legt , dann an den Innenschenkel . Er könnte aber einfach auch sagen : „ Zugriff!“

 

Hier in Düsseldorf wimmelt es bekanntlich von Japanern und Japanerinnen . Heute kichern drei von ihnen , eine junggebliebene Mutter mit zwei Töchtern , an der Haltestelle vor der japanischen Tempelanlage und bestehen darauf , dass Giacomo  von ihnen ein Foto aufnehmen solle . Was mein Bruder tut . Bei Rückgabe des Apparats  sieht er , wie die eine Tochter ihr rechtes Bein anwinkelt , wohl um einen Stein aus dem anderen Schuh auszuschütteln , wobei ihr Rock ein deutliches Stück hochrutscht , und er sieht antarktisches Weiß ,  von  Schenkel oder einem weiteren Textil , das ohne Schuhkorrektur ungesehen geblieben wäre .

 

Der Eigner der `Cythera´  fühlt sich somit reich beschenkt . Er wendet dann aber seinen Blick ab , der auf die gebogenen Giebel des Tempels fällt . Japanische Architektur wie sie vor der Erfindung des Hochhauses war : Keck , wie nur kokett in einen Hang eingetupft , wie vorläufige , aber zutrauliche Besucher , geschwungene , dann gekreuzte

Dächer gegen Tropenregen , sanft  : Hier wird kein Wort gegen mich verwendet werden .

Später am Nachmittag schlendert Giaco über sein Oberdeck und  wechselt ein paar Worte mit Starbacks . Er bemerkt dabei , dass auf dem Nachbarschiff eine Frau auf dem Trimm-Dich-Fahrrad  sitzt . Sie ist wohl eher zufällig auf die Gerätschaft gestoßen , hat jedenfalls keine Trainingsmontur an , sondern Bluse und Plissée-Rock ( das mit dem Plissée ahnt Giacomo nur .)  Das Textil bewegt sich lässig und frech , schlappt  wie  satte Freibeuterfahne eine Handbreit über der Backe , über der Scham kaum mehr als ne Spanne . Röcke auf Rädern , auf und ab  ! Sie lässt sich Zeit und guckt in die Umgebung ( Zons in Fahrt-richtung rechts ) , wie : Luftpumpe füllt Luftballon .

 

Am Eiszeitende taut es in der Tundra überall und  riecht nach Methan;

das ist der März halt und die Vegetation : Es riecht wie ein ganz delikater feiner Essig , holzig herb  . Ach ! Reicht das nicht  schon zum Leben ?

 

5

Als Gastgeber genießt mein Bruder naturgemäß das Privileg , jederzeit – oder fast –  mit den Tänzerinnen zu flirten , als Fluss-Navigator und Man of the World. Was er tut .

„Was schätzt Du ,“ frage ich Giaco, „ wie viel Heiratsschwindler hast Du wohl mittlerweile down the river mitgenommen ?“

„Schwer zu sagen , “ meinte Giaco, „ da gibt es die berühmte Dunkel-ziffer . Sie outen sich so schleppend , weißt Du ?“

 

Wir fahren an St-Goar vorbei .

„ Heute abend wird das eher ein Ball der einsamen Herzen , den

unser kleiner Dienstleistungsbetrieb ausrichtet . Wir sollten zum zugespitzten Kennenlernen folgenden kleinen Test verpflichtend machen für unser Programm :

Er und Sie , neu kennengelernt ; Kerzen , gedämpfte Stimmen , Lounge-Music , nicht dieser dekadente Jack the Rapper , der sich als Malevitch ausgibt ; alles perfekt bis….ER IHR versehentlich ein Glas Rotwein über die Montur kippt . Jetzt bitte Striche machen bei den drei folgenden Möglichkeiten (  ja , ER hat  vielleicht sogar diese Katastrophe absicht-lich herbeigeführt , um SIE besser kennen zu lernen ) .

Also  ……..

 

a ) Sie gerät außer sich , rennt an Deck und springt in den Fluss .

 

b )  Sie gerät außer sich , rennt nicht sofort an Deck , sondern verhaut ihn erst noch gründlich mit ihrem Handtäschchen .

 

  1. c) Diese Wahl ist natürlich am besten und führt sofort ( statistisch erwiesen ) zu sofortigen Heiratsanträgen :

Sie ist nur kurz erschrocken , erhebt sich dann und sagt ganz freundlich : Vielen Dank für diese Gelegenheit , Dir auch andere Garderobe vorführen zu können .“

 

 

6

In Bamberg gibt es dann die neue `Vanity Fair ´- Arkade zu betrachten. Malevitch und Giacomo sitzen im dortigen Café Bossa Nova  und haben  Zeit bis zum Ablegen totzuschlagen .

„ Trotz aller möglichen Attentate in den letzten Wochen gibt es hier keine Personenkontrollen . Es kann hier gleich auch losgehen : Maschinen-pistole , Bombe …….“

Mein Bruder scheint zu überlegen , ob er sich mit einer weiteren Bestellung beeilen sollte .

„ Und dann wird es monoton heißen : Er riss 64 Unschuldige mit sich in den Tod . Noch einen Cappucino , danke . Guck Dir die Leute um Dich rum an . Unschuldige ! Sieht man ihnen gar nicht an , ihre Unschuld , oder ? Diesem Xaver und dem Innozenz da drüben “ .

 

Malevitch denkt weiter : Ja , so wäre ein Tanz auf dem Vulkan , der letzte Walzer auf der Titanic ; lauter Perforation um einen rum , reißfreundlich , Sollbruchstellen und Verletzbarkeiten . Und der Attentäter von

 

`halt! jetzt- noch- nicht´

 

denkt vielleicht gerade : Es hätte alles so schön sein können , wenn …

 

„ Jeder ,“ sagt er zu Aliya , „ den wir gerade in Vanity Fair gesehen haben , denkt klammheimlich , wie es sein wird , wenn man ab jetzt  sein Leben  lang erzählen kann : Denk Dir , wir waren gerade am Ausgang angekommen , als hinter uns die Explosion losschlägt , und die Druckwelle …etc . Sowas kann man nicht kaufen . Aber wünschen .

Vielleicht  ist da eine Marktlücke ?“

 

7

Sevetny-Five (sic ) , sagt die Tschechin , als  der Steward nach ihrer Kabinennummer fragt . Oder so ähnlich . Herr Märtens lächelt . Er ist schon zum zweiten Mal an Bord der `Cythera´ . Diesmal wirbt er um die Gunst einer Italienerin ( Martha !) , und er wirbt erfolgreich .

Sie ziehen sich nach dem Dinner und einem ausgedehnten , seinerseits vielleicht zu? auffallend ? ausgedehnten Digestif auf dem Achterdeck in die Kabine 17 b zurück , die jetzt auf die Westseite der Donau herausblickt .

Alle bayrischen Postkartenmotive an den Ufern , die üblichen Verdächtigen als da sind : Zwiebeltürme , Hügelweiden , Weinberge – sind ab 21 Uhr üppig angeleuchtet ; Highlights , für die der Fluss bei Japanern und Menschen aus Wisconsin so berühmt ist . Wobei letztere Gattung im Regelfall nicht an Bord der `Cythera´ fährt . Alles ist hier und heute bestens bereitet für eine Verführungs-Episode . Martha hat im Handgepäck immer ein paar erotische Schriften dabei , falls ihr Kunde einmal zusätzlich  Anregungs-und Inspirationshilfe benötigt .

Heute……… springt Herr Märtens unversehens aus dem Bett , als litte er unter Krämpfen oder sei auf Heftzwecken gelandet.

 

Eins der Mädchen im Hochglanzheft der Escortdame zeigt Märtens Tochter bei sehr explizitem ( soll man ihr versuchsweise  zugute halten : neugierigem ? oder doch schon hoffnungslos verloren routiniertem ? ) Liebesspiel mit einem 08/15 Body Builder/ Bay Watch/Latin Lover .

Sie hat die Knie weit auseinander gefaltet und erinnert an innige elterliche Gesten : `Wer kommt in meine Arme ? ´ .

Aber 08/15 sind  bei Betreten dieses Magazins sowieso alle . Oder . Sagt jedenfalls Herr Märtens , als er wieder kohärenter Aussagen fähig ist :

„ Diese Pornographie ! Ohne…… Alles  !“

Und Martha denkt , Kunststudentin die sie ist : „ Wo er recht hat ….

Völlig ohne…. Zufallsgenerator ! Ohne Literatur ! Ohne bohrende Fragen an den Partner ! Ohne Nervosität ! Ohne Morgen , ohne Reue , ohne Eifersucht , ohne Versprechen , ohne Bestechen , ohne Erinnerung, nicht Melancholie noch Hoffnung , noch Ausbruch in ein `AB JETZT ! ´ , ohne störenden Anruf der Mutter , ohne `wo hab ich die verdammten Kondome ´.“

„ Aber dafür gibt es ja mich ,“ fällt ihr ein und sagt sie .

 

8

Anne erzählt von dem Anschlag in ihrem Hotel in Vancouver . Sie ist wieder gefasst , aber beim Erzählen , jetzt , einen Tag später , doch noch in aller Erregung .

„ Panik . Brach unten im Hotel aus . Panik vor der Verriegelung zur Feuertreppe vom Balkon aus . Feuer ! Panik : Wie viel von mir hier durch muss , durch das Schlüsselloch Türverriegelung ; dort sieht man die Bäume draussen und das Nachbarhaus , hinter mir mehr heranhetzende Leute , Feuer ! Hilfe ! Es muss so viel durch dieses enge Schlüsselloch

hindurch , mein ganzes Leben , meine Geschichte , meine Lieben , Du , ich , unser Gleich , unsere Zukunft , unser ganz normales Klar-doch-Leben ; mein Lieblingsfußballverein , meine Abneigung gegen Lateinlehrer , meine Liebe zu roten Autos , Shakespeare , Mozart ,alles muss mit , nun beeilt Euch doch. “

Ich sitze auf der Parkbank , als ich Annes Anruf bekomme . Während sie stoßweise erzählt , sehe ich die Leute hier . Verliebte kommen mir entgegen : Ihr Blick ist und bleibt erlöst , erleichtert , gelöst , ihr Schulterschluss zupackend .

 

9

An Bord gibt es abends grundsätzlich immer Variété . Gestern zum Beispiel wurde der fast unbekannte Film von Monty Python gezeigt

` Breakfast Bombers ´ . Sie erinnern sich : Im zweiten Weltkrieg über Deutschland abgeschossene Piloten des Fieldmarschall Harris

( Bildeinblendung : Hamburg 1943 kriegszerstört ) kommen nach Kapitulation 1945 nach England zurück ; schlecht ernährt , misshandelt in KZs ( Bildeinblendung : Pilot mit Lehrbuch `How to speak German ´ in der Hand ) .

Zuhause in Coventry und Liverpool wird für sie ein Frühstücks-wettbewerb veranstaltet : Welche Mum macht das beste englische Frühstück ( Bildeinblendung : Zutaten , fressende glückliche Airforce Piloten , strahlende patriotische  Hausfrauen ) . Nationale Aus-scheidungswettkämpfe Liverpool versus Birkenhead etc . Very funny indeed .

 

Dann gibt es eine Gehörolympiade  . Die Gäste werden aufgefordert , akustische Impulse richtig einzuordnen : Ist dies eine knarrende Tür oder ein Furz ? Was hier in der Küche vom Tisch auf die Fliesen fällt : Ein Messer ? Ein Löffel ? Eine Gabel ?

Weiter zu erratende Geräusche : Sektkorkenknallen ( sehr einfach !) ;  eine Umdrehung im Bett , ein Reißverschluss , ein Vogel ( ! ) ; Hund schüttelt Regen ab ; elektrische Zahnbürste ; Flaschenleergut .

Zum Schluss  die Nagelprobe für die Ganz- Geräusch-Sensiblen : Ein Fenster wird ( fast lautlos ) in die Nacht geöffnet ; der Unterschied vorher

( unbelebtes Zimmer ) versus nachher ( die Nacht : atmet ! ) .

 

Sieger ist nicht Aliya , wie vielleicht erwartet , sondern Giacomo .

Hmmh! .

 

11

„ Ich erkläre ,“ sagt Giacomo , „ hier , nunmehr und unter Zeugen : Ich beneide Schuhverkäufer in den teureren Geschäften .  Nein , ich bin kein Fußfetischist . Aber die Beine , die man da sieht ; ( ja , in der Damenabteilung!) das Abknicken , das Spiel von links und rechts , die Gewichtsverlagerung von rechts nach links und zurück ; ein in- die- Knie – gehen . Das Spiel , als wollten die Beine voneinander los ; dabei hängen sie zusammen : Sie wissen schon wo . Und das Gesäß. Kommt dem Boden näher , als rutsche es auf Parkett oder einer starren  Matratze herum .“

 

Soweit  Giacos Ausführungen über einem Capuccino gegenüber

Aliya . Frech .

Ich wiederum erzähle ihr von der  gegebenen Caféhaussituation , Stand 14. März , 11 Uhr 37 . Brunchzeit eben . Brunchzeit ist Brunstzeit .

Die Damen und Herren des Personals sind allesamt voll ausgelastet . Ich vergesse nicht , dass die eine Kellnerin Sommersprossen um die Nase hat , dabei aber verschnupft aussieht . Ihre langen wilden Haare sind nach hinten gezähmt ; sie trägt ein nachtdunkles Muscle-T-shirt ohne Arm . Irgendwie sieht sie aus wie noch vor Verlassen des Badezimmers . Erstaunt nach oben geklappte lange schwarze Wimpern . Jung , aber auf eine Art erschöpft , dass man sich zu ihren Füßen eine Kleinkinderschar vorstellen könnte .

Eine andere dunkelhaarige Kellnerin , wohl Türkin , lutscht an einem leuchtend finsteren Lippenstift , wobei ihr Mund  entsprechend an Schwarzkirsche erinnert . Die Stühle stehen eng ; sie operiert ihre Hüften darum herum , das hebt den Busen .

Der Mann , den sie jetzt zu glücklichem Lächeln bringt , trägt eine zu eng gebundene Krawatte , sein Kopf läuft entsprechend rot an . Die Dame , die da nach langwierigem Anlegen ihres Mantels ( wie bei der

Anprobe ) das Café verlässt , trägt einen kurzen , aber locker flatternden Rock ; ihr Rocksaum ist so magnetisch Blicke anziehend und scharf machend , dass ich an Kubismus und montierte Körperhälften denke .

Eine Andere  in dieser Gruppe trägt ein weißes T-shirt mit dem farbigen  Aufdruck : Good looking Shit . Wer kommt nur auf diese Ideen ? Eine schwangere Frau ( wahrscheinlich ist sie auf einer Art Abschieds-und Entschädigungsbesuch hier , demnächst wird sie weniger Zeit haben ) sieht irgendwie entzündet aus .

 

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„ Und Giacomo ?“ fragt Aliya .

„ Er ist ein moderner Eunuch . Er liebt Frauen , sammelt sie , kommt ihnen aber nie näher . Oder selten .  Er sagte übrigens mal über Tango : Tango ist besser als Sex : Er verspricht und hält sein Versprechen , Versprechen nicht zu halten .“

 

„ Übrigens : Werden Sie eigentlich nicht zuhause erwartet ?“ fragt Aliya . Sie weiss , dass meine Frau aus Kanada zurückgekehrt ist . Ich erkläre ihr , dass Anne sich heute wohl vom Friseur nicht nach Hause traut , weil sie fürchtet , ich hätte etwas gekocht . Haha . Entsprechend sei ich völlig ungebunden . Ich frage Aliya , ob sie von Giacomos Projekten für die nächste Zeit gehört hat . Immerhin hatte er eine ganze Band ange-

heuert , während Malevitch in Venedig war , namens ( Sie kommen nie drauf ! ) `The Mammographs ´. Oder war das die alte Band , die `Molested Testicles ´?

Und er veranstaltet ( eigens für Aliya ! , aber das sage ich ihr nicht ) einen Literaturabend : Renommierte Schreiber aus der Kölner Szene wetteifern um Publikumsgunst zum Thema ` Zwischen Knistern und Plätschern ´.

 

14

„Um Dich bei Laune zu halten ,“ erzähle ich Anne  :

„ Ich hatte einen Traum . Ich möbliere eine leere Wohnung ,  setze wunderschöne Schränke mal hierhin , mal dahin , wo sie am besten stehen und das Sonnenlicht  wirken lassen . Dann merke ich  , dass ich gar nichts habe , um es in die Schränke einzuordnen . Ich werde sehr traurig , lege mich schließlich selbst in eine der großen Schrank-schubladen .“

Giacomo behauptet gegenüber seiner Schwägerin , das sei harmlos , müsse was mit meiner Affinität zu Schiffen zu tun haben .

 

 

15

„ Ist Malevitch schön ?“ fragt Aliya Giacomo .

„ Ich glaube , eher nicht , oder ?“ setzt sie hinzu .

„ Er ist groß , mager , hat eine Raubvogelnase ; aber …“ .

Giaco sagt weiter :

„ Er ist individuell , versucht es halt SO : `ich bin nicht zu ersetzen ´.“

Malevitchs Talent als Musiker mache alles nur Denkbare wett , und dass er nicht wie 0815 aussehe könne seinem künstlerischen Erfolg  nur nutzen .

 

In Düsseldorf . Aliya besteht auf dem vollen Programm und will in eine Kunstausstellung , um sich dort von Malevitch erklären lassen , was zu sehen ist . Es geht um den Modefotografen Horst . Die Schönen der 1930er Jahre werden ausgestellt , sagt Malevitch , dem diese Ausstellung , genauer gesagt der Massenandrang daselbst , gehörig auf den Wecker geht .

Die einen Schönen werden ausgestellt . Die anderen haben sich verabredet , gleich selbst zu kommen ; plus derjenigen , die nicht schön sind , aber den Models zu gern auf die Schliche kommen wollen .

Was haben DIE , was ich nicht habe ?

Düsseldorf , Stadt der Schönen . Der Mode . Gepflegt , Ästhetik für alle . Nicht Sex , sondern kultiviertes Lechzen und besinnliches Schmachten . Wie Gottesdienst , dieses fromme vor den Wänden Sich- auf- den- Füßen- stehen .

Und die Blinden ? Sind die natürlichen Verbündeten der Dichter ,

Sänger , Musiker , sagt Malevitch . Sag was zu den schönen Frauen auf diesen Bildern , sagt Aliya.  Wofür bezahle ich Dich .

„ Hier sehen Sie Art Déco  Models , Schwarzweißfotografien , Dominofiguren , schwarzweiß wie Frage und Antwort ; weißen Gesichts , weißer Kragen , weißer Besatz , finsterer Hintergrund, schwarze Strümpfe . Frage und Antwort fusionieren in einem kleinen viereckigen Rahmen .“

 

Und die Leute hier !  Wirklich , das Museum platzt aus allen Nähten .

Um der Masse zu entkommen , um Übersichtlichkeit herzustellen , schlägt mein Blick Schneisen . Kult . Diese Veranstaltung hier , in Düsseldorf der Stadt von Design und Fashion , Mode und Makellos , ist einfach Kult .

 

Aliya ist schön , fällt Malevitch nicht zum ersten Mal auf . Unter den Zweiäugigen ist der Blinde König , oder wie geht der Spruch ?

Sei nicht so gemein !

 

Massenveranstaltungen , wie ich sie hasse ! Höllensturz und Telefonbuch . Likes .Gott muss ganz schön eitel sein , warum schafft er sich alle diese Ebenbilder ?

Der liebe Gott , sagt Aliya , behauptet , dass alle Menschen gut sind für eine Überraschung . Klingt nach Knorr .

Am nächsten Morgen denkt Malevitch : Was fehlt mir ? Man liest im hiesigen Käseblatt : 3000 Besucher allein am Sonntag , die Veranstaltungsmacher können mit sich zufrieden sein . Was fehlt mir ?

Mir allein ? Wie viele unter den dreitausend , die heute auch nachdenklich vor dem Spiegel stehen und sagen : Gestern hätten wir es nicht sagen können , was wir heute auch nicht wissen ; aber gestern hätte man es noch  finden können : Hier , ich habs ; zeig her !

Etwas , das uns alle verband . Ja , in hundert Jahren werden Historiker sagen können : Der und der waren am gleichen Tag am gleichen Ort . Sie haben das Gleiche gesehen , sind auf die gleichen Leute aufmerksam geworden , z.B. die Garderobiere mit der Warze .

 

 

XVI  Bescherung

 

1

„ Es ist einfach eine Sache  der Bescheidenheit ,“ meint Giaco, „ ich

weiß , dass ich keiner dieser Schönheiten genügen kann ;“

( ? alle denken : `he is fishing for compliments ´ )

„ entsprechend will ich keine belästigen , ich meine: dauerhaft  .

Wer wäre ich , dass ich länger bleiben wollte , ich bin es nicht wert , Deinen Namen zu kennen ; also entlaste ich Euch dadurch  , dass ich in die Breite gehe , statistisch gesehen .“

Wir sitzen im C&A , wieder in Köln  , wo es eine neue , uns unbekannte Kellnerin hat . Sie macht sich nichts daraus , dass sie sich noch nicht in der Speisekarte , in den Preisen etc zurechtfindet . Typisch  eben halt Nebenjob-Gastronomie . Ihre Haare : Lang wallend , fast wie ein Frisiermantel , welchen frau  vor dem Schminktisch trägt .  Sie hat Sommersprossen , trägt ein schwarzes T-shirt  und ernstes Drein-schaun .

 

Wir essen  , sprechen über Starbacks , dann über Pfarrer Knorr . Dann über das Wetter .

Der Dezember ist viel zu warm , es wird nichts mit weißer Weihnacht .

Das meteorologische Moll ist nicht angenehm . Wenn wir Februar und März hätten , würden wir sagen : „ Angenehm , dieser Vorfrühling ;“

es würde kalt  und klar , aber Wärme versprechend knistern , wir wären wie in angenehmem Alarmzustand : Gleich geht’s los , wir werden es

erleben , wieder ein Winter , der uns nicht untergekriegt hat .

Aber dieser laue , kratzige Temperaturirrtum da draußen hat nur etwas von Styropor , von Kulisse . Soll man dankbar sein dafür , dass der Winter einen nur verpennt hat ?

Donnerstag der 24. Dezember . Bisher habe ich es geschafft , möglichst gar nicht Notiz zu nehmen vom Weihnachtsrummel . Jahrzehntelange Erfahrung im Bewältigen von Zivilisations wechselnd mit

Larmoyanz : Dieses Jahr scheint es sich endlich auszuzahlen : Meinerseits in Egal-Haltung .

Es ist frühmorgens , allerdings haben die Geschäfte bereits geöffnet . Noch fegt der Friseur seine Türkenbude aus ; der Zufall will , dass dieses Jahr 48 Stunden Weihnachtstaumel und der daran anschließende Sonntag  eine ausgedehnte Ausnahmesituation über die Stadt bringt  :

„ Diesmal aber wirklich : Nachdenken , Innigkeit , Ins-Reine-Kommen “ ,

oder , wahlweise :

Ehekrach , Ärger mit den auffliegenden Geheimnissen der Kinderschar, Schwangerschaft der 14-jährigen Tochter , Delinquenz des Zwillingsbruders , der geplatzte Kredit , das kaputte Auto , die doofe Bemerkung des Mitarbeiters , der dumpfe Schmerz über der Rippe . Etc .

 

Aber NOCH geht die Stadt spielerisch um mit ihrer Perspektive , der Aussicht  auf  dreitägiges Einfrieren aller positiven Möglichkeit von Zufallstreff, Geselligkeit der unverkrampften Art , Großstadtflair auf dem Boulevard . NOCH stapelt ein anderer Türke Tomatenkisten , NOCH agiert die Müllabfuhr , unverändert steuert der Bus den Halt an ; weiterhin ist es zu warm für die Jahreszeit . Wie gehabt wird Waldi ausgeführt , wie auch sonst fliegt ein ratloser Vogel seine Runde über den Schornsteinen . Nicht das erste , nicht das letzte Mal gibt es Post auszutragen . Schon wird die Parkplatzsituation wie auch sonst kritisch , noch streifen die Damen vom Ordnungsamt , schon hat Oma Müller die letzten Einkäufe geregelt .

NOCH weiß man nicht , was aus dem Geschenkpapier gewickelt werden wird , ACH könnte doch alles so schön glänzend eingepackt bleiben , gut ausgeleuchtet , noch durch die Höflichkeitskonventionen meckerfrei gehalten , NOCH  ist die Stadt nicht geliert , unter Bernstein erstarrt , der sich allerdings irgendwie nach Plastik  anfühlt .

 

Man schreibt wie gesagt Donnerstag , den 24.12. Unterstellen wir , es gibt keinen Terroranschlag auf den Dom , keinen Flugzeugabsturz , keinen Chemiewaffenangriff in Los Angeles , keinen Autounfall mit Mama . NOCH können die Papageien , Sittiche und Kanarienvögel in der

Volière , die Karpfen im Stadtweiher unmöglich wissen , dass sie in den nächsten drei Tagen verstärkt angeschaut werden , soziale und kommunikative Bedürfnisse der menschlichen Fauna erfüllen müssen :

„ Guck mal der Gecko ! Und der kann sprechen ! Sag mal : Dirk ist

doof !“

NOCH weiß Hammelrath nicht , dass er ab heute abend Middle-European-Bescherungs-Time ein Hundebesitzer sein wird ,

weil Giacomo Neuhaus meint , er sei so einsam .

„Nein! Ein Retriever !“

„Wuffwuff“.

 

3

Und vielleicht geht es ja noch anderen Menschen so wie mir , dass auch undoder erst recht Neujahr noch Schock-Fernwirkung verursacht : Alte Freunde , die einem nur noch Unangenehmes oder Abgelegtes zu sagen haben ; zuviel Alkohol , Zigarettenqualm in der Bettwäsche des Gästezimmers . Natürlich viel zu viel an exquisiter Küche , in der einige Zeitgenossen das höchste allen Menschenheits-Könnens sehen . Ich werde bei Gelegenheit einmal ein Restaurant aufmachen mit dem Namen `Es wird gegessen was auf den Tisch kommt ´.

 

Geplatzte Hoffnungen auf Wiedersehen mit den netten Menschen , die es ja auch gab oder gegeben hat , keine Lucky Strikes mit neugierigen und ergebnisoffenen Erstbegegnern – kurz : Asche auf mein Haupt .

Neujahrsmorgen : Die kürzestmögliche Katerbeschreibung , wenn man so will . Mitleidige Menschen hatten mich zur Silversterfete eingeladen , da ja Anne in Kanada festgestreikt ist . Kein Flug zu haben , alle Airlines bedauern .

Diese mitleidigen Menschen waren gestern nacht  leider  auch

langweilig , einfältig ; dabei missionarisch für alle denkbaren hier nicht im Detail weiter auszuführenden Verschwörungstheorien ( das muss wohl an jahreszeittypischer Bilanzierungswut liegen ) .

„ XY ist an allem schuld ; zum Beispiel auch an XYZ ! Alles wäre besser wenn nicht  etc .“

Kurzdefinition einer schlechten Ehe ? Nun …….

Eine sagt :

„ Alles wartet jederzeit auf den Knall . Man ist umstellt von nichts als Fallen . Und man ist doch wieder , wie in den schlimmsten kindlichen Prägephasen  : Allein  .“

 

Um 8 , also quälend lange vor den erlösenden 12 Uhr Böllern , hätte ich mich um ein Haar dem Abstinenzlertum verschrieben , ( obwohl , so die Meinung der Gastgeber , die schlimmsten Menschheitsbedroher  auch Alkoholgegner waren  ) ,- mich also dem Abstinenzlertum verschrieben , weil ich mir dachte : Wenn ich jetzt weiter saufe , kann ich irgendwann nicht mehr fahren und komme hier nicht mehr raus . Und muss dem Nosferatu  auf Wiedersehen sagen .

Aber ich testete diese Grenze meiner Persönlichkeit und versuchte , möglichst lange nichts zu trinken . Es half  alles nichts . Irgendwann war ich zu besoffen , um  noch zu fahren , um mich noch über Verschwörungstheorien zu streiten ( „ ja wisst Ihr eigentlich nicht ,

was der CIA in  Liechtenstein tut ?“ ) und die Dame des Hauses hatte auch schon das Gästezimmer parat . Was für ein unvergesslicher

Abend !

„Kontakt-und Beziehungsabbruch ? Immer eine saubere Sache“ , sagte Starbacks dazu, wie ich mich erinnere .

 

4

Eine junge Frau kommt mit  Dreijährigem um die Ecke . Sie wirkt wie vom Schicksal überrascht in ihrer Rolle : So hat man mir das nicht gesagt !  Das Kind : Wachsam ! Das ist langfristig gut so ; denn Dir wird man die Schuld an diesem Sonntagnachmittag zuschieben .

Der Abend steht bereit zur Übernahme , mehr als eine halbe Stunde wird den Himmelsfarben nicht bleiben . Über Kopfweiden und Kanälen sinkt ein Vorhang ; das Land scheint mit einiger Geduld zu sagen : Ich weiß es besser .

Und es sagt auch :  Gleich müsst Ihr alle nach Hause , Kinder .

Und dieses `gleich ´,  da an den Farben abzulesen , ist ein emphatischer Beweis dafür , dass es ein Zuhause gibt , genug Zuhause für alle . Ich freue mich , Bruder , dass Du auch ein Zuhause hast , so wie der Ackergaul da vorne und die Kinder an der Reitschule und die Spaziergänger , die ihre Katerdünste  von Silvester weglüften wollen .

Wo Kuh war , soll Pferd werden , sagt Starbacks der sauer auf Neureiche und Höfesterben ist .

Der Blick vom Ortseingang zurück weitet sich noch einmal bis zu den Baumreihen am Horizont . Komm , wir tun einfach so , als ob da nie ein Helikopter aufsteigen könnte , der die Welt jenseits der Baumreihen auch schon kennt oder findet auf seinem Navi-Screen . Der Helicopter , der die Heimatlosigkeit so schnell überall hin transportieren kann, über alle Hecken und Hausreihen hinweg .

Im Schweigen der Stadt alle leicht neben der Spur , keiner hier ; wie mag es X gehen , was macht Y gerade ?

Und alle , die nicht hier sind , nicht von mir geschützt oder von unserer Geselligkeit : Alle die sind alle besonders verwundbar .

 

„ Wir sind alle schuldig,“ sage ich. „ Wir nutzen alle irgendwelche Abkürzungen .“

 

5

Und dann liegt heute doch noch Schnee , endlich , nach einem bisher mutschigen farb- und geruchlosen Winter ! Endlich Schnee , und hat gar nicht extra gekostet !

So wie einen manchmal Schicksalsschläge , die einfach größer sind ,

einpacken , ob man will oder nicht ( Anschlag Flugzeugabsturz Tsunamie David Bowies Tod ) und alle anderen Themen einfach beiseite wischen .

Schnee ist das Gleiche in positiv : Alle Zeitgenossen haben so etwas Schnee im Blick , im Gefühl , in den Bewegungen , alles etwas weichgezeichnet : Wir sind alle zur Güte befähigt , alle Menschen werden Buddies . Unschuld , Weichheit …..absehbar demnächst geschmolzen in das Hochwasser in Köln ; die Altstadt läuft voll , aber das ist es wert .

 

An diesem frühen Samstagmorgen liegt weicher matter Samt über der ungestörten Stadt . Lila ist dem Mann im Park hinter ihr dankbar , genauer gesagt seinem rumschnüffelnden Hund , dass man ihr einen unangetasteten Vorsprung von hundert Metern gab , die ihr Ruhe und  etwas wie Mentholstimmung garantieren . Auf den Ästen  Moos wie grüner Schnee . An den Eichen da vorne ist an der Westseite ein Silberschimmer , ähnlich wie  Schneefall eine Baumseite immer etwas zu beschriften scheint  und die anderen Seiten schwarz lässt .

Lila befindet sich auf dem Weg zur Kirche . Frühmorgens . Die ganze Stadt steht noch unter dem Schock des Aufgewachtseins . Wer? Wo ? Wieso ? Ich ?

Eine entgegenkommende junge Schwarze hat schon den Watschelgang älterer Afrikanerinnen . Mit dem einen Auge ist sie klar und sieht , wohin sie muss. Das andere ist noch nicht wach , so wenig wie ihre Hüften und ihre Beine  . Ihr Watscheln ist Geduld mit dem Körper ;  `mein Auge

will schneller als mein Körper ´.

Lila wuchtet ihr waches Timing um die Ecke , über die Schnellstraße   , wo sie es schafft , den mehr werdenden Autos aus dem Weg zu gehen . Klappt schon .

Und sie ist wieder bei Knorr . Surat erzählte : Kurz vor seinem Zusammenbruch habe er gesagt : „Der Finger Gottes ….rührt an eine Seifenblase .“

Dochdoch , das sei ganz deutlich gewesen .

 

6

Lila hat für heute einen besonderen Plan .

Mir ist es vergönnt , sie vor sich selbst zu schützen . Ich sah sie morgens aus dem Autofenster  , wie sie sich mit einem Bettler an der Emmeran-Kirche unterhielt . Tatsächlich ? Sie setzt sich sogar zu ihm ?

Als ich mittags zu Fuß an dieser Kirchenecke vorbeikomme , regnet es , durchaus stärker ; und Lila sitzt immer noch da .Sie hat einen Friesen-nerz an und sitzt wohl auf einem Plastikkorb . Ich wechsle die Straßen-seite und spreche sie an .

„ Was machst Du hier ? Bist Du verrückt ? Du holst Dir den Tod !“

Ich bin wütend und benutze Worte , die ich umgehend bereue .

„ Du kannst Dich ja auch zu uns setzen . Der Herr ist Herr….

Jeschonnek , “ …

„Bodo“ , sagt der .

„ Er hat seit heute morgen vier Euro sechzehn eingenommen . Nein , ich bin nicht seine Anlageberaterin ,“ sagt Lila .

„ Wir haben eine Winwin-Situation . Er hat wen zum Sprechen , ich kriege mit , wie die Leute auf ihn reagieren . Und auf mich . Die meisten Passanten finden mich natürlich interessanter , weil sie ahnen , dass ich keine Bettlerin bin . Aber von hier unten sieht man Menschen einmal anders . Unterbricht sie , sozusagen . Ich bin der Unterbrecherkontakt . Ohne mich würden sie an Bodo vorbeigehen .“

Ich bin immer noch wütend und sage : „ Komm jetzt mit ( nein , ich sage nicht : Schluss jetzt mit der Show ) ; wir trinken einen Kaffee bei mir .“

Aber sie reckt sich in die Höhe , gibt Herrn Jeschonnek die Hand und kommt mit .

„ Ich hatte diesen merkwürdigen Traum ,“ sagt sie dann. „ Ich überquere per Fußgängerbrücke den Fluss . Mir kommt eine Mutter mit einem kleinen Kind an der Hand entgegen . Je näher wir uns kommen , desto süßer wird das Kind : Ein Mädchen mit Zöpfen und gewürfeltem Kleid , es springt und ist fröhlich . Ich reiße das Kind an mich , wälze mich auf das Geländer und springe in den Fluss.“

 

7

Aimées Vater ist durchaus redselig . Er sagt dann später ( `plopp´ zieht er den Glasspund zwischen nachdenklich gepressten Lippen heraus ) :

„ Egal wann die Welt endet : Einige Leute sind gerade jung – und werden nicht mehr alt  ; `hope I die before I get old ´. Heutige Oldies  waren mal so : Jung , nicht als infantile Droll-Truppe , sondern als arrogante Schnösel , in aller Unschuld ungewaschen und frech . Bereit , nicht an Zukunft ( `Zuuuukunft?´ Originalton )  zu glauben , sondern nur an

`jetzt ´ , mit vielleicht noch ein paar Tagen danach , um den Kater abflauen zu lassen. Arroganz ! Das Gegenteil von senil und lächerlich . Durchblick , voll der Durchblick , kein Zweifel ! Ernüchterung und in Verantwortung für einen guten Abgang .  `Wer wenn nicht WIR ?´ DASS wir dann doch weitergelebt haben…..“

Pause .

Aimée ist noch nicht von der Arbeit zurückgekommen , Noah hat Norah mitgebracht . Man sitzt bei mir im Büro und Norah schaut sich um .

„ Wir sind  gezwungenermaßen älter geworden , mit vorgehaltener Waffe sozusagen  .Oder als Großzügigkeit gegenüber neuen jungen Wilden : Die sollen auch was haben , worüber sie sich lustig machen können .“

 

Ich sammle die  leeren Flaschen ein und bringe sie in die Küche ; es schellt . Aimée steht in der Tür .

Sie kommt nicht von der Arbeit , sondern von einem Entrümpelungstermin in der Wohnung ihres Vaters .

„ Wie das da aussah!“ stöhnt sie .

„ Das bisschen Müll,“ sagt er . „ Und Du magst es nicht glauben , mit ein bisschen Kram von gestern fühlt man sich erstmal weniger einsam !“

„ Und Du ,“ faucht sie Noah an . „ Hats Du nichts für die Schule zu tun ?“

„ Die Welt ,“ sage ich ihr begütigend, „ ist ein Melodram der Jugend ; die Alten warten zäh darauf , dass sich das Melodrama doch noch als Komödie zu erkennen gibt . Ist glaube ich von Churchill . Oder von mir .“

Aimée rollt mit den Augen und findet mich –ja bitte danke – unerträglich eitel . Alles wie es sein muss .

Ihr Vater : „ Jawohl ! Wir Alten haben ein Recht auf Lächerlichkeit .“

Und setzt hinzu : „ Und die Jugend hat ein Recht darauf , alles ernst zu nehmen .“

 

8

Weihnachten trafen sich die Mitglieder der Klicke , zu denen Noah erst

seit einigen Monaten gehören durfte . Noah erinnert sich und nistet sich in dieser Erinnerung ein .Wie ein Flüchtling , der ein einziges Mitbringsel in ein neues Leben hinüberrettet .

Nach der Geschenkebescherung , so gegen 9 , auf der Strasse . Noah war wieder schneller : Ehe Norah auf die Strasse treten konnte , hatte er schon bei ihr geschellt . Und  als sie öffnete , reichte er ihr ein best-möglich eingepacktes T-Shirt  .

„ Für mich ?“ fragt sie und ist strenggenommen dabei freundlicher als sonst , guckt lieb und tritt überrascht einen Schritt zurück .

Sie kramt das  Papier beiseite , entdeckt das T- Shirt und liest den aufgedruckten Spruch :

 

`Wer wenn nicht ICH ? ´

 

„ Ich habe aber gar kein Geschenk für Dich ,“ sagt sie .

„ Weißt Du , was ich am meisten möchte ?“

„ Sag !“

Wer weiß , womit sie rechnet .

„ Ich hätte sehr gerne ein Bild von Dir.“

„ Ein Bild !“

„ Ein Bild.“

„Gemalt ?“

„ Nein , fotografiert .So altmodisch , auf Papier .“

 

Dieses Bild bekommt er am nächsten Tag . Sie meint , so besonders sei es nicht , sie sähe da gar nicht  vorteilhaft drauf aus . Noah lehnt das Bild an seinen Wecker auf dem Nachtisch , in dem Zimmer , das er jetzt , seither endlich ein sehr kleines bisschen mit ihr teilt .

 

Dann war er eingeschlafen über `Pilgrims Progress´. Als er aufwachte ,

war die Kerze heruntergebrannt , und aus den leeren Gläsern und der  stehengebliebenen Wodkaflasche kam unangenehmer Mief . Er riss das Fenster auf ; frische Luft macht vieles gut , und er erinnerte sich .

Ja , sie liebt mich , denkt er ; das heißt auch , dass sie mir Schwächen zeigt , sie ist nicht mehr unnahbar ; sie vertraut sich mir an , traut mir so im Allgemeinen eine Art Lösungskompetenz zu . Dabei ist SIE so schön und stark !

Er wirft sich wieder in den Sessel . Sie ist meine strahlende Wunde . Ich bin so glücklich . Gestern war das noch nicht so vorstellbar . Was genau hat sie eigentlich gesagt ? Und was bedeutet es ?

 

9

Diesmal kommt Lila vom Rechtsanwalt . Sie hat Einblick in Knorrs Testament erhalten , zusammen mit Knorrs jüngerer Schwester . Knorrs Bruder ist im Kosovo stationiert und konnte nicht dabei sein – oder wollte vielleicht nicht .

„ Dass Marita auch noch ihr Baby dabei hatte .“

Lila trägt schwarz und ihre Gesichtszüge erinnern mich an die Wachsfiguren  bei Madame Tussauds .

„ So ein richtig dickes gesundes Baby . So muss es sein ! Wie bei Knorrs Schiffstaufen . (Pause )  Gesund und krabbelig , umsorgt von der lieben Mammi , geschützt von allen Statistiken der Welt . Wird wahrscheinlich 97 Jahre alt . Und schließlich von seiner Mutter umgebracht , die dann 124 ist.“

Lachen kann da nicht falsch sein , denke ich mir , schließlich lächelt sogar Lila unter ihrem Taschentuch über dem geschmolzenen Wachs von Tränen und  Make-Up .

„ Tja , und jetzt ?“ fragt sie dann . Sie fragt nicht mich , sondern die Welt insgesamt . Gut , dass sie nicht mich fragt .

„ Du hattest etwas gesagt von Engagement im Krankenhaus ..“ versuche ich .

„ Ja. Habe ich .“ Sie verstaut ihr Taschentuch . „ Und weißt Du , was ?

in welcher Funktion ? HaHa . Drei Versuche. “

„ Irgendwas Seelsorgerisches ,“ vermute ich unbedarft .

Sie schnieft abschließend und sieht auf die Schnalle ihres Schuhs .

„ Ich mache die Ausbildung zum Klinik-Clown . Lach nicht !“

faucht sie mich auf Vorrat an .

„ Schauspielerei für Leute im Koma , na ja , das käme zu spät ; oder in ziemlich humorloser Situation . Lachen als Medizin . Hätte ich gekonnt , mir zugetraut . Aber jetzt – weiß ich nicht . Nicht jetzt .“

Nicht jetzt . Aber später bestimmt ! Passt doch !

 

Mein Bruder wird mir ewig Dank wissen , dass ich in dieser Situation den Geistesblitz habe . Ich schlage ihr vor , im März zur inneren Aufrichtung  zwei Wochen mit auf die Donau zu kommen .

 

10

Er sieht Norah in Begleitung von Jens . Sie hat Noah noch nicht an der Ecke registriert . Und er weiß nicht , ob sie ihn ansehen wird oder begrüßen oder in die andere Richtung  schauen . Der Dolch , der durch ihn hindurch geht ! Egal , ob Jens wissend grinst ( oder nicht ) .

Etwas ist damit so schmerzhaft vorbei , oder eben gerade nicht vorbei ;  mindestens eine Chance ist vorbei , ein Geschenk ist zerstört .

Und Noah ist allein , wie jemand , der vom Hochhaus oder von einer Felsenkante springt , nein fällt ; nein , gerissen wird ; allein , aber angesehen von allen , schlimmer als allein also , wenn alle Dich beim Alleinsein sehen . Allein : heißt : An Deinen Füßen hängt noch ein zusätzliches Gewicht , Du fällst noch verlorener , schneller , alleiner .

Die anderen , das ist wie die umgebende Kliffkante oder Felsenküste ; allein , aber von allen gesehen; bedauert , ermahnt : `Ist doch Dein Fehler , dass Du jetzt allein bist ´ .

Aber Norah und Jens sind nicht allein , bei ihnen ist es warm , und sie gehen heute Abend zusammen in die Disco oder ins Kino.Oder bei

Jens , der mit seinen Eltern in einem großen Haus , irgendwie nebenan unbeobachtet und wohlstandsverwahrlost wohnt , ins Bett .

 

 

11

Gestern erzählte Giaco Noah die Episode aus dem Roman vom braven Soldat Schweijk : Zwei Soldaten aus gegnerischen Heeren stoßen in der Nachhut auf dem Schlachtfeld aufeinander ; beide sind verängstigt und möchten nichts lieber tun als sich gefangen geben .

Der Ängstlichere von beiden zeigt ein Foto : Hier meine Kinder , hier meine Frau ; bitte nicht schießen !!!

Schweijk , der treuherzig Verschlafene , hat auch ein Photo dabei :

Eine erotische  Postkarte . Der schlitzohrige Gegner sagt : Komm ,

wir verbrüdern uns und tauschen die Bilder .

 

 

Es will in diesem Februar jetzt einfach nicht mehr schneien , auch nicht frieren  , was bedeutet : Nirgends werden die Niederschläge fest-gehalten. Hochwasser  überall .

In Würzburg ist der Main zwischen hohe Ufermauern gedrängt .

Malevitch schildert Aliya , wie der Fluss dadurch etwas von einem Kanal bekommt , schiere gradlinige Zweckverbindung von A nach B.

„ Zu einem Fluss gehört für mich – Du kennst ja nicht so viele natürliche Flussläufe , deshalb will ich das ausmalen – dass das Wasser sich seinen Weg selber sucht ; mal nach links mal nach rechts schweift , wie ein Hund , der ohne Leine unterwegs ist .“

Aliya lacht .

„ Ja , der Fluss geht Gassi , na ja , ohne Leine sozusagen“.

 

Malevitch erklärt , was sie jetzt auf der rechten Mainseite vor sich

haben .

„ Hier ist der Yachthafen ; Boot an Boot ; einige sind etwas verwahrlost , schon länger nicht mehr benutzt . Andere auch am Wochenende  bewohnt ; manchmal leben Philemon und Baucis (= das vermögende Rentnerehepaar ) auch ein paar Wochen an einem Stück hier . Oder man macht Kurztripps zu den Kliffs , der Main ist dabei ein ruhiger gemütlicher Fluss.“

Aliya holt den Kaffee für beide . Sie traut sich mittlerweile auch allein die Niedergänge runter , dann mit den Kaffeebechern wieder die steile Treppe hoch , nur ganz wenig geschlabbert : Hochachtung !

Malevitch erklärt weiter .

„ Immer noch Yachthafen , Boot an Boot . Der Main ist an sich kein Wackler ; hier hinter der Mole ist nur noch ganz wenig Schauckeln , wie man sieht . Wie ich sehe . Die Bootsrümpfe spiegeln im Wasser , jeder Schiffskörper liegt so auf , dass ein bisschen Wasser verdrängt wird , Wasser trägt Boot , scheint aber keine Arbeit damit zu haben ; wie ein Spiegel bildet es das Boot ab , beides zusammen ergibt eine Form ,

wie  Ying und Yang ,  wo ich anfange hörst Du auf und umgekehrt . Harmonie zweier perfekt passender Scherben-Bruchstücke.“

„ Scherben ,“ sagt Aliya nachdenklich , „ eigentlich dazu ein unschönes Wort , bedeutet ja  Zerstörung .“

Dann spricht sie weiter :

„ Du kennst das  ; im Bett , morgens mit einem Liebhaber , aneinander geschmiegt , wo Du aufhörst fängt der andere an ; wie Du sagst , Dhau an Dhau im Hafen . Du bist vielleicht schon wach , regst Dich aber nicht , merkst dann , dass der Mann wach wird …“

 

Dann erzählt sie , als ob sie sich lange darauf vorbereitet hätte :

„ Mit Yermin  , in Zimmer 32 , in einem westlichen Hotel in Sadre City . Da trafen wir uns immer . Immer …….heißt hier : Drei mal . Aber wir dachten , es geht weiter ….

 

Die Leute an der Rezeption waren diskret ; wir verbrachten erst ein Wochenende da , unser erstes Zusammensein überhaupt ,  dann konnten wir uns  noch mal am Mittwoch sehen , dann an jenem letzten Wochenende .746 war unser Telefoncode .“

 

Sie scheint zu überlegen , ob sie die Geschichte noch ganz in Erinnerung hat .

„ Zigarette ?“ fragt Malevitch . Aliya schüttelt den Kopf .

„ Ich war schon ganz wach und merkte wie Yermin sich erst langsam regte . Sein Körper wurde straffer , ich hatte die Augen zu , merkte aber wie er seine öffnete . Kennst Du das ? Auch wenn man es nicht sieht oder hinguckt , man merkt ob der Andere die Augen aufmacht ? Gib mir doch was zu rauchen .“

Sie weiß nicht , wie Malevitch das Feuerzeug hält  und sucht mit der Spitze der Zigarette in der Luft .

„ Ich gucke aus dem Fenster und sehe zwei Männer , die auf den Eingang zusteuern . Unten spielen Kinder Fußball ; der Ball landet im Abseits , geht weit an einem Mitspieler vorbei , und einer der beiden Männer  schießt den Ball zurück zu den Kindern . Netter Kerl .

Ich gehe wieder ins Bett . Und dann :

Ein Knall unten im Hotel ! Krach über uns : Ein Hubschrauber ist auf dem Flachdach gelandet ! Schreie ; dann Gerenne auf dem Gang

vor unserer Tür  . Jemand schlägt mit der Faust an die Tür , dann wird sie aufgetreten . Yermin und ich sind hochgefahren , Yermin mehr zur Türseite als ich , und er hat die  Pistole von seinem Nachttisch in der Hand .

Er wird zuerst getroffen .Ich springe rechts raus aus dem Bett . Es sind zwei Killer , und zwar die beiden Männer von eben . Einer bleibt an der Tür , der andere geht um das Bett herum und will neu auf mich anlegen ; ich sehe etwas in seinem Auge , sie sind jetzt beide in Schals verhüllt und vermummt , aber dieser hat etwas Bekanntes in seinen Augen , er greift mir ins Haar und schmettert meinen Kopf an die Wand . Dann gehen sie .“

 

Aliya neigt ihren Kopf , zieht das Kopftuch etwas beiseite und fragt :

„ Sieht man die Narben noch hier über der Schläfe?  Dumme Frage , ich  fühle sie ja noch .“

Malevitch lügt , nein , man sehe kaum was .

„ Und was passierte dann ?“

„ Ich kam zu Bewusstsein ; bin in einem großen Auto , das schnell aus der Stadt raus fährt ; am Steuer der Chauffeur von Yermins Familie  . Neben ihm aber ein Mann von unserem Security- Personal .Unsere Familie hat das . Ja, normalerweise . Diesmal war nichts von ihnen zu bemerken . Jetzt  fahren wir auf unser Anwesen ; ich werde dort ärztlich versorgt , kann aber das Zimmer nicht verlassen .Yermins Leiche habe ich nicht  mehr gesehen .Ich weiß nur , dass er verbrannt wurde .

Am dritten Tag gab es ein Familien- und Ehrengericht .

Vorsitzender ist der Schütze aus dem Hotelzimmer , Yermins Cousin Mamadouh.“

Aliya schüttelt den Kopf .

„ Mamadouh ist in seiner Familie immer der kleinste gewesen .

Niemand nahm ihn ernst . Er gab sich dann später Mühe , Anerkennung zu erringen : Seine Hochzeit wurde die teuerste , hat man mir erzählt ;

Stretched Limos im ganzen Viertel , Hupenorkan , Splitter von Sektgläsern überall . Ich habe Bilder in der Zeitung gesehen .

Und eines Tages verlässt ihn seine Frau in London , bei einem Einkaufstripp ; da wo man die Handys mit Diamantenbesatz kauft . Sie ist nicht mehr aufzutreiben ! Wahrscheinlich hat sie sich mit einem Westler eingelassen .Und Mamadouh ist mal wieder der kleine ,  die Memme , derjenige , dem man so was straflos antun kann .

Und da kann er sich mir gegenüber aufspielen als Retter der Tugend und der Familienehre . Er knirschte vor Genugtuung, man konnte es richtig hören .“

Sie lacht bitter , sozusagen an der Geschichte vorbei .

„ Seine Familie behauptete , ich hätte den bösen Blick auf Yermin gerichtet , so dass er mir verfallen ist . Mein Vater schämte sich für

mich , beziehungsweise mein voreheliches Abenteuer mit Yermin .

Yermins Familie hat die Fäden in der Hand . Das Urteil ist Blendung .

Mein Vater entschied danach , dass ich nicht im Lande bleiben sollte und schickte mich in die Schweiz .“

„ Mamadouh hat mich engagiert ?“ fragt Malevitch ungläubig .

„ Und :  Böser Blick ?“

Aliya wiederholt Malevitchs Frage .

„Es gibt verschiedene Arten von ( arabisch ?) . Manchmal ist es auch einfach ein besonderer Blick ; ein Blick , von dem Leute sich ertappt fühlen . Ein Blick , der einen zum Nachdenken zwingt .

Als ich in Teheran war , hatte ich auf einmal einen solchen besonderen Blick . Ich war erst 16 , als ich mit meinen Verwandten durch die Basarstraßen ging . Und auf einmal war es so , als wäre ich diejenige , die alles weiß : Ich weiß , wie es hier in 2o Minuten , in einer Stunde , eine Woche später aussehen wird .“

 

„ Klingt so nach dem Blick von alten Leuten , für die es nichts Neues mehr gibt ,“  sagt  Malevitch , „ die sich nicht mehr überraschen lassen .“

„ Ja , aber , wie mir meine Tante dann sagte : Mein Blick bekam auf einmal etwas  Düster-Trauriges , als wüsste ich : Dies ist Euer letzter Tag , ob Ihr es wisst oder nicht : Ihr seid gerade dabei , Euch von allem zu verabschieden . Die Stadt im Verabschiedungsmodus .

Und Euer Abschied fällt jeweils völlig verschieden aus : Manche Leute streiten sich,  Kinder spielen , manche sagen gerade `Guten

Morgen ´ und verabschieden sich damit schon . Für immer , meine ich .“

 

Aliya fährt fort , nachdem Malevitch eigentlich nicht mehr mit einer weiteren Episode gerechnet hat :

„ Und meine Tante hat gemerkt , dass ich diesen traurigen Blick  öfters

bekam , und hatte Angst davor , und die Kinder spotteten über die triste Aliya. Und dann wurde gesagt : Das ist ein böser Blick , das kann nichts

Gutes bedeuten .“

 

„ Und was wolltest Du an Rheinkilometer 746 ins Wasser werfen ?“

„ Eine Flaschenpost . In der Flasche ein Zettel mit 746 Ver-

wünschungen , an Mamadouh gerichtet , und wenn mein böser Blick wirklich etwas bewirkt , dann vielleicht hier , an dieser Stelle . Und falls das nicht innerhalb der nächsten Wochen wirkt , dann , wenn wir an Donaukilometer 23 sind , nächstes Frühjahr , werfe ich  eine andere

Flasche ins Wasser , mit Verwünschungen gegen seine Nachkommen ;

Mamadouh steht an 23. Stelle in der Thronfolge .“

 

 

13

Meanwhile in /Inzwischen /Zwischenzeitlich in….(…) : Meine Erzählung hat sich zeitgeistfromm des  Multi-Taskings anbeflissen ; während wir dies hier lesen , wirft Noah etwas von der Autobahnbrücke , liegt die `Cythera´ im Hafen  , denkt H. an Aimée oder Geli . Der Erzähler wie auch jederzeit fast jeder der Charaktere sieht sich als ein Gegenüber der Ballmaschine , die  Torwart oder Tennisspieler Bälle  zumutet , die  kompetent zu  bewältigen sind  , reaktionsverpflichtet . Die Maschine kann vom Zufallsgott verstellt werden ; ein paar Bälle mehr pro Minute – und man streckt die Waffen .

Habe heute kein Mitteilungsbedürfnis gegenüber meinem Tagebuch .

Tagebuch , sage ich despektierlich , der Trick , die Unsterblichkeit des kleinen Mannes  : Mach einfach mehr aus Deiner Zeit ! Schreibs

auf , suche nach Worten .

 

Am Fluss sitzen , meint Malevitch chronisch , sei auch nicht schlecht . Gleichbleibend , diese Wasser , fast immer eher langsam , aber unbeirrbar . Nein , die Welle und die Flaschenpost kommen nicht

wieder , und es gibt auch keine Alternative .

 

Noah hat lange an der Haltestelle gewartet . Und wartet noch bis zur letzten Sekunde , als der Bus die Türe schließt . Er steigt dann ohne Norah ein . Die nicht gekommen ist . Und er lässt den Kopf hängen .

An der nächsten Haltestelle füllt sich der Bus so richtig . Lauter Studenten , die sich einer nach dem anderen auf die Bänke flezen und

I-Phones  aus der Tasche und in Betrieb  nehmen , Kabel entwirren und sich die Knöpfe ins Ohr stecken . Setzen , strecken , in die Tasche greifen , entwickeln . Setzen , strecken , stöpseln , auswickeln . Ein älterer Mann greift auch in die Tasche und nimmt auch etwas in die Hand : Ein Hustenbonbon , das er auswickelt .

 

Norah sitzt derweil womöglich schon in der U-Bahn und plant ihre Karriere . Eigentlich ist sie schon mittendrin . Dabei – das ist ein sympathischer Zug , meint der  Erzähler – denkt sie an den zweiten vor dem ersten Schritt . Wie gut , dass diese Leute hier sie in Ruhe lassen . Ihre dunkle Brille und das zur Tarnung hochgezogene Schaltuch wären gar nicht nötig gewesen , so´n Quatsch .

Nur der Mann im nächsten Abteil guckt jetzt schon zum zweiten Mal über sie hinweg , geht im Blick weiter und kommt noch einmal zu ihrem Gesicht zurück : Ich komme ihm bekannt vor , das ist ja auch gut so . Noch besser im Augenblick allerdings die Leute , denen ich nicht bekannt vorkomme : Die Mutter , die ihre beiden Kinder erzieht ; die Teenies , die über was ganz Entferntes giggeln ; der Türkenjunge mit Blick fest auf dem Display .

 

14

Ich kann nachts nicht schlafen und denke an die Frauen , die in meinem Leben wichtig waren . Was zuerst auch nur ein Schäfchenzählen  ist , klappt nicht so richtig , weil ich doch wieder an Aimée denke .

Auf einmal stehen in meinem Dann-doch-wohl-schon-Halbschlaf andere Frauen auf : Iris empört , Rita , Angelika , Gabi , allesamt misslaunig , und sagen :

„ Aber Du warst auch mit UNS glücklich , solange Du wolltest , oder solange wir wollten ; wärest Du mit Aimée zusammengeblieben , wären wir nicht Realität geworden , sondern nur Traum – wie auch jetzt.“

Ich wache auf und fühle nach , ob ich mich besser fühle .

 

Vor dem Fenster :  Frühmorgens jungbleibende Frauen im T-Shirt , athletisch anzuschaun , leeren den Putzeimer vor dem Games-Center .  Warum sind DIE nicht in der samtenen Welt von `Cythera´-Tours gelandet ?

Ein Wintermorgen , zwanzig nach sieben : Die Stadt in überraschender Vollbeschäftigung  , mit vielfach beantworteter Sinnfrage . Die Strassen gehören den Heinzelmännchen nicht allein , nicht nur den Schulkindern ; auch anderswo wimmelt  urbaner Dschungel los . Erstaunliches Leben .

Ein stadtbekannter Stadtstreicher , also irgendwie Lokalpatriot , schiebt seinen Einkaufswagen mit Bettzeug und gesammelten und selbständig geleerten Flaschen aus einer Toröffnung . Türkische Gemüsehändler sortieren Feigen , Pflaumen , Weißkohl in die Auslagen . Lieferwagen blinken geparkt , Autos mit kaum ausreichend freigekratzten Front-scheiben biegen um Ecken . Fußgänger suchen ihren Vorteil an eigentlich roten , sicher  empörten Fußgängerampeln .

Und , siehe da , eine wahrlich aufregende Erscheinung : Die unnahbare Disco-Queen von gestern abend  ist , dick vermummt , unterwegs zu ihrer Arbeit als Bäckereifachverkäuferin .

Vielfach handykonsultierende Schnellgeher , Kofferschieber , Gassi-Geher , Buserwarter und wegen der Kälte und mehr aus Prinzip Auf-undabschlenderer . Über allem der Märzvollmond an einem Freitagmorgen , na ja bald haben wirs geschafft .Mehrkornbrötchen von gestern ? Im Angebot .

 

15

An einem dieser auf diese Morgen folgenden Februarabende also , nachmittags gegen halb fünf , insofern nicht Abend ; gerade eben, sagen wir um 4, ist es noch leidlich hell gewesen , die Menschen waren irgendwie geistesgegenwärtig . Jetzt , nur eine halbe Stunde später will ich egalwen matt an den Händen fassen . Man kann dem Tag fast dabei zusehen , wie er einpackt , Schluss macht , den Platz räumt  für etwas Endgültigeres und Stärkeres . Wir wohnen einer Niederlage bei , wohl einer eigenen ,  und können sagen , wir sind dabei gewesen .

Und was jetzt . Da , da , ein letzter Silberstreif in den Wolken , im Westen . Die Autos haben alle schon die Lichter an , als hätten sie es nicht erwarten können , die Menschen tragen dunkle Mäntel  , alles strebt nach Hause , schutzbedürftig .

Und da liegt die Weihnachtskarte von Lila und ihrem Mann vom letzten Jahr auf dem Beifahrersitz . Geschrieben von Lila , Pfarrer Knorr hat nur mitsigniert ; und sie ( Giaco rollte mit den Augen ) hat sich Mühe gegeben , bravo, die Kartenseite voll zu kriegen . Man könnte mit dem Maßband an die Sache herangehen und feststellen , ja , viel Platz am Rand und unten  war nicht geblieben : keine Lücke lassen !

Giacomo sagt : „Werf die Karte nicht in den Papierkorb .“

 

 

16

Kilometer 742 . Die `Cythera´ lässt wieder ihre Maschinen an und nimmt Fahrt auf . Eine kleine Delegation wartet und schaut nach stromauf

links . „ Backbord!“ insistiert Starbacks . Der Wind hat aufgefrischt , und es ist gut , dass er von Westen kommt , also die Asche klar weg vom Schiff über die Wellen verteilen wird . Loersma ist jetzt auch wieder da ; er hat unter Deck seinen Thermopren-Anzug abgelegt und geduscht ; anscheinend muss man das nach einem Streckenabschnitt Schwimm-

kunst im Rhein .

Loersma sieht uns an der Steuerbordreling und tritt auf uns zu ; drängelt mich sanft beiseite und nimmt Aliyas Hand . Sie dreht sich nicht um ,

weiss aber über die Berührung , wer hinter ihr steht . Starbacks räuspert sich :

„ Kilometer 746.“

Aliya dreht an dem Schraubverschluss der Urne ; Loersma und ich

passen auf , dass sie nichts von dem Aschenstaub verschüttet . Sie holt Luft , sagt leise zwei Wortfolgen in Arabisch , holt Schwung  und schubst die Asche in den Wind , über Bord , in den Fluss .

 

„ Bei der Hochzeit war ich wie ein Geschenk verpackt ,“ sagt Lila in das Schweigen hinein .

„  Motto : `mehr scheinen als sein  ´ , sieben Häute etc . Ich trug ein

Kleid , wie es auf dem Dorf für Schönheitsköniginnen für angemessen gehalten wurde . Ach ja , und ich war sehr religiös ; hatte schon bei Wallfahrten mitgemacht und sang konzentriert im Kirchenchor .“

Sagt Lila Giacomo später .

 

17

Aller schlechten Dinge sind drei , sagt der flappsige Erzähler , als Frau Doktor mir ihre Version der Geschichte dann erzählt .

„ Jetzt reichts aber langsam,“ fluchte sie angeblich , als sie immer noch nicht aussteigen konnte . Dabei hatte sie es so eilig ! Fristgerecht die Unterlagen für das Kaufgesuch einwerfen …

Erst dieser Pizzabote , der um die Ecke fegt ! und den man erst in der letzten Minute sieht . Schreck lass nach . Und sie hat dann wenigstens schon den Fuß draussen , als ein Fahrradfahrer ( ist das nicht dieser Jens , der bei Ratzy arbeitet ?) vorbeiwischt . Was haben die es alle so eilig ? Zum Briefkasten will der jedenfalls nicht . Frau Doktor denkt gerade noch an Jens und Herrn und Frau Ratzy , hat schon Fuß und Bein und Schulter und …..Kopf aus dem Wagen gewuchtet ….

Noah erzählt , er habe ganz schön treten müssen , um mit dem Skateboard hinter Jens herzukommen ; um nicht gesehen zu werden , sei er recht nahe an den geparkten Wagen vorbei gefahren .Dann gab es da eine Lücke und er sah einen Nosferatu , aber in ROT ! Also nicht meinen , Hammelraths . Der wird sich ärgern , dass es jetzt noch so einen Schlitten gibt , dachte Noah . Und habe übersehen , dass sich da eine Wagentür öffnete . Nein , er habe sie nicht berührt , die Fahrerin . Sie muss sich auf engem Raum aus der Tür heraus räkeln ; sie ist in

einen Nerz oder so ähnlich eingehüllt , was ihre Bewegungsfreiheit weiter einengt .Nur vor Schreck gerufen habe er , und viellllllleicht sie noch ein Wenig gestreift , eher ihre Haare . Und geschrien habe die auf einmal , frag nicht wie ! aber ihm sei alles egal gewesen , ausser Jens nicht aus den Augen zu verlieren , und ihm irgendwo in aller Ruhe ohne Zeugen eine reinzuhauen ; wegen der Szene auf dem Karussell .

 

 

Nein , wieso , es war kein Einbruch gewesen ! Die Schlösser sind nicht beschädigt , der Stadtstreicher wiederholt es auch immer : Der Wagen habe einfach offengestanden , nein , so nicht ; die Tür hatte sich selbst geöffnet , die Knöpfe waren nicht runtergedrückt ; draussen tobte ein Wintersturm , einer der kalten Art , und im Auto war es natürlich trocken , leise  und wärmer .

Besoffen genug zum Einschlafen auf der Rückbank war er auch . Fast wie Kino , erinnerte er sich noch , draussen fetzten die Zeitungsreste vorbei , ab und zu ein anderes Auto , fast keine Fußgänger oder

nur panische Renner  . Irgendwann eine arme Sau von Pizzabote auf Mofa . Kino . Hier drinnen , unter dem Autodach war es auszuhalten .

 

Und das Ohr ? Das habe er draussen liegen gesehen , und er habe an seinen hungrigen Hasso gedacht ; es war so blutig , genau hat er das gar nicht gesehen ; er dachte an ein Schweineohr oder sonst an einen Metzgerabfall . Hasso hat schon seit vorgestern kein Schappi mehr gekriegt ! Na ja , da hat er das Ohr eingepackt ; im Bücken gesehen , dass die Tür von diesem Superschlitten nur angelehnt war , und da wollte er einmal auch am Steuer sitzen , und da sei er halt ein-geschlafen .

Wieder aufgewacht und dann doch auf die Rückbank übergesiedelt . Das war so gut ! Nein , an das Ohr habe er erst wieder gedacht , nachdem er wieder ausgestiegen war . Er hatte sich wohl einfach darauf gesetzt , darauf fallen gelassen . Gestern abend . Daher das Blut an seinen Kleidern .

„ Und jetzt – jetzt brauchen Sie eigentlich nur noch jemanden , der Ihnen die Geschichte glaubt ,“ sagt Polizeiobermeister Wehrlich .

Der vernehmende Beamte wird dann nach draussen gerufen ; ein

Zeuge , der die Besitzerin zu einem Krankenhaus gefahren habe , sei aufgetaucht . Wehrlich ist verschlafen und denkt etwas verwildert : Wie diese mittelalterliche heilige Lanze , die aus den Nägeln vom Kreuz geschmiedet worden ist : Wir Autofahrer sollten alle fürchten  ,  an Heilands Statt aufgespießt  oder für unsere Sünden ans Kreuz genagelt zu werden .

 

Der Zeuge hat vergessen  , das Ohr mitzunehmen . Man kann ja nicht an alles denken . Ich habe heute noch Albträume , sagt Werlich , oder

sehe ,  wenn ich beim Metzger bin , wie die Schneidemaschine millimetergenau eine Tranche Wurst heruntersäbelt .

 

18

Die Alternative ist : Entweder : Tür zu im Museum , oder : Tür auf , hinaus ins Leben . Aber , da wir in einer arbeitsteiligen Gesellschaft leben : Einige Leute , nennen wir sie Archäologen und Historiker , werden dafür bezahlt , dass sie den Job machen , für den sich die Anderen zu gut sind .

 

„ A propos drei Wünsche frei ,“ sage ich , auf das gesellige Meinungs-spiel an der gestrigen Dinnertafel zurückkommend .

„ Ich wünsche mir , dass der Moment meines Ablebens in einen Augenblick fällt , in dem ich mich gerade NICHT mit Anne streite .“ Giacomo guckt fragend.

„ Und umgekehrt natürlich : Wenn man intuitiv merkt , dass man keine Zeit mehr hat , nichts mehr gutmachen kann . Ich wünsche mir,  dass auch Anne so einen guten Moment mit mir erwischt . Die gibt es ja ; ich habe sie viel öfter mit Anne gehabt als mit anderen ( auch mit Dir , Du Armleuchter ).“

Giacomo guckt nicht fragend , weil er das versteht .

 

“ Aber , et cyth wie et cyth.“ So Starbacks . Etwa auf die Frage , wie lange er eigentlich noch Schiffsführer sein möchte .

Anne kommt im Morgenmantel zum Frühstück ; leidet noch unter dem Jetlag , ist aber sicher nicht nur deswegen unleidlich . Alle Fenster , die ich als  Desinfektion und Morgenandacht geöffnet hatte , werden von ihr minutiös wieder geschlossen : „ Es ist so kalt hier , und ich bin sowieso erkältet !!“

Und ( re-entry ) kehrt  abgestandene Wärme in die Küche zurück , exit all mein morgendlicher Enthusiasmus , all meine Orientierungsenergie rund um das Frühstücksei . Dann wacht das Baby im Boot gegenüber auf  und tränkt die Nachbarschaft mit Gebrüll . Gut , dass das Fenster zu ist . Und die Frau in der Kabine unten brutzelt über dem Telefon .

 

19

Am Kai  steht immer noch der gleiche Polizist  . Ich kann keine Polizisten mehr sehen ohne verstärktes Herzklopfen . Man hat vergessen , ihn abzulösen ; die Stadt ist nach dem Bombenalarm und der Suchaktion

auf Noahs Spuren gelähmt , na ja ich übertreibe ; nichts klappt  .  Ich übertreibe nicht .

Als ich ihm einen Kaffee an Land bringe , darf er den nicht annehmen . Man sieht ihm außer seiner Müdigkeit auch an , dass er eigentlich mit der Welt in Frieden leben will . Er ist halt schon älter .

Sein equipment , also das Funkgerät , die Maschinenpistole , Hand-schellen : Das alles macht irgendwie IHN zum  Anhängsel , zum funktionierenden Bediener dieser Ausrüstung . Tasche , ein Namenskärtchen ; Bodycam . Er ist bärtig , trägt Brille , noch mehr Ausrüstung also . Man sieht , darauf würde er sich verlassen – eher als auf mich , seinen Gesprächspartner mit dem Kaffeebecher in der Hand . `Lasst mich hier raus , ´scheint er zu sagen – zu seinen Spielzeugen , die man ihm umgehängt hat ; das , worauf er sich in dieser Welt verlassen kann ; wie Ötzi sich auf Dinge verließ bei seiner Alpen-überquerung .

 

20

Mein Bruder  hat gerade keinen Kapitän , genauer gesagt bis morgen Mittag .  Und das kommt so .

 

Starbacks ist notorischer Frühaufsteher . Er machte sich also auch

Dienstag letzter Woche um halb sechs auf den Weg zur Funkstelle vom Wasser- und Schifffahrtsamt ; krempelte den Kragen hoch und öffnete den Schirm ; es hatte nachts ausgiebig geregnet und nieselte auch weiterhin . Die Stadt war noch ruhig , und Starbacks genießt , wenn an Land , die frühmorgendliche Ruhe und das Nicht-Gedrängelt-Werden . Er steht auf freundlichem Fuß mit  den Pfützen , findet sie regelrecht schön in ihrer silbrigen Helle ; wie schön Ihr die Welt spiegelt , alles zum Vorzeigen retuschiert , hier ein Beleg für alle sozusagen . Gleich , wenn der Verkehr zunimmt , werden die Regenlachen zermatscht , zerquetscht , aufgewühlt , Menschen werden nassgespritzt , fluchen , kriegen nasse Füße , holen sich den Tod , alles wird miesepetrig und hektisch , keiner genießt mehr dieses freundliche Zuwinken von Tümpel und Gossen .

 

Vor dem Amt liegt ein Penner in einer anderen Art von Pfütze . Als Starbacks ihn umdreht , damit er nicht in seinem Erbrochenen erstickt ,

regt der sich und brabbelt irgendwas , aber kann und will nicht aufstehen. Er hat etwas Blut an den Klamotten .  Starbacks will etwas tun , ruft per Handy einen Notarztwagen an , der auch bald kommt . Und wie ! Die Sirene ist schon zehn Häuserblocks weiter zu orten , als ob sich eine Geräuschsäge durch die Stadt fräst ; sie kommt näher und näher . Starbacks sieht den Wagen gerade erst,  muss sich aber schon die Ohren zuhalten ; wer hält diesen Lärmterror aus ? Höchstens discogestählte Hornhautgehöre von , sagen wir , Zivildienstleistenden .

 

Der Wagen hält bei Starbacks , der Fahrer kommt nicht auf die Idee , die Sirene jetzt abzuschalten ; fragt ganz freundlich ( so versteht der Käptn den Gesichtsausdruck ) was denn los sei , wer ER denn sei  etc . Starbacks hört nichts , leidet leidet leidet Höllenqualen , zerrt den Sanitäter am Kragen zur Fahrertür und will dem Jüngling bedeuten , er möge doch die Sirene abschalten . Der wiederum sagt ( so interpretiert Starbacks ihn ) er verstehe leider nichts, der Käptn solle ihn aber los lassen ( JA ! loslassen !!)  Und Starback gibt ihm wohl eine Art Kinnhaken , was die Sache auch nicht besser macht , weil der Fahrer jetzt andere Sorgen hat als den Alarm auszuschalten ; und Starbacks tritt in seiner Verzweiflung noch einmal zu , in das Hinterteil des Sanitäters .

 

Mittlerweile ist auch ein Polizeiwagen da – wahrscheinlich auch mit Sirene , ist aber nicht zu hören , nicht für Starbacks  ; der wird in den Polizeiwagen gefaltet ; endlich werden die Alarmtröten abgestellt , der Penner verarztet , der Sanitäter sagt : „ Das tat echt weh ! Das lasse ich mir nicht gefallen !“

 

Und der Polizist fragt  ( alle reden immer noch sehr laut , obwohl die Sirenen abgestellt sind ) : „ Wollen Sie eine Anzeige gegen Herrn…äh, Starbacks erheben ?“

Und der Sanitäter sagt : „ Klar , warum nicht “  und alles dieses führt dazu , dass der Schiffsführer der `Cythera´ heute , als Giaco viel Zeit hat für ein Jobinterview , einen halben Tag Sozialdienst leistet  .Wir wissen gegenwärtig noch nicht , ob er Unkraut zupft oder Schülerlotse an einer Hauptverkehrsstraße  sein darf . Oder erste Hilfe in einem Literatur-Workshop leisten muss .

 

21

Giacomo Neuhaus hat seine Wohnung schon vor einiger Zeit verkauft . Dort war er sowieso kaum anzutreffen . Ich erinnere mich gerade mal an zwei Feten incl. Ausschweifungen und ruinierten Teppichen , aber wohnen tat er in letzter Zeit entweder auf der `Cythera´ oder in Hotels .

Daraufhin befragt ( „ Sie leben doch einfach zu unstet und ruhelos ! Auf Dauer ist das doch nichts . Wollen Sie keine Kinder ? Denken Sie nie an

später ?“ ) , sagt er einmal  :

 

„ Dass ich keine Wohnung im eigentlichen Sinne habe , befreit mich vom Zwang , mich als Angekommener zu betrachten ; so tun zu müssen , als ob dies nun der ernstgemeinte Kern meiner Existenz sei : `jetzt aber !´ .

Eigentlich dann auch : Der Maßstab : Aha, wie weit gekommen , in welcher Richtung ; wie solide in Erwartung des Weiteren , das man hier abwettern kann .

Im Hotel brauche ich nicht über die schwachen Stellen meiner Biographie hinwegsprechen ( Motto : `hoffentlich merken die nichts !´).

Ein Schiff , eine Dependance , eine Faktorei : es muss ein bisschen unter meinen Füßen schwingen .“

Lila schüttelt , wie Giaco weiß , unsichtbar hinter den sieben Bergen , bei den sieben Zwergen , den Kopf .

 

22

Sonntag Morgen . Gut , dass es wenigstens regnet ; die Stadtautobahn zieht sich von den Rheinhöhen in erfrischend reinen und unbelebten Schleifen herab zum Fluss . So müssen Traumwelten von Skate-boardern aussehen : Gerade mal dann und wann ein Auto , die Luft ist wie noch nie von wem geatmet . Eigentlich kann man  darauf warten , dass einen ein Roman oder ein Film zum Mitmachen an prominenter Stelle einlädt : „Du gehörst nicht nur irgendwo hin , sondern hier/ her/ genau zu uns .“

 

Beobachte wer Zeit hat .Was ist zuerst da : Die zu viele Zeit  oder die

Objekte ( Dinge und Menschen ) , die Zeit kosten – aber auch produzieren ?

Zumindest schafft sich Beobachtung Zeit für das , was man sieht . Beobachtung produziert Ausschnitte und Kästchen von Wirklichkeit :

Da drüben/dort/hier . Alles in jeweils anderer Zeit . Der Blick schneidet und multipliziert im Schweifen und Festmachen .

Das funktioniert nur bei Interesse  und Entspannung ( oder sollte man sagen : Der Konzentration auf das Wesentliche ? ) .

Beobachtung ist wie ich mir Segelflug vorstelle , sagt die Uhrmachers-frau . Oder das Kreisen eines Aasgeiers ? fragt Giacomo . Beobachten und Schauen bei eigenem Ungestörtsein : Auch ich in meinem

Kästchen , in meinem vorläufigen Sarg . In meiner vorläufigen Nährlösung , sagt Starbacks .

 

23

Woher kenne ich diese Melodie ? Tadada Tadada Tadad-dada ?

Kaum aufgewacht , versuche ich mich an dieser Aufgabe . Falls ich nicht auf eine schnelle Antwort stoße , wird mich das den ganzen Tag   beschäftigen . Bzw. unterbewusst : Man hat die Frage an die haus(=gehirn)-interne Rechercheabteilung delegiert , die wird sich irgendwann unerwartet melden .

Aber schneller als erwartet stoße ich auf das gesuchte Stück , einen  Hintergrundbläsersatz bei Amy Whinehouse .

Das erste mal am Tag etwas erinnert : Der erste Sieg ? oder so , könnte man so sehen . Über das Vergessen . Was für ein Kram-Tag .

 

Anne ist schon aufgestanden und bereitet sich auf den Aufbruch vor .

Aus dem Schafzimmer verfolge ich ihr Narrativ , quer durch das Haus , jetzt ein Schalter in der Küche , jetzt die elektrische Zahnbürste , ein letztes Absetzen der Tasche , ein Scharren mit den Stiefelsohlen ,

Türriegel , Aufschwingen der Tür …..Pause ? Was vergessen ? Ah , noch mal umkramen , leise wird die Tür hinter ihr zugezogen .

 

Das erinnert mich an Aliya . Die ist gestern auf dem Schiff gestürzt , eine

kleine eiserne Zwischentreppe zum Hawsers Office herunter . Der Sekretär donnerte finster durch die Gruppe der Erschrockenen , Starbacks wuchtete die Gefallene hoch ; ein Arzt würde gleich kommen ;

ja , das wäre nötig . Giacomo war nicht da . Botswana umarmte Aliya , die weinte . Malevitch kam verschlafen aus seiner Kabinentür heraus .

 

Und auch Lila war , zunächst unbemerkt von uns , tief deprimiert und moralisch am Boden eines Brunnenschachtes . Es ist jetzt zwei Wochen her . Keine Leiter , kein Licht . Sie weinte schließlich , ihr Papiertaschen-tuch in die Hand gekramt  .

„ Knorr war so ein kleiner schwarzer Kraftwirbel . Wo er war , war etwas , war die Welt , war etwas los . Jetzt …fühlt sich das alles an , als säße man in einem eingestürzten Zelt , die Stangen sind weggebrochen , das

dreckige verrottete Tuch liegt auf Dir und Du hast kaum Luft zum

Atmen .“

 

Botswana kam dann von ihrer Zigarettenpause herein und sah uns an der Rezeption sitzen .

„ Man muss die Kinder ablenken ,“  sagte sie , „ wenn sie gefallen sind . Guck mal da , siehst Du den Wauwau ? “

Und sie nahm Lila in den Arm .

Später an dem Abend ist es Botswana , der Lila von Knorrs Geheimnis erzählt .

„ Beim Auf-und Ausräumen . In der Garage lag viel Gerümpel . Hinter einem alten Theatervorhang steht ein Koffer . So ein alter lederner Reisekoffer , ohne Rollen , aber mit Lederstriemen . Egal .Warum auch nicht , denke ich . Er ist schwer , und ich frage mich , was vielleicht drin ist . Nichts ist drin , aber der Koffer ist trotzdem schwer . Ich schaue zufällig auf die Unterseite , und da sehe – die Unterkante des Koffers ist eine Metallplatte . Darüber bzw darunter eine flache Farbwanne . Und die Metallplatte hat dieses Detail von Michelangelo – der ausgestreckte Finger . Wenn man den Koffer absetzt , hinterlässt er das Druckbild .

Auf dem Bürgersteig zum Beispiel .

`The Nudge ´ . Knorr ….war der `Nudge ´ . Frage mich nicht warum .“

Lila schluckt.

„ Meinst Du , ich muss das der Polizei erzählen ?“

Botswana ist sich ganz sicher , dass nicht .

 

Später sagt Botswana einmal in unserer Runde  :

„ Lila und Herr Hammelrath , ich beneide  Euch so um das , was Ihr hier oben sehen könnt . Unten habe ich wenig Aussicht . Der Fluss , das Land , das sich vorbeischiebt . Was ist hinter der nächsten Krümmung ? Auch wenn man es schon kennt . Ein Fluss ist  großer Antwort-

kenner . Für Traurige ist ein Fluss der richtige Platz .“

 

Wunderbar liberalisierte Zeiten ; ich bin ungestraft der einzige

Pornokrat , hierzulande , denkt währenddessen Giacomo ; aber offensichtlich  erlauben auch noch andere Individuen Dr.Brunner Enterprise ihre Dividenden . Diese Kunden sind vielleicht besser getarnt als ich ? Immer wenn ich einer Frau nachsehe, nachsehen muss , so ganz spontan , und mich dann orientiere , welche anderen Männer denn genauso wie ich reagieren , merke ich :

 

Ich bin der Einzige ,

 

der den Kopf gedreht hat oder die Augen wandern lässt . Ich – der Einzelgänger .

 

Erzählt er dann Lila ,wie zur Abschreckung oder um sie aufzuheitern , und da sie schon mal an Bord der `Cythera´zu Besuch ist , mit dem Mut des Elefanten , der im Porzellanladen einen Anfall von Platzangst bekommt .

 

24

Noah sieht /Noah malt sich aus/Noah kann gar nicht hinsehen :

Ein stürmischer Tag , Orkan Thomas , Windgeschwindigkeiten

100 KM . Ein Wunder , dass der Jahrmarkt überhaupt aufhat . Alle Buden sind  auch nicht geöffnet , nur der Autoscooter und das gute alte Kettenkarussell . Und die Geisterbahn .

Auf dem Scooter sitzen Jens und Monah zusammengedrängt , noch nicht ( oder doch ? ) gekuschelt ; Jens hat keine Mühen , mit dem Cart kunstvolle Schleifen zu fahren , denn noch gibt es nicht viel an Karambolage- Konkurrenz auf dieser Fahrdecke , die ein bissschen an Discotanzfläche erinnert . Die Musik passt ja auch . Bretter , die die Halbwelt bedeuten .

Monah weiß nicht genau , warum die beiden hier auf dem Jahrmarkt

sind . Und als sie aussteigen , werden sie abschließend doch noch einmal so richtig gerammt von so einem `Mitarbeiter´ des Unter-

nehmens , `Mitarbeiter im Schausteller-und Fahrbetrieb  Egon Wüllenweber ´. Monah überlegt , ob das Leben so eines demnächst 18-Jährigen film –oder bohéme-fähig ist .

Sie gehen zum Kettenkarrussel . Das schlenckert noch in Leerfahrt und hat bisher keine Gäste . „Wenn Ihr fahren wollt , dann jetzt ,“ sagt der Ticketverkäufer zu Jens ; „ich weiß noch nicht , ob ich die Anlage gleich wieder schließen muss . Bei dem Sturm .“

 

Jens und Monah schaukeln auf ihren Holzsitzen , reden nicht viel , frieren. Der Motor schwingt an , die Sitze schwenken aus , nach jedem Dreh etwas höher , ganz schön hoch ganz schön schwindlig , sagt

Monah . Jens sagt Beschwichtigendes , greift nach der Kette von Monahs Sitz .

Sie kurven jetzt berauschend schnell um die Achse des Karussells . Es ist windig . Monah wird sich eigentlich erst jetzt bewusst , dass sie einen Rock an hat , der mittlerweile konstant an ihr hoch kriecht . Sie legt eine Hand in ihren Schoß , um den Saum unten zu halten . Aber da legt Jens vom Nachbarsitz seine Hand genau zwischen ihre Beine und schiebt sich mit Nachdruck unter ihre Handfläche . Seine Hand schließt sich um ihre , als schlössen sie einen Vertrag (`Abgemacht !´) ; seine Hand liegt genau über ihrer Scham . Es zieht , beiden ist schwindlig , ihr mehr als ihm ,  ihm aber auch .

Da geht das Handy bei Jens . Ein Auftrag für Ratzy .

 

25

Die Uhrmacherin zitiert ihren Lieblingsdichter Nazim Hikmet :

 

„ Uhren morgens anlegen :

 

Wie ein gezähmtes Raubtier

zur Zier

mit hier

dabei .

Unfrei aber dabei .“

 

 

„Nein !“ sagt Norah und zieht sich schnell in den Schattenwinkel an der Straßenecke zurück . Sie hat Noah gesehen , und – zu spät – er hat sie auch gesehen . Er winkt mit dem Zettel , den sie schon kennt , klein ,

rot-gelb kariert .

„ Nun bleib doch mal stehen . Es dauert doch nicht lang .“ Norah schüttelt den Kopf und will weiter .

„ Sag mal sechs Zahlen . Ist doch nicht schwer .“

Norah geht schneller .

„ Dann fülle ich den Schein eben für Dich und ohne Dich aus . Ich nehm irgendwelche Zahlen , die mit Dir zu tun haben . Hausnummer .“ Noah

japst . Hält an und schreibt . Dann ist er wieder neben ihr  .

„ Alter ? Körpergröße ? Auf jeden Fall die zwei , und die eins , für einen

Kopf oder eine Seele .“

Norah hält inne und kreischt : „Lass mich in Ruhe . Nein , mit Dir will ich noch nicht mal ´nen Lottogewinn .“

 

XVII Noah verursacht einen Stau , verzögert und beschleunigt Einiges

 

1

Der Frühaufsteher . Ja, das bin ich , mache ich mir klar ; bin begeisterter Frühaufsteher , wiederhole ich mir , und nach zwei Minuten glaube ich es auch halb. Schluss mit dem Elektrosmog all der Lampen : Sonne liegt auf allen Kieseln . Ich besetze die Kommandozentrale , den Arbeitsplatz der Entscheidungen . Februarende , die Sonne scheint . Die Sonne

sagt : Ich habe die Bühne schon mal beleuchtet ; wo bleibst Du ? Dein Projekt für dieses Jahr ? Über der Stadt schon Sirenen .

 

Für einige ist womöglich der Tag also schon vorbei , oder er hat schlecht angefangen .

Im ersten Baum lugen zwei verschlafene Tauben herunter  .In fast jedem dieser Gewächse hat sich ein Vogelnest über den Winter gehalten , ein schwarzes Zweigbündel , welches wahrscheinlich demnächst  im  Frühling wieder genutzt wird . Oh Ihr Vögel , seid Ihr sicher , dass Ihr die Existenz von `Grünanlage in urbanem Ambiente ´ richtig verstanden

habt ?

In einem Exemplar von Gingko  weiter die Goethestraße herunter hat sich eine Plastiktüte verfangen und flappt wie Jolly Roger im Wind .

Keine neuen Drucke mehr von `The Nudge´. Komisch! Etwa seit Knorrs Tod ……

Vor dem Altersheim am Parkeingang die Frühschicht : Rollstuhlfahrer , alle an ihren Zigaretten festgesaugt , stillschweigend `das wars ´ ausdrückend . Ich grüße und gehe vorbei . Dort der Schiffsfriedhof , wie ich es getauft habe : Die Ruderbootausleihe . Der Eigentümer ist vielleicht im Herbst in eine Anstalt eingeliefert worden und konnte die Boote nicht mehr ins Winterlager abtransportieren ; einige der Kähne liegen halb mit Wasser gefüllt schief auf dem Modderboden auf .

 

Der Park ist wunderschön , mehr Wald als Park . Allein unter Moosen . Die Sonne  rötet das Astwerk in den Bäumen am Ostufer des

Sees . Meisen fliegen emsig durch die Büsche , als hätte ein Sieb Lichtpunkte verteilt und wirbelte sie durch einander . Auf einmal krähen die Gänse , laut , heiser ungnädig ; nur weil ich den Park durchstreife  ? Verstehe einer die Tiere . Vielleicht DER Fortschritt des nächsten Jahrhunderts : Alle Tiersprachen zu identifizieren . Haben Sie die neue Schmetterlings- AP? Allein unter Moosen , der See still , die Bäume unbewegt und nachdenklich nackt .

Allerdings , – ?  trauen will man seinen Ohren lieber erstmal nicht  , von der anderen Seeseite wummert laute Technomusik .Von jetzt auf

gleich . Auf der Parkbank da drüben sitzt jemand , die Musik kommt von da , kommt aber nicht sondern ist  eigentlich schon hier . Nichts ist mit meditativer Versenkung , ich stehe vor der Wahl zum Parkplatz zurück zu gehen oder  auf diesen Mann zu , ein junger Mann mit Kapuzen-pullover , und ihm sagen wie mich seine Musik nervt .

Er stellt  die Musik ab , dann wieder an , tjunt sich sozusagen ein . Neben ihm eine Plastiktüte und eine Gitarrentasche . Ich gehe energisch auf ihn zu , vielleicht ist ja noch etwas von meinem Spaziergang zu retten . Es ist Noah .

Er erzählt mir , er werde heute abend ein klärendes Gespräch mit Norah führen .

 

Ihm ist nicht zu helfen .

Ihm ist nicht nach Elfen ,

 

dichtet Malevitch .

 

2

Ich ( Hammelrath ) wiederum ….. denke auf dem Weg zurück zum Parkplatz an Aimée . Die ich ja in diesem Park traf – wie lange das schon wieder her ist ! Aber warum an Aimée denken , wenn ich auch an , sagen wir , Iris denken könnte ? Und wenn es Puzzlestücke sind , diese Erlebnisse und Gefühlsheimaten ,  Nachmittage zum Wieder-findenwollen ? Puzzlestücke , jedes in eigenem Recht ? Jedes einzelne etwas von dem anderen nehmend –oder dem anderen gebend ?

Das ist das Zusammensetzen eines Filmes durch gestückelt aufge-nommene Einzelbilder . Jede Frau , die ich liebte …ja was denn ? Jede Frau , die ich liebte , war ein Grund , nicht weiter zu leben , genauer : Nicht ` fort ´ zu leben . Ich bin fortgelaufen von zuhause : Hier meine Variante der Geschichte vom verlorenen Sohn . Wohin zurückkehren , wer wäre der gütige Vater ?

 

3

Letzter Februartag . Es ist ein Sonnentag geworden . Der Fluss liegt in friedlich erwartungsvoller Silberfläche da . Weiß man , worauf man wartet ?

Nein , es ist nicht einfach das , was man vom Frühling schon kennt . Als hätte dieses Frühjahr noch ganz Neues in petto . Ein besonders reinliches Licht , sagt Starbacks . Ich weiß was er meint : Februar und März :

 

Bevor der Frühling allen gehört ,

bevor der Sommer alle beraubt

 

singt Malevitch dazu .

 

jaja

bevor der Frühling allen gehört ,

bevor der Sommer alle beraubt .

 

 

„ Alle Männer scheinen zu denken : Frauen wollen , kaum auf der

Straße , besser noch im Treppenhaus : Schon angesehen werden ,“  seufzt Lila .

„Ich brauche immer erst 200 Meter und 17 Männer , um mich zu

erinnern : Ach ja ,  Beobachtungsmodus , es gibt einen männlichen Blick auf mich.“

Wir saßen damals bei diesem Gespräch in Amsterdam in einer Shopping -Mall . Anlass des Gespräches war ( sic !) eine `angesehene ´ Frau :

Die da , ja DIE , denkt Giacomo , hat genug gesehen , ist genug angesehen worden . Erst recht von mir vielleicht  .

Besagte Dame sieht genervt aus , verlässt gemessenen, aber zielstrebigen Schritts die Mall und blinzelt der Tageshelle draußen entgegen . Sie hat alles gesehen und Einkaufsvorhaben für die Zukunft skizziert/registriert/strukturiert .  Eine dicke Frau trägt einen beschrifteten  Pullover vorbei :  `you and me ´.

Ein nachdenklicher Pfarrer , in talarschwarzem Pullover und weißer Halskrause , streift durch die Einkaufspassage . Oh Lila , schau mal da , ein Boxer und ein Chihuahua .

Zwei Frauen , von denen eine hübsch , die andere unscheinbar ist ,

warten beim Bäckerstand  . Die Hübsche lächelt überraschend , überraschend selbstlos , die Hunde und ihren betagten Besitzer an .

 

4

„ Maria beim Friseur ?“

„ Nein,“ sagt Noah und stampft mit dem Fuß auf .

Er ist immer noch ausser Atem ; Anne beruhigt ihn , versucht es

jedenfalls . Schiebt ihn in einen Sessel und gibt ihm einen Whisky , den er sogar trinkt . Soweit so das Zeremonial .

Es hat nachts geschellt  ; Anne meint  zunächst , sie solle nicht öffnen ; am nächsten Tag fahren wir schließlich Richtung Donau . Aber sie tut es doch . Und in comes Noah , durchnässt und erzählt eine wirre Geschichte . Die meine Frau schon auf der Treppe nicht versteht und jetzt im Salon auch nicht .

„ Hammelrath ist nicht da . Er ist schon auf dem Weg zum Schiff.“

 

„ Maria beim MASSEUR!“ wiederholt Noah jetzt .

„ Was?“

„ Norah hat ein Bild dabei , nicht für mich , sondern für Jens .Wir treffen uns auf der Autobahnbrücke ; ich bin nur da , weil ich ihr nach-geschlichen bin .

Ich habe Ihnen die Geschichte mit dem Bild von ihr erzählt ? Es war schön in einem Umschlag . Ich meine : In einem schönen Umschlag .Ich nehme es heraus ….und es ist ein Babybild . Ich kann Ihnen gar nicht sagen , wie sauer ich war .

Mit Jens jedenfalls ist sie verabredet . Sie hat keine Zeit für mich , erzählt nur Jens : Am nächsten Tag werde sie Richtung Darmstadt zum Künstlerwettbewerb abreisen . Sie wolle ihm aber als Andenken dieses Bild schenken . Eine Comic-Serie : Maria klagt über  Bandscheiben-probleme , wegen des Tragens eines gewichtigen Menschheitserlösers ; man sieht sie vom Rücken , sie zeigt `Höhe dritter Wirbel´; aber der Heiligenschein ist deutlich zu sehen .“

Später werden wir mehr Zeit haben , die Comic-Sequenz zu studieren . Unter anderem gibt es da auch noch vorher ein Bild : Maria lässt sich

bei der Familienbildungsstätte über Contraception aufklären .

„ Das hat alles Norah gezeichnet ?“ fragt Anne .

„Ja. Ich hab es mir auch angesehen , auf der Brücke , um etwas Zeit zu gewinnen . Ich wusste nämlich nicht , was da eigentlich gerade abgeht . Und Jens ist unheimlich nervös , hat sein Fahrrad an das Geländer geschmissen .

Ich kann mir denken warum . Er hat der Polizei nichts gesagt ..“

„ Wovon?“ fragt Anne .

„ Von dem Unfall mit der Fahrerin . Und dass er eigentlich daran schuld war .“

„ Was ?“ fragt Anne .“ Wie : `Eigentlich ´?“

Dann :

„ Weiter . Egal . “

Noah schnappt Luft und sagt :

„ Ich sehe nur noch dieses Bild . Richtig groß , auch mit Rahmen . MIR hat sie nur so eine kleine Fotografie von sich geschenkt . Und Jens kriegt ein Meisterwerk für die Kunsthalle . Als Jens es auch sehen will , und dann auch das Babybild , zerreisse ich die Fotografie , und reiße ihm das große Comicbild weg ; es gibt einen Windstoß , der das Ding von unten erfasst , und es fliegt über das Geländer .“

Noah ist völlig fertig ; krümmt sich auf das Sofa und hat einen Wein-krampf.

 

„ Und…“ , versucht Anne es weiter .

„UND ? Unten gibt es ein Krachen , Quietschen , Bremsen , Splittern ….wir oben sehen uns an ….und jeder rennt in eine andere Richtung .“

 

Nur ein Pferd war Zeuge ; es stand auf seiner Weide , oben an der Autobahnbrücke ; machte sich nichts aus dem Lärm , schüttelte seinen Schweif und strich gelegentlich mit seinen Nüstern nibbelnd über das Gras .

 

4

Die Kommissarin kommt an Bord  .

„ Na endlich mal ein Ambiente für ein Verhör bzw. eine Verhaftung! “

Sie guckt erst ulknudelhaft , dann dräuend .

 

„ Wir haben ja hier eine Reihe von Personen , die ich aus diesem oder jenem Grund in den letzten Tagen schon befragen durfte ; ( freundlich ) Zeugen , in Tatverdacht Gekommene , Personen die in Tatverdacht Gekommene schützen ( finster  ) . Ach ,“ wendet sie sich an Lila ,

„ als Auswärtige sind Sie vielleicht gar nicht im Bilde ? Frau …?“

 

Sie räuspert sich , ihr Blick fällt auf das kalte Büffet und wird schnell

wieder weggelenkt . Beim nächsten Kopfschwenk bekommen ihre Augen etwas Hungriges .Wir haben den  Eindruck , und ihre hohlen Augen helfen uns dabei , sie habe wohl die Nacht durchgearbeitet und noch nicht gefrühstückt ; velleicht auch gestern nicht .Sie greift ( „ Ich darf doch ?“)  nach einem Fischbrötchen auf dem Buffet . „ Der Verdacht liegt nahe …“

 

Die Kommissarin renkt auf einmal ihren Kopf nach unten ; hüstelt ,

hustet , prustet , spuckt , sabbert , flucht .  Ihr Begleiter , Herr Hauptwachtmeister Oblong , klopft ihr auf den Rücken …..und Frau Hauptkommissarin  legt ihn mit letztem Schwung ( das ist wohl einfach ein Reflex) judokamäßig auf den Rücken , was ihr nicht gelungen wäre , wäre O. seinerseits nicht völlig überrascht worden .

 

Alles stürzt auf die weiterhin Hustende zu , die mittlerweile einen hochroten Kopf bekommen hat und sich im Krampf auf dem Boden von Deck 2 befindet .

 

Doktor Leiendecker (der aus Kabine 16 ) schreit :

„ Schnell eine Ambulanz rufen !“ und pumpt der mittlerweile selber auf dem Boden liegenden Kriminalbeamtin auf der Bauchdecke herum .

Mit anderen Worten .

 

( Und Sie ahnten es doch , liebes Lesepublikum ) : Die Kommissarin wird abtransportiert  , ihr konkreterer Verdacht bleibt unausgesprochen. Ich

habe den Moment allgemeiner Konfusion genutzt und Noah in seinem Versteck im Rettungsboot einen 100 Euroschein zugesteckt und ihm Verhaltensanweisungen ins Ohr gezischt .

 

Am Abend kommt dann ein Stellvertreter der Kommissarin vorbei .

Er berichtet , die Gräte hätte in der Tat kompliziert herausoperiert werden müssen . Man stelle sich vor ! Nirgends ist man sicher !

Frau Keller könne jetzt nicht selber den Fall abschließen und Vernehmungen durchführen ; das werde er , Mertens , nunmehr tun .

 

Und wo denn Noah sei ? Wir beteuern , N. sei nicht mehr an Bord .

Schon seit Tagen nicht mehr . Giacomo fragt in einem Ton zwischen besorgt und nörgelnd  ( wahrscheinlichals Ablenkungsmanöver

gemeint ) , ab wann denn jetzt die Freigabe und Ablegeerlaubnis für seinen Dampfer gelte . Mertens blättert in seinen Formularen und sagt :

„ Tja…meines Wissens …..nach meinen Unterlagen ..gilt das ab sofort ; ja , ab sofort ….“

und guckt hilflos in die Gemeinde . Er wünsche grundsätzlich eine schöne Fahrt . Sie würden jetzt die `Cythera´ einmal absuchen , falls der gesuchte N. aber nicht zu finden sei , könne Starbacks wie vorgesehen abends , zum Kerzenschein  ,( vorher nicht !) die Leinen los werfen lassen .

 

5

Was am Vorabend passierte :

 

Und es wurde Abend . Abfahrtsabend .

Originalton Hammelrath :

„ Da kann man sich noch so beeilen ! Ich freue mich auf meine Kabine an Bord  , und die `Cythera´ will um 21 Uhr ablegen . Komme gerade die Auffahrt in Köln-Uffendorf herunter , fahre befreit und durchatmend

ein paar Hundert Meter Richtung Rheinhafen , komme dann aber doch  nicht auf die Überholspur , weil beide Fahrstreifen ziemlich kompakt voll sind . Und der Wagen vor mir gibt dann noch den Doppelblink : Warnsignal : Stau !

 

Ich nehme den Fuß vom Gas und rolle aus . Schließlich stehenbleiben , und das ist dann doch wie eine Überraschung : Wie ertappt ! Plötzlich ist man in einer `Gemeinschaft mit Autoinsassen ´, als wäre das der Name einer preisgekrönten Fotografie . Und man rollt weiter . Der Meter , den ich jetzt an der Leitplanke vorbei krieche , werden die anderthalb Kilometer Stau hinter mir gleich auch mal passieren . Jetzt ich , gleich die nächsten , auch die Fernen : Wie eine Genealogie , wie Familienstammbaum .

Noch ist das ein feierliches Gefühl . Leidgeprüft weiß ich , dass diese

Gefühlslage  das letzte Stadium ist vor der Wut auf den Verschulder da noch weiter vorne in der Geschlechterfolge . Was wiederum einfach in

Entschädigungssucht umschlägt , wenn man an einem zerknautschten Unfallfahrzeug vorbeikommt und gar nicht langsam genug rollen kann , um alles mitzukriegen . Aber der Wagen , der hier steht , ist gar nicht unfallbeteiligt ; der hat nur das Stop-and-Go nicht ertragen und jetzt kein Benzin mehr . Also weiter brüten über dem Lenkrad .

 

Im Dunkel ist der Februarabend schön , mit der zweispurigen Lampion-kette  . Hinter der  A 4-Kurve , in die ich mich hineinarbeite , sehe ich eine wirklich ( das darf doch nicht wahr sein ! ) kilometerlange Autoschlange . Ich rufe Starbacks an , er geht nicht ran , ich spreche auf seine Box : Ich werde zu spät kommen , er möge wenn möglich ( und bittebitte ) doch warten .

Daraufhin mache ich das Radio an . Auf dem Kultursender erklingen `Wintermotive in der Musik von Renaissance bis Romantik ´.

Sehr schön .

Jetzt geht nichts mehr , kein Stop and Go , nur Stop . Neben mir ist ein rasanter Sportwagen zu stehen gekommen mit Deggendorfer Kennzeichen : Treuer Fußballfan , der seine Bayern in Köln hat siegen sehen wollen . Das hat er jetzt davon , denke ich ingrimmig .

Die meisten Wagen haben ihre Motoren  abgeschaltet , starten jetzt aber wieder . Ich sehe mich um : Krankenwagen wollen von hinten durch die Mittelgasse nach vorne . Auch ich quetsche mich an die rechte Leitplanke .

 

Muss doch ein größerer Unfall gewesen sein : Nach dem ersten Ambulanzwagen  ein zweiter , dann eine Feuerwehr , dann die Polizei , zwei Kombiwagen . Und nichts geht mehr .

 

Im Radio dazu : Besinnliche Lautenmusik , und das Licht draußen ist immer noch durchaus ein bisschen Krippenbeleuchtung . Ich sehe die Leute im Nachbarwagen ; sie sprechen , rauchen , fauchen ihre Mitfahrer an , Fenster runter . Leicht dahinter Mutter und  Tochter ; Tochter  am

Steuer , Mutter kaugummikauend und versunken über I-Phone .

 

Innig sind sie , diese Momente auf der Autobahn , im Stau : Wer wollte es bestreiten . Aussteigen wird man nicht , in der Hoffnung , gleich gehe es ja weiter ; aber weiß mans ? : Wenn wir länger hier stehen , verteilt der ADAC gleich Tee , Brote und Decken . Habe ich noch nie erlebt , ist auch sicher gar nicht romantisch . Schwarzer Humor .

Wie deutlich auf einmal Nachbarn werden . Vielleicht sind Zufallstreffs von Menschengruppen ja  doch das Angemessenste für Weihnachts-oder Nachweihnachtsstimmung . Ja, ich könnte mir vorstellen , IHRE Geschichte zu kennen . Nein , ich bin nicht auf SIE wütend . Ja , ich würde Ihnen helfen , wenn Sie kein Feuer haben oder kein Handy-guthaben . Nein , ich bin nicht auf SIE wütend . Eher doch da vorne auf den unsichtbaren ,vielleicht noch fernen Trottel , der das Ganze verursacht hat . Könnte mir ja nicht passieren , will ich gerade noch rechtzeitig nicht sagen .

 

Noch ein Krankenwagen . Oder machen die hier eine Übung ? Blau flackert es auf unserer Doppelspur , drüben in der Gegenrichtung läuft der Verkehr hektisch husch-husch-pfui- weiter . Ihr verpasst was . Irgendwie ist es hier ja gemütlicher .

 

Ich weiß , wahrscheinlich würde Starbacks nicht nur auf mich warten , sondern auch sonst noch auf Nachzügler . Die Tanzlehrerin nutzt vermutlich die Verzögerung und ist eine Wette mit Herrn Schlupkothen eingegangen : Selbst IHM könne sie die Grundlagen des Tango  vermitteln . Sie stehen auf der Tanzfläche , während um sie herum , am Oberdeck , im Kabinendeck , in Küche , Bar , Maschinenraum , auf der Brücke : Alles und wirklich alles sich sortiert für die Abfahrt .

 

7

Schlupkothen schaut dabei über seinen Bauch hinweg , bzw. bemüht sich , dies zu tun , um seine Füße und die der Partnerin argwöhnisch zu belauern , als seien sie Feinde . Was seinem Körper eine leichte Neigung nach vorne  einträgt , und er sieht ein wenig aus wie die schlappe Marionette , die von der Lehrerin im letzten Moment angehalten worden ist .

„ So ! Jetzt ein kurzer Schritt zur Seite – ein langer Schritt links nach vorne ; kurz zur Seite – LAAAANGE nach vorne ; kurz-lang ; kurz –

lang“ .

Starbacks horcht auf und erkundigt sich : „ A propos kurz-lang : Kann man also auch Morsesignale tanzen ? SOS z.B. ? Hilfe : Ein Eisberg ?“ .

 

Derweil hängt Anne über der Reling und weiß , dass sie gleich kotzen wird , was aber ein Ende ihrer  Qualen verspricht .

Ja , sie hat gestern unbeobachtet viel getrunken , und überhaupt ;  und jede Bewegungswahrnehmung ist zuviel . Eigentlich möchte sie jetzt eingefroren sein , aber der Fluss zieht und rauscht und steht nicht still , neue Schaumkrone , neuer Wellenkamm , wieder ein Schiff , das die Wasser aufschraubt ; oh könnte das alles mal still stehen !

Aber gut  denn, gleich wird sie ihren Mageninhalt mit in das Bild geben , dann wird es sicher besser und  sie leichter , was ihrer Schwäche gut

tut . Hat ihr Mann sie betrogen oder nicht ?

 

Was dem vorausgegangen ist ( jetzt kann ichs ja sagen ! ) :

„ Sie sind schon 40 ? Sie haben sich aber gut gehalten !“

So Elvira .

Sie sagt es , als ob wir uns noch nie begegnet wären . Wie abwaschbar

ist so eine Begegnung mit mir ? Ich schaue verwirrt und überlege , ob wir nicht schon im November eine Nacht miteinander verbracht haben .

Die Anrede verweist allerdings auf den ausdrücklichen Wunsch von Giacomo , dass die gastgebenden Damen und ihre Gäste sich bis zum Auseinandergehen in voller formaler Höflichkeit zueinander verhalten mögen ( oder von einander weg verhalten ? ).

„ Sie haben auch noch so etwas von Leichtigkeit …“ setzt sie hinzu .

Leichtigkeit ? Wenn sie wüsste !

 

Also erzähle ich ihr etwas zum Thema .

„ Leichtigkeit ? Ich muss immer daran denken , wenn ich irgendwo Schmetterlinge sehe . Ich schaue mir Teenager an wie ein alternder Vampir . Hungrig , natürlich ; ich schlecke mir die Lippen . Was da alles noch brach und leer liegt . Wie Spätwinter !

Hören Sie sich zum Beispiel mal die Sprache dieser Jugend an ! Es wimmelt von lauter Ausdrücken , die es vor 5 Jahren noch nicht gab , so wenig wie ihre realen Entsprechungen . Ein Smoothie ! Fassbrause ! Ein Gemüse –Wrap ?“

Ich weiß nicht , ob Elvira mir folgen kann . Sie ist Polin und erst seit drei Jahren im Lande . Zu ihrer Sprache gleich mehr .

„ Jeder Mode-Unsinn kommt sofort zum Inventar , tut jetzt so als ob das alles auf Ewigkeit da bleiben würde . Das Apartement ist ausgeräumt , und jetzt kommt `das junge Wohnen ´ eingezogen . Und die Teenies haben Mega-Bytes  an Aufnahmevolumen dafür . Ich denke dann –

ich weiß nicht warum – immer : Thema verfehlt , setzen , sechs .“

 

Es wird deutlich , dass Elvira das Ganze eher schnuppe ist undoder unverständlich .

„ Megabytes ! Und dann – dann passiert es , dass so ein junger Schmetterling mit aller Zeit , aller Unbefangenheit , aller Unschuld stirbt – vor dem alten Vampir .“

„ Oh! Denken Sie an wen Besonderen ?“ fragt sie besorgt . Stimmt

schon : Ich denke an Noah , der gefährlich lebt .

 

Ich wollte ja etwas über Elviras Sprache (  gemeint : Ihr Sprechen )

berichten . Polinnen . Und ihr Deutsch : Polinnen sind alle blond , wie ein

Heuschober ; und so klingt auch ihre Sprache . Nach Hochsommer und Picknick . Nach Zeithaben und Mittagsschlaf . Nach Gerne-Wieder-Aufwachen und die gute Laune zwischendurch nicht vergessen haben . Nach Honig und  `Probier mal ´, nach einer geschmacksbegabten Zunge und gut überlegten wohlwollenden Schachzügen . Nach Unterröcken und

Knautschzonen . Ich sage ihr das .

 

„ Du hast die Naght also niecht becheut ?“

 

 

XVIII Passau

 

1

Irgendwie anders, würde Noah sagen ( wäre er hier ) ; diese Hinterhöfe an denen der Zug vorbeifährt . Irgendwie wie Unterwäsche , als sei man Voyeur , würde Noah sinngemäß sagen , der noch nie länger mit dem Zug unterwegs war . Eigentlich könnte man bei Bedarf viel mehr Menschen hier in diesen Städten verstecken  ; eigentlich ist Deutschland ein versteckfreundliches Land .

Denkt Lila . Lila gähnt . Alles ist  unerledigt um sie herum und so auftragswillig . Morgens ist man immer irgendwie wie im Atelier ; man versucht den Auftrag zu verstehen . Aber hier ist undeutlicher Empfang. Himmel grauen über Rheinhessen . Sie taucht aus dem Tunnel auf bei Frankfurt Airport . Schauen , was einem der Tunnel so beschert . Es wird gegessen was der Tunnel etc . Ins Dunkle eingetaucht vor Waldkulisse , aufgetaucht im Hochhausdorf , Glaskatarakte vor dem Horizont .

Lila fährt an einer Müllhalde vorbei , dann endlich an einem Weinberg . Der erste Weinberg in Süddeutschland ?!

 

Witwe Knorr ist mit dem Zug unterwegs . Nach Passau , wo die `Cythera´auf sie wartet . Lila hat die Abfahrt in Köln verpasst , wegen ihres Autounfalls .

Die ganze Mannschaft hat sich erkundigt , wie es ihr geht ; wie ernst die

Stauchungen in Arm und Bein sind . Nein , sonst ist ihr nichts passiert .

Sie war die siebte , die in den Erst-Havaristen hineingefahren ist , schon nicht mehr sehr schnell . Aber sie bleibt noch einen Tag mindestens im Krankenhaus , auch weil sie ihr mögliches berufliches zukünftiges Umfeld ( siehe oben Seite )schon einmal erkunden möchte . Gott sei Dank , auch für die anderen ist der Unfall relativ glimpflich ausge-

gangen . Von ihren Blessuren merkt sie am ehesten die Stauchung im Arm ; immer etwa , wenn sie auf die Uhr sehen möchte . Ihr fällt Frau Öztunali ein . Wie sagte die doch :

 

Apropos Babel :

So wie das architektonische Ungemach seinerzeit den Beruf des Dolmetschers notwendig machte ( so Frau Öztunali ) bräuchten wir auch einen Dolmetscher , der den Menschen ihre verschiedenen Zeiten und Zeitaufenthalte einander verständlich vermittelt .

 

Nebenan seit neuestem zwei junge Männer , in Frankfurt Airport eingestiegen . Sie sprachen eine Viertelstunde munter miteinander , jetzt ist jeder per Touchscreen gestillt , gechillt aber aktiv. Junge Männer , sportiv , zerstreute 3-Tage-Bärte . Kappenschirm nach hinten , breite Rücken , die Ellenbogen aufgestützt wie sinnierend . Der eine mit Ohrstöpseln . Auf dem Friedhof sehen wir uns wieder  , denkt Lila und – oh je !- wundert sich über ihre schlechte Laune .

 

Lauter Häuser , in denen ich nicht leben möchte , sagt sie sich auch noch beim Raussehen . Schöne , teure , moderne Häuser , mit denen die Eigner sich Mühe gegeben haben . Stichstraße vor Acker mit

( endlich!) schnellem Internet . Für wen ? Gegen wen ? Konkurrenten z.B.

 

Ein Kind , das brabbelt. Ein unerfahrener Vater , der aber auch wirklich jede Frage beantwortet , auf jeden Impuls reagiert , insgesamt und ununterbrochen sowasvon zuständig ist .Viel Liebe zeigt . Hoffentlich merkts das Kind . Ist es ein Scheidungs-Vater mit Kind am Wochen-

ende ? Oder , interessantere Variante , wurde der Vater aus dem Knast entlassen und versucht jetzt `second approach´ /zweiter Ball/ Wiederannäherung ?

 

Es knackt im Lautsprecher vor der  Zugdurchsage , schon sympathisch bayrisch :

„ Meine Damen und Herren , es ist soweit : Wir fahren ein nach Würzburg . Sie erreichen alle Anschlüsse. Der Intercity …nach

Konstanz , über Stuttgart , Kitzingen , Freiburg ,….heute von Gleis sieben ; der Regionalexpress nach Hanau über …“  .

Es fehlt bei diesem beruhigenden bajuwarischen Plätschern nur noch die

Schlusspointe :  „ Aber – net woah- gä , da wollen´s ohnehin nich hin .“ Dann nach zwei Minuten unweigerlich das Ganze noch mal in abenteuerlichem Englisch .

 

Lilas Laune ist noch nicht viel besser , aber vielleicht ist sie auch nur angespannt . Sollte sie hier sein ? Gleichzeitig unterwegs nach da ? Wirklich ? Die Weinberge ab Würzburg wenigstens sind ein weithin sichtbares freundliches Zeichen . Wein trinkt man mit Freunden . Und dieser Schwung von Rebengärten da an den Hügeln über dem Fluss ( ist das der Main hier ? Fluss und Zeit !) ist wie der angebotene Umhang nach einer Dusche .

 

Dann in Nürnberg noch einmal viele Leute , die zusteigen . Zwei Personenströme :

 

Reinwollende

versus

Rauswollende ,

 

dazwischen kleine alte Leute , die man erst übersieht , die dann aber doch den Ausgang versperren . Es riecht nach Wurst . Man schubst und  stößt und ruckelt . Die Bahn hat schon bei ihrer Gründung vergessen , dass Leute auch Koffer haben . Die Rache der Koffer , ihre große

Stunde : „ Jawohl , wir können auch ganz ohne Bombeninhalt einen Bahnhof lahmlegen .“

Mit dem Gepäck vorbei an Leuten , die was ganz anderes als wir wollen

( wissen sie , was ?) . Wir sind das Volk .

„ Entschuldigung – wir haben hier reserviert .“

„ Zeigen Sie mal her . Mathilde , wo ist meine Brille ? Aber das gilt doch für Wagen 22 . Hier ist aber Wagen 23.“

„ Ist hier nicht . Schaffner ? Welcher Wagen ist hier ?“

 

Warum ist Lila so genervt ? Warum so kritisch ? Oder : Warum ist sie

eigentlich hier ? Mal draußen vor dem Fenster nachschlagen .

Man fährt wieder . Gerade gibt es vor dem Fenster eine Sequenz von Kläranlage – Friedhof- Sandgrube-Campingplatz , einen Fluss entlang  , von dem Lila noch nie gehört hat . Wie sympathisch , dass die Realität doch meistens mehr weiß als einem durchschnittliche Schulbildung und Lebenserfahrung beigebracht haben .

 

Ich bin dann also in Bayern , im Reich der Zwiebeltürme angekommen , die wie große grüne Eier des Kolumbus auf Kirchenschiffe draufgepfropft sind . Aber Reisen ist anstrengend ;  man müsste Reisen an wen delegieren können , findet Lila , es müsste einem jemand abnehmen .

 

Wiederholtes Würfelbechergerappel von hinten , aus der pädagogischen Abteilung . Können Leute ihre Zeit nicht leiser totschlagen ? Kann Zeit sich nicht leiser totschlagen lassen ? Warum hat sie den Dampfer nicht einfach ziehen lassen und fährt jetzt diesem Unternehmen hinterher ? Ach ja , die Donau . Der wilde Osten . Ach ja, der Tango . Starbacks -und die `Cythera´-Familie .

 

2

In Passau wartet Lila darauf ,abgeholt zu werden . Ja , dort : Die

` Cythera´ liegt  am Rathauskai . Jedenfalls wartet Lila auf  Malevitch und Aliya . Und der unsägliche Chef gehört eigentlich auch dazu , ist aber noch nicht da . Merkt Lila .

Sie treffen sich in der `Horizontale ´ ; das heißt , sie sitzen im gleichnamigenTheatercafé . Andere Kneipen in Passau heißen

`  Zum Goldenen Nachen ´ oder ` Das Altstadtbeisl ´, etwas in der Art .

Nicht so volkstümlich ist die ` Horizontale ´ : Ein modernes Schummerlokal , wie Giacomo Neuhaus sagen würde . Alles fängt mit Kerzenlicht an . Nach der Theateraufführung treffen sich die Passauer Neureichen , Altschönen , Gebildeten , Jung-Dynamisch-Erfahrungs-kultivierten hier . Schmelz umgibt die Szene ; Swing und Bebop als Desinfektion und Einstauber . Und man wird atmosphärisch ermuntert , die magischen Worte zu sagen : Ab jetzt…..etc .

Ab jetzt ! Ab jetzt? Lila ist kalt .

Kitsch eben ! als Zugänglichkeitssimulation , sagt Malevitch der Nörgler . Etwa hier im Theatercafé . Schöne plüschige Welt . Warum kann es nicht überall so plüschig sein ? Und viele Bücher , nur zum Dekor , stressfrei ! zum Beispiel als Tischbeinersatz .

Kitsch : Eine Reduktion von Komplexität , weiß man nach spätestens zehn Minuten mit Malevitch . Menschen wollen verstehen , jawohl , so sind sie durchaus , wie Kinder : Fragen stellen sie schon . Wollen dann aber eher die schnelle Antwort . Die informelle . Einfach nur `es ist halt so ´ wird nicht mehr hingenommen. Dann eben : `Alles hinterfragen ´ .Ist aber nicht bös gemeint .

 

3

Lila hat an Bord übernachtet . Giacomo kommt erst morgen , per Helikopter wahrscheinlich ! zu der Abfahrt flussab . Die Witwe betreibt Stadterkundung . Genießt zum Beispiel das sprudelnde Delirium von Barock im Stephansdom . Daselbst eine wahre Vollversammlung , eine Geisterbahn von Heiligen , Opfern und Tätern , Mitwissern und Zeugen , Bewunderern und Nur- so- Staffage , wer kennt sich schon aus in der Umgebung der Heiligen . Stuckwülste , erkaltete Lavaströme , ein  wahres Telegraphenbüro mit Gewimmel von Nachrichten .

Lila sitzt unter einem unglaublich perforierten Sankt Sebastian . Und  denkt an die kahle protestantische Kirche  von Knorr . Hier ist es voller , aber leerer . Oder ?

Ein Pfarrer weist eine Gruppe Jugendlicher ein in die Rituale der Messdiener : Wer kommt von wo , steht wie lange wo , kniet wann hin vor welchem Bildnis . Katholisches Bayern .

Als Giacomo eingetroffen ist , wird er Lila sagen , Katholizismus sei doch

immerhin eine reifere , gesetztere Art des ( Zeitver-) lebens . Augenzwinkern . Und es tut ihm leid , dass er sie nicht begleiten konnte .

Oder drückt die Barockkirche mit ihrem Aufwand an Personal  in ihrer Vitalität doch eine Art Panik aus ?

 

Im Glasmuseum erlebte Lila einen kühlen feuchten Morgen am Ausgang des Winters  : Stur auf Kälte bestehend , neblig diesig grau wie es passt zum Glasmuseum : Man wartet auf einen Klang , den dieses Glas produzieren könnte . Aber da schlagen die Glocken  vom Rathausturm um die Ecke . Da , eine Eheschließung .

 

Botswana war auch schon einmal  eine wichtige Figur bei  einer Eheschließung an Bord . Als Mann und Frau ( sie so richtig in Weiß , mit Schleppe ) in den Saloon kommen , schüttet Botswana mit ihrem Haupthandwerkszeug , der Klobürste , einige Tropfen segnend  über das Paar . Fast alles kreischt auf ; nur Starbacks und das Brautpaar waren informiert , dass Eimer und Klobürste neu und unbenutzt waren  und das Wasser frisch aus der Thekenspüle . Kleiner Scherz am Rande .

 

„ Apropos splitterndes Glas …. Ein letztes Projekt von Knorr,“ sagt Lila .

„ Das mit den Autoradios,“ frage ich . Sie nickt .

Knorr lebte in Emmerich , war aber fasziniert von dem Städtemoloch Köln . Was hier so häufig passiert wie in Emmerich nicht : Autounfälle .

„ Plötzlichstes Ende .Vorfahrt geklaut , Rrrrrumms! aus . Ich habe mit den Zuständigen bei der Verkehrspolizei gesprochen , die sich verlegen den Kopf gekratzt haben ; irgendwer hat was von Datenschutz gesagt ; aber der Polizeipräsident hochpersönlich hat sein Plazet gegeben , anonymisiert! versteht sich , sagte er , nur so! und nicht anders . Die Kirche kann ja neuerdings alles verwerten .

Die Kollegen , die den Unfall aufnehmen , registrieren auch , welche Musik zur Zeit des Aufpralls läuft . Musik als Schwelle , sozusagen ; wie laut , wie leise tritt da wer aus dem Leben , wie leicht , wie

melancholisch .  Und diese Tonaufnahmen habe ich gesammelt ; na ja , bisher komme ich auf sieben .“

„ Warum tat er das ?“ sinniert Lila .

„ Mir sagte er einmal , die Wahl des Musiksenders ist vielleicht der letzte Tastendruck , der letzte Fingerabdruck gewesen , den da wer in seinem Leben produzierte .“

Ich schlage mir vor den Kopf . Fingerabdruck !

 

Die Witwe von Pfarrer Knorr bestaunt die Muranoleuchter , wahre Karussells für Glasaffen , ein Überfluss an Fragilität !

Der Künstler hat eine wirbelige Festsaalatmosphäre ( `damals in Venedig´ ) in kristallines Erstarren übersetzt . Muss heute nachmittag Kirche und Kloster von Maria-Hilf , oben auf dem Berg , besuchen , sagt sich Lila .

 

4

Ein verwirrendes Ereignis in Passau sei also erzählt .

Passau ist bekanntlich die Stadt der Flüsse und der Berghänge . Die Donau ist eine Resultante der Seitenflüsse hier , die fast genauso breit sind wie sie selber , und der Berghänge , die sich als Stauwehr geben . Sie lassen erst in letzter Sekunde dem Fluss seinen vorübergehend verengten Lauf  .

Auf einem der Höhenzüge über der Stadt liegt die Wallfahrtskirche

Maria Hilf . Und Lila erzählt , sie habe auf einem Stadtplan die  dazugehörige sogenannte Wallfahrtsstiege entdeckt .

Von unten im Tal steigt der Blick  beeindruckt zur Höhe mit der Barockkirche . Am Ufer des Inn anfangend  zieht sich wie eine Röhre  eine überdachte Stiege über 400 Stufen hinauf zur Kirche.

 

Lila öffnet unten an der Uferstraße die klapprige Holztür im Talkloster: Nicht weiter spektakulär .

Vor  ihr liegt zunächst ein ebenerdiger Gang unter einem gekälkten Gewölbe . Dann aber knickt der Flur links ab und gibt  den Blick auf ein unendlich langes steiles Treppengebirge frei : Es ist schmal und von wenigen Fenstern nur schummrig beleuchtet .

Lila wirft den Kopf in den Nacken und sieht recht weit oben auf diesem Kletterstieg tatsächlich zwei oder drei andere Menschen stehen , still stehen ; mit dem Rücken zu ihr . Oder sind es  Statuen  ?

Erst nach etwa einer Minute steigen diese Erscheinungen jeweils eine Stufe weiter : Lila begreift , dass die Wallfahrtsstiege vom Wanderer 300 Gebete erwartet  . Sie rechnet schnell : Wenn jede Stiege eine halbe Minute Gebet erfordert ,  ist der Wallfahrer mehr als zwei Stunden unterwegs , Stück für Stück Gebet der Pforte oben am Gipfelende der Stiege entgegen  gerückt .

 

Der Gang ist kühl und still , die Wände halten allen Schall von aussen  entfernt . An den Wänden und in den kleinen Nischen hängt eine Vielzahl von Votivtafeln , Fotografien , Kruzifixen ; lungern Kerzen  : Eine Halde von Devotionalien .

Lila sieht die Rücken von den drei Betern vor ihr , auf  größerer Höhe ,

wie sie sich diszipliniert an den Stufentakt halten ; sie beten eben .

Witwe Knorr fragt sich , ob ihre Mithäftlinge auf dieser Zellentreppe um Vergebung bitten oder um sich innig zu erinnern an einen lieben Verstorbenen . In unregelmäßigen Abständen eine Kerze , sonst Schweigen , nur dann und wann ein Geräusch , wenn einer der Anwesenden ein Bein eine Stufe höher setzt und das andere nachzieht .

Irgendwoher kommt auch Feuchtigkeit , und im roten Schein einer Kerze sieht die Lache aus Regen-oder Kondenswasser aus wie eine Blutspur . Lila erschrickt .

 

Aber nichts als Schweigen , Ansteigen , denken ;  irgendwas für sich formulieren , was mit dem Tod , dem Toten , dem Leben , dem Restleben zu tun hat .

Vielleicht hilft `es ´(?) ja `dabei´(?) . Lila versuchts und setzt den ersten Schritt . Muss man den Kopf gesenkt halten auf den sündigen Boden , oder darf man den Blick heben , jenem fernen Ziel der Endpforte zu ? Lila denkt an Knorr , erinnert sich , was sie in den letzten Tagen natürlich schon oft getan hat ; eigentlich aber wollte sie anfangen , sich nicht zu erinnern , sich nicht erinnern zu müssen . Aber es ist ja auch alles doch ziemlich egal . Sie fühlt isch auf einmal wie von einer Extraportion Schlappheit oder Schwerkraft wieder nach hinten , nach unten gelastet ; vielleicht sollte sie mehr sitzen ?

Gestern war bei der Erinnerung doch schon mit ein bisschen Ungeduld dabei ? Trauer als wirklich letzte Antwort ? Aber bracchial will da immer auch so ein ellbogiges `Und jetzt? Und weiter ? Und jetzt! ´ ins Denken ; nein , in die Wahrnehmung .

Vielleicht fällt ihr noch eine andere Situation mit Knorr ein .

 

Sie betet , so weit sie das nicht vergessen hat , voller Skepsis , Vorbehalte, Umformungen , betet in Gleichungen voller Unbekannten ; um sie herum dazu ununterbrochene Stille , auch das Stehen auf der Stufe ist mühsam . Es ist steinern kalt .

Sie erkennt von den zwei Menschen vor ihr nichts – außer dass sie lange Mäntel anhaben ; zwei Männer . In etwa 20 Minuten wird einer von ihnen oben angekommen sein , die Tür öffnen , dann ist man im Himmel oder wenigstens im Freien , hoch über dem Tal  .

 

Lila setzt sich ein anspruchsvolles disziplinierendes Ziel . Sie sagt : `Noch zehn Stufen , dann gehe ich ganz normal weiter , im Besucherschritt  . Was gehen mich diese bairischen Urtumsbräuche an . Obwohl – ( irgendwie geht es sie schon an ) . Ich muss dann zwar die zwei Betenden vor mir irgendwie überholen , aber das werden sie  mir verzeihen , mit ihrer bis dahin erworbenen christlichen Sanftmut  .´

 

Lila hat  gerade diesen Beschluss gefasst , als Krach entsteht . Und oben auf der Treppe wird es hell .

Von der Endstation her springt etwas herunter . Anscheinend schnellt jemand in großen Schritten talwärts , das Krachen der zuschlagenden Tür hallt noch nach ; dieser Entgegenkommende , fast Fallende , hält sich also überhaupt nicht an den Stufenrhythmus !- talwärts , nimmt drei oder vier Stufen auf einmal , da fliegt jemand ! denkt Lila und starrt dem Herab-, auf sie Zukommenden entgegen .

 

`Er erinnert mich – das kann doch nicht sein – er sieht aus wie – .´

Und es ist Noah .

Der Junge erblickt sie , als er an ihr vorbeistürzen möchte , greift nach ihrer Hand und zieht sie aus ihrer Starre heraus , mit sich wieder der Talstation entgegen , zurück? denkt Lila , rennend , springend , jetzt auch  in Panik .

Sie denkt kurz an die zwei Beter ;  fragt sich , ob diese erschreckt hinter ihnen herstarren oder in Gebetsdisziplin weiter versenkt bleiben.

`Und führe mich nicht in Versuchung…´

Vielleicht ziehen sie Pistolen und schießen hinter ihnen her ? So filmgemäß die Umstände ! Aber Lila hat wirklich noch ein bisschen mehr Angst als eben bei dem ersten Blick auf die Treppenwand .

 

Als die Tür unten hinter ihnen zugeschlagen ist , schnaubt Noah – er ist es wirklich ! – durch und sagt :

„ Ich weiß nicht , ob sie hinter mir her sind . Kam da noch jemand die Treppe runter ?“

„ Nein.“

„ Ich …“ Noah atmet nach dem athletischen Hürdenlauf schwer ;„ habe mir Felix´ Wagen genommen – WASSSS? – und bin nach Passau gefahren . Habe heute nacht oben auf dem Parkplatz geschlafen . Irgendwann kam ein Polizeiwagen , einer von den Bullen steigt aus und guckt durch das Fenster . Ich stelle mich erst schlafend , er geht zu seinem Wagen zurück ; dann springe ich raus und renne in die erstbeste Türe hinein .“

Und schnaubt und paust .

„ Und was ist das hier ? Wo sind wir ? Und – wieso bist DU eigentlich hier ?“ fragt er dann .

Lila erklärt .

 

Sieht sich um , nein , es ist keine Polizei in Sicht . Obwohl – das wird sich vielleicht ändern , „ wenn die Daten von Eurem Auto oben verdächtig scheinen“  – und natürlich Noahs schneller Abgang  durch die Stiegenpforte . Noah kommt zu sich , schüttelt den Kopf , findet die Location so was von absurd ; meint : „ Wozu hat man eigentlich Rolltreppen erfunden , wenn man hier jetzt alles wieder zu Fuß ablaufen muss ?“

Er ist albern . Lila weiß nicht , dass Noah seit dem Abend auf der Autobahnbrücke in Panik lebt .Wer kennt sein Skateboard ? Wer hat ihn gesehen ? Hat Norah ihn angezeigt ? Und dass Lila von dem Stau erzählte und immer noch ein Pflaster am Kinn hat – wirft ihm ein Ziegelsteingefühl in den Magen .

 

6

Giacomo hat es bemerkt : Nicht erst heute auf dieser Bank im Früh-stückssaal .  Lilas Geruch ist angenehm ( sowieso ), anders …und aufregend . Etwas zwischen Essig und Asche , Rauch , Rinde und Schnee , Moos und , im Spiel , frisches Wasser und stehendes .

 

Giacomo zu Lila :

„ Ja , ich meine es ernst ! Mache den magischen Trick und versuche es , mir einen Augenblick zu glauben . Gerne , voll gerne würde ich auf Dich vor der Damentoilette im Luxuskaufhaus warten und so lange –oh wie lange , viel zu lange – auf Deine Sachen aufpassen , als Kleiderständer und Storehouse  – ehrlich , großes großes Heiratsschwindlerehrenwort !“

 

Lila hat kaum hingehört und sinnt stattdessen : „ Wenn Gott Seifenblasen zum Platzen bringt …..was heißt das für uns ?“

Giaco fragt : „Sagtest Du Seifenblasen ? Ah , Du denkst an `The

Nudge ´?

 

9

Aliya hat Lila und Noah in ihre Kabine eingeladen . Die ist auf Persisch gemacht : Kacheln und Fliesen mit orientalischer Floristik ; die Möbel in Tiefbraun vor gelber oder ocker-töniger Mauer . Lila sieht Möbel und Fensterläden wie Kästen gezimmert ; von der Decke werfen Laternen in braunem Metallflechtwerk ein Schattenfiligran .  Im Bad gibt es Mosaiken aus  dem Orient-Baumarkt ; die Wasserleitungen und – hähne blinken in in Belle-Epoque-vorsintflutlicher Umständlichleit oder Gewagtheit . Spiegel , Fensterrahmen , Schrankpaneele sind mit Silbernägeln oder Glass-Inlay in braunem Serail-Holz verziert . Schade , dass die bewohnerin das nicht sehen kann ; Malevitch setzt sie ins Bild . Dann geht man wieder an Deck .

 

Einige Kilometer schon liegt jetzt die Donau im Wolkentopf . Wir fahren durch ein enges Tal , dessen Seiten hoch bewaldet sind . Nur oben leuchtet etwas Sonne auf den Baumwipfeln. Als sich das Tal nach Osten  wendet , blendet die untergehende Sonne frontal auf die Brücke ; es ist , als ob jemand uns die Sicht weggeknipst hätte . Lichttaumel ; nichts zu sehen . Starbacks reagiert aber ganz ruhig , sein Radar-Guide  führt das Schiff sowieso auch ohne dass der Kapitän irgendwas tut .

 

„Was ist das für ein Brettspiel bei Euch am Oberdeck ?“ fragt Lila .

„ Ach das ,“ antwortet Giacomo . „ Das ist das `Erotische Mikado ´.“

Auf Lilas Augenbrauen hin erläutert er .

„ Es geht um den Abgleich von Empfindlichkeiten bei zwei Partnern . Du siehst , die beiden Partner , sagen wir Gegner, sind durch eine Leiter von Spielfeldern von einander getrennt . Auf dieser Leiter können sie einander näher kommen , oder , wenn einer der Spieler zurückweichen muss, sind sie der Vereinigung ein Stück entzogen .“

„ Und wie entscheiden sich Annäherung oder Entfernung ?“

„ Sie ziehen hier aus dem Kartenstapel eine Impulskarte . Es wird die

Provokation vorgelsenen : Zum Beispiel : Wie findest Du Sauerkraut ?

Wenn BEIDE jetzt sagen `bah ! ´, es also eine Übereinstimmung gibt , müssen sie einen Schritt aus der Ausgangsposition zurücktreten , sind

sich also  fremd durch Ähnlichkeit .“

„ Und wenn die Reaktion verschieden ist ?“ fragt Lila .

„ Wenn also auf den Impuls `Wie finden Sie süße kleine Babies ?´ er sagt : Süß ! sie sagt : Bloß nicht !  – dürfen sie auf einander zugehen .“

„ Also total verschiedene Charaktere liegen sich unweigerlich in den Armen ?“

„ Und was hat das mit Erotik zu tun ?“ fragt Noah .

„ Da kannst Du machen , was Du willst : Eines Tages wirst Du das unweigerlich verstehen ,“ sagt Giacomo gönnerhaft .

 

10

Starbacks erzählt weiter gerade aus seiner Jugend .

„ Damals in den siebziger Jahren . Fühle ich mich oft dran erinnert , wenn ich hier an Bord die Turteleien so sehe . Na ja , wir waren Studenten , hatten kein Geld und lebten eigentlich ganz cool knapp unterhalb der Zivilisations-Schwelle  . Am Bier abends in der Kneipe haben wir aber nie sparen wollen .

Und den Mädchen imponierte Geld sicher weniger als der schräge Auftritt der Jungs . Wobei ,`schräg ´ : Das kann nicht geheißen haben , dass man sooo individuell war . Irgendwie gab es Standards , an die sich alle  hielten .  Was in oder out war , cool oder überhaupt nicht angesagt : Der Instinktkompass funktionierte blendend . Idiotensicher . A propos .

Man kam abends in die Stammkneipe , er oder sie , ließ den Blick schweifen nach dem Motto : Mit wem habe ich denn noch nicht  ? Wer ist denn so da ? Was Neues ? Und irgendwie hatten wir Sex wie die Handwerker .“

Der Käptn freut sich an seiner gelungenen Formulierung  und erklärt  :

„ Ja , irgendwie so – solide , zupackend , termingerecht ,  kostengünstig .

Als käme wer rein und fragt : `Gibt’s hier was zu tun ? Wo ist der Sicherungskasten ? Der leckende Krümmer ? Dann wolln wir mal ´. Heute abend ausreichend  alkoholischen Auftrieb , dann die Kerzen an zuhause , ein bisschen Pink Floyd ; Neugierde auf die Farbe ihres Slips , die Festigkeit ihrer Titten ; große oder kleine Höfe um die Nippel ? Missionarsstellung , jedenfalls in 80% der Fälle .Morgens ein Kater , ein Kaffee in der WG-Küche , erstaunte Blicke seitens der bisher nicht Vorgestellten , Tschö wa , wir sehen uns , und das wars .  Ihr könnt es heute unmöglich weniger stilvoll machen .“

 

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Lila erinnert sich an die Taxifahrt mit Giaco neulich . Sie fuhr zum

Kölner Bahnhof , sehr zu seinem Leidwesen ; die `Cythera ´war schon unterwegs rheinmainaufwärts donauabwärts .

„ Und wenn man meinen schlechten Ruf einmal für Sekunden ausblendet ? Und meine angebliche Geilheit einfach mal als angemessenes  Interesse ansähe , für immerhin etwa 50 % der

Gattung homo sapiens  ?“

„ Ich wusste gar nicht , dass Mutter Theresa auch in engere Wahl

kommt .“

Giaco hat das irgendwie nicht gehört .

„ Ist Neugierde nicht eigentlich ein hygienischer Akt ? Meine Neugierde versetzt doch erst einmal alle meine Erkenntnisobjekte in einen Unschuldszustand . Ich meine , eigentlich kann man Neugierde mit

einer erlesenen Seife vergleichen .Mindestens mit dem Duft davon .“

 

„ Käptn Starbacks würde jetzt sagen : Vorsicht , Schmierseife !“

Und sie waren am Bahnhof , an der Schleuse für Ankunft und Abfahrt angekommen .

 

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Seid gut zu Euren Spiegeln ! Du hast gerade das Licht im Bad ange-macht ? ein greller Übergang . Erwarte keine aus-dem-Stand-Höchstleistung ; der Spiegel muss doch auch haushalten mit seinen Kräften , hat noch viel an Aufgabe vor sich ; betreibe keinen Raubbau .

 

Ach Lila  …..

 

„ Lila wollte erst wieder an Deck kommen , wenn diese Beton-scheußlichkeiten vorbei sind ,“ sagt Giacomo . Wir fahren ganz langsam in die Schleusenkammer von Linz hinein . Vielleicht denkt sie an ein Grab bei diesen steilen schroffen Wänden , bis zehn Meter über unsere Köpfe aufragend , duster .

„ Frau Pfarrer in Trauer , in Schwarz , mit öfters mal roten Augen ….

aber , das muss man ihr lassen , sie riecht gut .“

„ Ja…irgendwie nach Kaffeerösterei .“

 

 

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Nur Fluss ! Nur Blick ! flussab , zuerst jedenfalls , bevor man auch in optischem Rausch auch rundblickt , auf die Höhenzüge , die Wälder , Ufer . Ich merke , wie ich Anne so innig umarme , ihre Hand greife wie die letzten Tage nicht . Ich habe Auftrieb . Die Frage ist nicht , ob oder woher dieser Auftrieb kommt , sondern : Wohin es heute noch führt .

Und , herrlich zu merken , und ganz unerwartet , schon vergessen in den letzten Monaten , Anne reagiert auch . Folgt mit ihrem Lächeln . Spurgetreu sozusagen . Anfangs mehr , dann weniger zeitversetzt .

Ihr einfaches `Nichts dagegen´ elektrisiert mich .

 

Die `Cythera´ hat also sowohl Lila als auch Noah an Bord auf-

genommen . Und Lila hat eine schöne Kabine mit geschmackvollen Rattanmöbeln  belegt . Noah hat eine Koje im Schlafsaal der Crew .

Vor Betreten des Speisesaals fordert einen neuerdings ein Handwaschapparat zur Desinfizierung von Greif-, Klammer- und Streichelwerkzeugen auf . Giacomo entschuldigt sich , diese Dienstleistung sei ebenso verpflichtend wie die 10 minütige Sicherheitseinweisung .

 

Ein Leben zusammenpflastern , sagt sich Lila , die geradet zu spät zum Frühstück kommt ; das tritt sich alles fest , ist tragfähig . Wie spät ist es eigentlich ? Meine Uhr ist in Reparatur .

 

Das Schiff sitzt  fest . Vor der nächsten Schleuse  gibt es einen Stau ,  ausgerechnet jetzt auf dieser langweilig begradigten Fluss-strecke , wo der Schotterdamm wie ein Lineal da liegt . Am Ufer hat ein Schiffahrts-amt Abschnitte numeriert .Soweit die Füße tragen : Als ob von diesem Land nichts mehr zu erwarten sei . Wie ein Graph auf dem Screen sagt : Herzstillstand .

Die Wasseroberfläche ist sanftglatt , als sei man nicht mehr auf einem Fluss, sondern auf einem Weiher . Aber es gibt dann doch wieder ein paar Bauernhäuser am Hang ; wie in Österreich so oft  ist etwas braunes Holz in das Gemäuer integriert , manche Wand sonnt sich freundlich in K.u.K- gelber Pastellfarbe . Dort ein Heiligenhäuschen .

Da drüben , schau mal , eigentlich ganz nahe , man kann die Schrift gut lesen , ein Schild am Haus : Ein Taxidermist  .

 

Man gleitet weiter , von Schattenzone zu Sonnenabschnitt , je nach Enge des Flusses und Höhe der begleitenden Berge ; an Äckern vorbei ; dort ein Kind mit einem Ball neben einer Wäschespinne in einem Bauerngarten . Lila kann nicht erkennen , ob ; geht aber davon aus , dass : das Kind einen Daumen im Mund hat .

Hier kommt man dem Ufer noch näher ; da gibt es Maulwurfshügel auf dem  Rasen vor dem Haus . Forstarbeiter , dann ein Steinbruch .

Ein Frachtschiff kommt stromauf entgegen , `Dunav ´aus Constanta , Rumänien .

 

Lila freut sich , dass Sehen so viel Zeit einnehmen kann und so wenig anderes sich eindrängeln lässt . Alles ebnet sich .Tarnt sich als absehbar. Das beste Versteck liegt in der Offenbarung . Sehen als

Filter . Filter als Schutz  . Schutz als Vergessen . Vergessen als

Neugier . Quatsch .

 

12

Aprilwetter . Eine durchlöcherte Wolkendecke wird vom Wind unsanft über das Land gestoßen  . Durch die Perforation fällt  eine schon wärmende Sonne auf mal diesen , mal jenen Winkel vom Deck .

Zufall ? gekonnt ? : Jedenfalls wie geprobt und effizient ! Der

nächste Sonnenkleckser , den ich wahrnehme , fällt genau auf eine Frau mit nackten Schultern und Armen ; ihre Nachbarin bekommt gemeinerweise nichts ab . Als habe die Sonne einen Entkleidungsakt

veranstaltet : Giacomo ist einen Augenblick benommen .

 

Malevitch kommt auf die Brücke gehastet und hält uns sein I-Phone entgegen .

„ Hier ! Nachrichten aus der Heimat !“

Es muss  wW (was Wichtiges ) sein . Wir quetschen uns um das Fensterchen . Da gibt es ein Photo und eine Überschrift aus der Kölner Lokalpresse. Ich lese zunächst die Überschrift :

 

`The Nudge : Jetzt wird er aktiv!´

Lila erschrickt . Ich lese weiter und laut vor :

`Bisher störten nur die Aufdrucke an Häuserwänden und auf Bürgersteigen . Gestern schien der Graffitti-Künstler ( Künstler in Anführungszeichen ) auch andere , handgreiflichere Botschaften verkünden zu wollen : Der Besitzer dieses Mareati-Sportwagens fand sein Gefährt  mit durchstochenen Reifen vor der Luxus-Disco in Ehrenfeld .“

Das Bild zeigt einen schick-schlampigen Jüngling mit schwarzer Haartolle , anklagend auf einen Reifen deutend ; neben ihm eine Blondine , die mainstreamig ( aber nur dort )  als superattraktiv  gelten würde . Der Text geht weiter :

„ Ein Flugblatt mit dem stadtweit bekannten Nudge-Aufdruck sagt , wer wie der Besitzer des Mareati durch seinen Fahrstil Aufmerksamkeit für

 

`die ganz große Verachtung´( sic!)

 

zum Ausdruck bringen wollte , müsse mit  Reaktion rechnen .“

„ Ein Bekennerschreiben dieses Inhalts wurde unterzeichnet :

Ihr Decker von Correctur-Bedarf ( sic!) .“

Lila zieht sich zurück und wird später i m Zwiegespräch mit

Botswana gesehen . Lila weint .

Botswana sagt was von Trittbrettfahrer .

 

 

Als ob ein Wille des Wassers dahintersteckte , wie es die Fähre von Spitz , in der Wachau ,  abtreibt . Die Fähre trägt gerade keine Autos auf ihrem Fahrdeck und sieht aus wie ein Miniflugzeugträger . Der Fluss…und ein Betrachter ; wie wer gegen Schlaf ankämpft wiedernachgibtwiederhochschreckt . Die Treibkraft der Donau erweckt Schlafbedürfnis . Der Fluss , ruhig hergebreitet , hat eine ganze Himmelsrichtung für sich ; als wolle er sagen : Ich habe alles gesagt – und lehnt sich zurück .

Das Rätselhafte an der Fähre , drüber für den Augenblick festgemacht :

Warum fährt man von hier nach da und umgekehrt , Hauptsache über den Fluss ? Was

 

 

DIE DA DRÜBEN

 

sehen ist komplementär zu mir

 

HIER .

 

Ich werde ergänzt . Mir kommt wer zu Hilfe . Wir arbeiten an Deiner Ganzheit . Am jenseitigen Ufer festgemachte Boote , abfahrtsbereit ,

sind Ganzheitsangebote – vor denen man sich hüten muss . Das ist die falsche Art von Ganzheit . Hier sein und sich rübersehnen – das ist die schmerzhaft unvollkommene bestmögliche Ganzheit . Quatsch , sagt Lila

da wieder .

„ Wehweh? Sie meinen : wW ?“ sagt Starbacks zu Malevitch . „ Ich weiß schon : Was Wichtiges . Klingt  natürlich wie Wehwehchen ,“ sagt der Philosoph und geht wieder in sein rundes Brückenhäuschen .

 

13

Er hat sie sozusagen herausgelesen aus ihrer Gruppe. Sie ihrerseits hat sich endlich dazu durchgerungen , seine Blicke von Zeit zu Zeit zu registrieren . Bei einem ausnahmsweise doch gelungenen Witz von Starbacks lachen beide , und , welch belastbarer  Nachweis von untergründiger Kommunikation ! sie lachen beide und suchen den Blick des Anderen beim Lachen .

Dann verlieren sie sich aus den Augen , und als er irgendwann zur Toilette geht , kommt sie ihm von da entgegen .

Ach , der Witz von Starbacks ? Den habe ich vergessen .

 

Dann wieder eine Schleuse . Nasser Beton , unten schwappt milchig grünes Brackwasser ; mehrfach tagsüber durchgerührt und übereinandergekippt . Starbacks hat den Kommandowagen nach links auf die Brücke geschoben .Von dort  muss er verfolgen , wie weit das Schiff sich im Schleusenbecken vortasten kann , wie nahe es den Betonsteilwänden  kommt  ; das Manöver bedarf der Zentimeterkontrolle per Steuerknüppel . Als wäre die `Cythera´ ein Schienenfahrzeug : Was für ein unromantischer Gedanke ! Das Schiff klettert schließlich

 

langsam

langsam

langsam die Leiter herab .

 

Wild! dieses Österreich in den Steinbrüchen , im Windbruch . Gezähmtes Österreich bei den Lipizzanern in der Schleuse ; der Beton verschafft  einem Führerbunker-Assoziationen , denkt Lila . Schleusen machen aus dem Fluss eine Veranstaltung .

Dünn besiedelt ist diese Strecke zwischen Passau und Linz ; ein Land , das anscheinend keiner so gewollt hat oder brauchen kann ; nahe-rückende Schwarzwaldhänge , alle halben Kilometer ein verlassenes Haus . Ein fliegender Schwan dehnt den Hals lang nach vorne , landet dann .

 

Vor Linz wird die Donau eingezwängt zwischen Schiefer und Granit : Wie ein ungern gesehener Gast , den man genau unter Kontrolle halten möchte . Dann geben die Berge fürs erste nach und schwenken zurück .

Wenn die `Cythera´ eine Biegung umfährt , scheint  der zurückliegend abgebogene Wasserstreifen einiges breiter , wie eine Bucht , die sich ins Meer öffnen könnte ; das Achterdeck wird auf der Wasserfläche großzügig nach links verschoben , fast kommt das Schiff ( oder die Landschaft ? oder die Besatzung ?) ins Schleudern . Die Leute , die beim Freiluftschach auf dem Oberdeck zuschauen , haben gerade keinen Empfang . Berge und Fluss sind im Patt . Pattagonien .

 

Jetzt ist die `Cythera´ dann doch im Flachland . Links und rechts flanieren die Uferstreifen mit dichtem Gehölz , dann und wann huschen Schatten hinten an den höher gelegenen Bäumen vorbei : Dort verläuft eine Autobahn mal eben wie selbstverständlich in Flussnähe . Eine junge Frau führt drei Hunde über den Uferdamm aus .

 

„ Zugabe , Malevitch ! Zugabe“ , tönt es von allen Seiten .

„ Oh Leute , mein Repertoire ist aufgebraucht . Ich bin müde .“

„ Encore ! Encore !“ klatscht das Publikum .

Malevitch verdreht die Augen , sein Blick fällt auf eine Vase , aus der er

nach etwas Zögern eine Weinranke  nimmt . Diese windet er sich um die Stirn , verdreht die Augen abermals , diesmal um ein dekadent römisches Delirium anzudeuten .

„ Also , als allerletztes ! etwas Rhapsodisches ? ohne Reime ? Nicht Harfe noch Leier ?“

Uns ist vieles recht , und Malevitch erlaubt sich einen Scherz über einen Vielredner , der SOOO nie bei der Dame ankommen wird , die er mit seinen Blicken fixiert . Vielleicht weiß Herr Niemöller ja gar nicht , was er da alles sagt ? Wenn  SIE einen Klagegesang anstimmen wollte , könnte es sich so anhören :

 

 

Warum je wieder sprechen ?

 

Er gibt mir das Gefühl

alles wirklich alles alles alles sei gesagt

in Sachen Artikulation

habe er alles gewagt

 

das Schweigen !

als er zur Toilette geht

dieses Schweigen !

wie Beton im Raume steht

 

ER stellt sich die Frage nicht

aber im Falle eines Falles

würde er glatt sagen :

es gibt sowieso nichts Banales .

 

 

14

Grein : Halb Dorf ( die eine ) , halb Stadt ( die andere Flussseite ). Die getreue Bugwelle ist wie ein Zügel des getreuen Zugpferdes ; mal ein silberner Buckelwal als Begleiter , jetzt eine Art Bügelfalte  , die der Bug legt , zu silbern getönten Abendwolken .

Schotter-Ufer wieder : Hier ist  System . Die Schotterufer regeln alles : Überall gleich hoch entfernt von der Wasserlinie , wie eine Schneide . Die Trennung ist so perfekt gewollt .

Lila gönnt missvergnügt dem Land dahinter eine Überschwemmung . Dörfer auf den privilegierten Höhen spielen Wächter ; oft sind sie erst zu sehen , wenn die `Cythera´ an ihnen vorbeigezogen ist  . Vorher waren die Häusergruppen über den Hängen , hinter den Forsten nicht  wahrnehmbar . Kahle hohe Bäume schauen drein mit  schwarzen Knäueln und Astperlen in den Wipfeln :  Als seien sie Signalballons mit Botschaft . Die Zwiebeltürme der Kirchen geben mit ihrem Grünspan das einzige Grün in ein Bild , das ansonsten eines von Märzschwärze  ist .

 

Knutschen mit der Donau , die wir konsumieren und gebraucht hinter uns lassen . Hinterteile streicheln ist nirgends so natürlich wie auf dem (denkt Giaco ! ) Fluss ! Man sehe auch die Kiesel und andere Rundungen , für die ein Belagerungszustand nichts  Bedrohliches hat .

 

Gesackte Rentner rotieren im Büfett-Kreislauf ( das sind die anderen Gäste zu teurem Sondertarif, die Giacomo Neuhaus diesmal auch mitgenommen hat ) ; bei der Thekenauswahl überfordert , aber gut-

mütig .

 

Der Fluss ist allgemeines Streichelsignal . Streichelkalt . Streicheln ist das angemessenste Verhalten (denkt Giaco) . Die Welt hat eine weiche Oberfläche wie ein Nerzmantel .Wo ist mein Champagnerglas ,

fragt Aliya . Verliebte haben ein einziges großes verwirrtes `Ja ´ im Gesicht , wenn sie sich ansehen , woran die Zahnärzte einiges Verdienst

haben .

 

An den Ufern werden Zahlen abgezählt mit einem bestimmt wichtigen Code : 1, 2, 3,4, 5 hundert Meter bis zur Schleuse ? Nein , das kommt nicht hin . Auf dem Rhein gibt es zuverlässige Angaben über Rheinkilometer : Entfernung von der Quelle . Wieviele Tropfen haben es tatsächlich bis hierhin geschafft ?

 

 

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Barbaras Gast  denkt : Überraschend manchmal , welche Frauen einen Rock tragen : Oft sind es die mit den weniger auffallenden Gesichtern , aber der Rest stimmt . Manchmal scheinen sie es auf eine besondere Art der Balance anzulegen : Je sündiger die Beine ( unter einem vielleicht eher noch konventionellen , bewusst spießigen Rock ) , desto

harmloser , fast bäurisch landluftig das Gesicht . In der Körpermitte dann der Ausgangs-( oder : Null?) punkt . Dieser Dampfer ist ein heiliger Ort des Vorspiels .

Barbara fühlt sich wohl , in der Gegenwart ihres Gastes , so nennt sie

ihn . Das zweite Mal auf der `Cythera´ , und auch schon die erste Begegnung war schön .

Herr Quettlinger hat sich langsam der Länge nach neben sie gelegt ,

keine Eile , vielleicht  will man noch zusammen ein Bild wahrnehmen , das nichts mit Erotik zu tun hat , ein Blick aus dem Fenster , an die Decke , auf die gedimmte Lampe .

Quettlinger ? Ganz recht , das ist  noch so ein Erfinder . Herr Quettlinger hat  ein Verhütungsmittel  der besonderen Art erfunden : Wo sich bisher die Eltern ihrer im Regelfall heterosexuellen Sprößlinge  Gedanken machten : „ Und wie ist es mit der Verhütung ?!!!“ hat Herr Quettlinger weit in die Zukunft gedacht bei Problemen , die mit  sexueller Orientierung  zu tun haben . Szenario : Familie Müller hat einen Sohn , der gerade volljährig geworden ist und erstens seinen Eltern erklärt ( was sie schon ahnten ) , er sei homosexuell ; zweitens , er habe da den Herbert kennengelernt , zehn Jahre älter als er , aber sein ein-und-alles-Lebenspartner für die Zukunft . Drittens : Sie wollten demnächst  Kinder adoptieren ( wenn sie schon keine auf normalem biologischen Weg erzeugen können ) .

Hier kommt jetzt Herr Quettlinger ins Spiel : Mit der von ihm erfundenen Pille kann man die Versuchung , sich durch Adoption in die nächste Generation zu verlängern , nicht ein für alle mal , aber auf Zeit  , bekämpfen .

„ Ein Adopto-Minus am Morgen – und kein Mensch denkt mehr auch nur an die Möglichkeit einer gefährlichen , nicht wieder rückgängig zu machenden Adoption .“

Herr Quettlinger ist in komfortabler Position : Er kann sich aussuchen , welcher Pharmakonzern mit seinem Patent in die Massenproduktion gehen wird . Er lässt es sich derweil gut gehen und bucht zwei weitere Flussreisen auf der `Cythera´.

Sie merkt , er hat schon die ganze Zeit seine Hand auf ihrem Schenkel , jetzt auf ihrem Haarbüschel , vulgo Möse . Er legt seinen Handballen , wo er in den Daumen übergeht , genau auf ihre Schamlippen . Die fühlen sich feucht an , sind feucht und warm , er bewegt Handrücken und Handteller und plaziert eine sanfte Faust zwischen ihren Beinen .

 

 

17

Giacomo sagt Lila , nein , er habe noch nicht  Buch geführt darüber :

Wie oft er eine Frau begehrt habe . Er schiebt vorsichtig hinterher : Vielleicht sei ` begehren ´ sowieso einfach in aller Unschuld nur zu verstehen als `schön finden ´.

„ Und welche Nummer bin ich ?“  fragt Lila .

Sie ist  eine Spur beschwipst ,  jedenfalls mutiger als sonst . Giaco antwortet nicht direkt und sagt : „ Aber was heißt denn schon begehren ? Es heißt : Komm , machen wir einen Tanz . Sei bereit zum Ausleben einer Eingebung . Geben wir unserem Treffen , oder dem Treffen unserer Augen , eine Interpretation . Kreativworkshop. In unserem

( oder im Falle des Totalscheiterns : Nur meinem ) Augenzwinkern spielen wir : Wir sehen was , was andere nicht sehen . Wie kann man so dumm sein wie die anderen ?“

Lila  fragt : „ Wie spät ist es ?“

Und :

„ Bin ich wirklich erst die Nummer 17 heute ?“ fragt sie .

Er sagt : „ Habe ich die Zahl erwähnt ?“

 

Giacomo steigt dann mit Starbacks die Wendeltreppe zum Wohndeck herab . Der Käptn hat ihn den ganzen Abend beobachtet , weiß Giaco;

und

 

WENN

 

er jetzt unten in der Lounge vor allen Dingen und zuallererst

wie in einem Sturz in den großen Spiegel schaut , wonach er tatsächlich giert ,

 

DANN

 

weiß Starbacks , warum . Giaco ist entlarvt . Er will wissen , wie sie ihn gesehen hat .

 

Giacomo weiß es nicht so genau : Weil er nicht  für wahr hält , dass Lila gerade mit IHM gesprochen hat ? Wie hat sie ihn gesehen ? Habe ich mich verändert ? sieht man mir an , was passiert ist ? fragt sich

Giaco. Und er studiert sich im Spiegel . Er hofft , er habe eben , im Gespräch mit Lila , genau diesen und nicht einen anderen Gesichts-ausdruck gehabt .

 

Lila hat sich in der Nische einsam gefühlt . Die Musik war mindestens drei Spuren zu laut . Der Urheber der Kreuzfahrt setzte sich neben sie , Giacomo wollte wieder an die Bar und die Lautstärke drosseln lassen ; Lila hielt ihn zurück . Die Unterhaltung war ganz einfach , weil sie nur wenige Worte sagen konnten . Musikkrach umgab die wenigen Sätze mit einer Knautschzone , was kann schon schiefgehen ; sie sahen sich intensiv an – was sie schon der Lautstärke halber tun mussten . `read my lips ´. Und die Worte waren noch einmal unwichtiger geworden .

 

Giacomo sieht tatsächlich unten in den Spiegel . Und Starbacks weiß , dass sein Chef  `fallen in love ´, `in Liebe versenkt ´ ist  , das Kind ist in den Brunnen gefallen .Und in den Spiegel guckt , nicht um zu sehen , was man ihm ansieht ; eher , um herauszufinden , ob er noch derselbe ist ; ob er wirklich der ist , der .

 

Was könnte ich Lila bieten ? Wohin könnten wir fliehen ? Und wieso fliehen ?  Dass wir uns voneinander oben verabschiedet haben , belässt alles zwischen uns unbeschädigt : Frischgefallener Schnee , den vorerst niemand betreten hat ; ein Mikado-Haufen , dessen Stabilität nicht auf die Probe gestellt wurde ;   Fragiles /Filigranes , das sich eine Nacht  beruhigen und stabilisieren kann . Noch ist nichts verloren . Aber alles ist zu verlieren. Das Entscheidende kann ich gewinnen , denkt Giaco.

 

Ich habe diese Liebe also nicht verdient , irgendwie irgendwegen ;

ich kann ihr nichts bieten . Eine Art Mutterliebe , würde Starbacks spotten ; Liebe für die man nichts getan hat , die man sich nicht

erschuften musste .

 

Und SIE ? Was geht in ihr vor ?

Lila sagte beim Tango-Warm-up: „ Mein Tanzpartner hat mich versetzt !“

Ist das eine bittere Anspielung auf Knorr ? Und sie sagt :

„ Eine liebe Gruppe von Menschen !“  und meint damit die ` Cythera´- Crew wohl im Allgemeinen .

Giacomo ist plötzlich wild sicher , dass er doch mehr als nur mitgemeint ist . Ihre Liebe hat eine Arena .

Und Lila hat einen Flaum von Damenbart ; ihr Gesicht ist immer noch ein bisschen härter , verhärmter ; und ihre Arme und Beine , wenn sie aufsteht , um sich einen Überblick über die Tanzfläche zu verschaffen , sind ein bisschen schlacksig , als mache sie Lockerungsübungen .

 

 

18

Für Lila dauert die Beerdigung ihres Mannes immer noch an .

„ Eine peinliche Veranstaltung . Alle in Düster , natürlich , alle wie

ertappt , wie vorher schon und jetzt weiter mit einer Lüge unterwegs ,

hämisch , ertappt : Das Leben ist nicht wahr . Der Tod ist wahr .

Oder : Ihr habt es die ganze Zeit gewusst und nicht gesagt .

Oder : Wir Überlebenden , wir sind einfach dumm, strohdumm : Wir haben keine Antwort auf die Fragen , warum wer gestorben ist  , wieso man das nicht ändern kann , weshalb man nicht ewig lebt , wie man leben soll ; wir sind einfach dumm , haben keine Antwort auf diese Fragen , und der Lehrer ist ungeduldig , ungehalten , wir schämen uns , `nun mach schon mit Deiner Antwort ´. Vielleicht ist ja der Nachbar , die Nachbarin in der ersten Reihe der Leidtragenden  schlauer ? Aber auch da nur abwesender Blick undoder verheulte Augen . Wir Überlebende sind irgendwie Schweine . Peinliches vom Pfarrer . Und alle unsere diversifizierte lifestylegetüftelte Klugheit reicht nicht für eine Antwort : Ach , Ihr seid auch da , hat man Euch auch gefangen ? Ganz schön miese Situation , dies .

 

Wir haben keine Antwort auf dieses Wegsein ; schön mit Photo , Kranz, Gesangsverein , Eiche poliert , Bach Werkeverzeichnis , ungeheizte Kirche  . Was hätte man , solange es nicht zu spät war , sagen wollen , müssen , und hat nicht .“

 

„ Als meine Mutter starb ,“ sagt Lila weiter , „ war ich nur böse :

Auf SIE !  dass sie mir ihre Nase  vermacht hat : So eine beleidigt- indignierte Nase,  selbstmitleidig, diese `Du wirst doch nicht ….!´ Haltung oder so ein Ausdruck . Immer wenn ich in den Spiegel sehe , sehe ich einen müden alten sauertöpfischen Zinken .“

 

Giacomo bestellt einen weiteren Schnaps und hat ihre Hand noch nicht losgelassen . Sieht über den Fluss hinweg , der Hochwasser hat . Die Donau ist fast doppelt so breit wie sonst : Dunen sind überspült ; wo vorgestern noch ein Steindamm einen Jachthafen  abtrennte , ist jetzt einheitlich Wasserfläche . Die Boote haben sich gehorsam auf den neuen Pegel gebracht . Wellen ziehen wild flussab , wie in Krusten oder Ackerfurchen , wie Maulwurfshügel die es eilig haben , ungeduldig unwirsch weiter wollen ; jede Welle wischt ihre Vorgängerin beiseite , deren Beitrag hemdsärmelig erledigend  .

Die `River Queen ´ zieht dagegen wie ein Tranquillizer den Fluss hinauf , angemeldet ebenfalls in La Valetta , kommend von Budapest .

Gerade und geduldig ; jetzt liegt sie fahrend unter einer Sonne , die durch ein Wolkenloch gefallen ist ; als räkelte sie sich in einem Beifall .

 

Die Brücken-Enge von Rautach. Als ob die Wellen dort durch ein Tor herausgejagt werden . Alles Wasser kommt hier vorbei , von Trivial- irgendwo –Hausen , bei wem zuhause  am Sportplatz gesammelt in der Rinne ; irgendwie ist man anscheinend persönlich gemeint vom Wassergewurle . Ein Reiher hat Zeit auf einem Hochwasseranzeiger .

 

19

Lila findet ihre Kabine sehr schön . Auf einem Schiff schlafen , einschlafen , dann auch aufwachen : muss  noch besser sein als

eine Nacht auf dem Wasserbett . Ab hier kann kein Wort gegen Dich verwendet werden . Es schaukelt nicht , vibriert nur dann und wann , und man hört ein Glucksen .

 

Alles bisher

war nicht wahr .

 

Lila lacht wieder . Ein geklinkertes Lachen: überlappend , wie ihrem Gedächtnis helfend .

Es hätte der Himmel sein können , aber ein verhinderter Himmel ist vermutlich eine winzig-klitze-kleine …Hölle . Der Tisch wackelt . Der einzig freie Tisch im Bordrestaurant , an dem Giacomo und Lila Platz nehmen konnten , wackelt . Ich habe meinen Bruder öfters erlebt , wie er völlig unfähig war , sich mit etwas andrem zu beschäftigen , etwas anderes auch nur wahrzunehmen , wenn ein Tisch wackelt , Gläser vibrieren , zittern , tanzen , hallen . Das widerspricht zwar seiner erwähnten Südstaaten-Nonchalance , zeigt aber , wie chronisch dünnhäutig Eleganz ist .

Bei einer wirklich wichtigen Geschäftsangelegenheit ,  in der ich mit ihm zu verhandeln hatte , in einer terminknappen Zeit , als ich froh war , ihn endlich sprechen zu können , wackelte  der Tisch , an dem ich Unterlagen ausbreiten musste , und zwei Gläser standen auch noch auf der Marmorfläche . Von 15 Minuten , die wir zu Sichtung und Klärung

der geschäftlichen Angelegenheit im Terminkalender freigekämpft

hatten , war mein Bruder die meiste Zeit damit beschäftigt , Bierdeckel mal hier mal da unter den Tischbeinen einzuschieben , die Kellner anzubellen , sie möchten endlich auch mal was tun ; als hätte ihm ein Übeltäter Juckpulver in die Poren gerieben , zappelte er rum , versuchte sich zu konzentrieren , sprang dann doch wieder auf , den Raum wutschnaubend absuchend , ob sonst wo ein Tisch frei werden könnte , schob den Tisch in irgendeine verrückte Schrägstellung , maulte den Kellner an , er solle sofort neue Bierdeckel bringen ; zum Schluss sagte er dann betreffs geschäftlicher Angelegenheit: „ Ach mach doch was Du willst !“ , was ich dann tat und was auch nicht zu seinem Nachteil war . Aber ich vermute dieser Szene wird einmal eine Mitschuld gegeben , sollte er vorzeitig ins nasse Grab gesenkt werden .

Und jetzt ist Giacomo Neuhaus tatsächlich benebelt von Lila , froh mit ihr hier zu sitzen – an diesem wackelnden Tisch .

 

20

„ Heute , heute und heute ,“ sagte ich beim Morgenkaffee zu Noah.

„ Überbewertet oder nicht , das ist hier die Frage . Gegenwart , noch mehr Gegenwart , weitere Gegenwart : Scharfrichterin über das , was wir gestern gemacht haben , mit der Schampeitsche ; hätte ich doch nur nicht ….ODER ihre Schwester , die Sucht  mit der Sehnsuchtsdroge , Nostalgie ; damals war doch alles besser oder zumindest noch nicht verpfuscht . Nostalgie ist das Flehen des Schauspielers nach der zweiten Chance …und dann liegen sich die beiden Schwestern wieder wohlig in den Armen . Aber Paris gibt den Apfel der flippigen kleinen Stief-Schwester Gegenwart , da gibts kein Vertun .“

Noahs (denkbare ) Tagebuchnotiz : Will auch mal nach Paris . Nahm mir vor für heute : Den ganzen Tag dankbar zu sein . Wie ist man dankbar ?

 

 

IX Budapest

 

1

„ Aufwachen , und neben Dir schläft die Frau , die das erste Mal mit Dir ein Bett geteilt hat . Du wachst auf , und sie schläft noch .

Das heißt  erst einmal , dass sie Dir nicht misstraut , nicht verschreckt wach wird . Sie schläft weiter , ihr Atem ist ruhig und von sicherem Auftreten sozusagen , oder er erinnert an einen freundlichen stetigen Wellenanschlag am Strand . Die Welt pendelt eine freundliche

Botschaft .

Morgendliche Dankbarkeit dann , als ich an Deck trete . Ja , auch

heute , am dritten Tag der Fahrt noch .“

Denkt sich Gonzalez , der Reisebüromanager .

Der Fluss liegt im Sonnensilber ; nur die Aufbauten der Schiffe sind in ihrem Weiß noch markanter . Alle Frachtschiffe haben einen Garagenstellplatz hinter dem Schornstein ; das muss ein Genuss für so ein Auto sein , mal nicht selbst fahren zu müssen , „ mein Skipper liebt mich !“

Die Baumreihen am Flussufer meditieren  : Eine Grenzerfahrung für sie , hier zu stehen und nicht  im Wald . Die Äste in schwarz verknoteter Kahlheit  bilden einen besonderen Dschungel . Jetzt im Vorfrühling wuchern schon Moose und Flechten üppig und befreit und erinnern an einen aufgepflügten Acker .

 

Timing : Fluch und Seligkeit , denkt Barbaras Gast , als er dann bei einem Versuch der Selbstoptimierung scheitert , nämlich die Tür nicht mit dem Ellenbogen aufhalten kann , während er die Koffer in die Kabine nebenan ( um-buchungsbedingt ) wuchten möchte .

„ Es ist sicherlich Gnade , wenn der Herr mich leitet , und ich alles sekundengenau hinkriege ; böses Urteil , wenn das scheitert und ich ein Manöver wiederholen muss . Timing , gutes Timing , das Gegenteil von Wiederholung , erzwungener . Schlamperei . Ich will die glücklich funktionierende Maschine aus meinem Leben machen . Ist doch mein Recht , oder ?“

 

2

Land in Sicht ! haha , sagen wir und klopfen Starbacks auf die Schulter.

Es ist noch nicht ganz Frühling da drüben , aber das Abwerfen des alten Laubmülls ist abgeschlossen . Ab jetzt kann neu gegrünt werden . Ruppige Bürsten von nackten Bäumen , die ledigen Äste flirren in der Sonne . Sonnenspiegelung blinkt auch da  hinten in der Flussbiegung .

Wenige Schiffe verkehren auf der Donau , verglichen mit dem Rhein , zumal bei Emmerich , findet Lila . Na ja , gerade rettet  `Stella Maris ´ aus Delfzijl in Holland noch einmal die Ehre der christlichen Binnenschifffahrt .

Wie Zuckerwerk erhebt sich dann der Kirchturm von Dürnstein . Über der Donau , neben dem Bugwellenrauschen , tönt ein anderer Laut , eine zarte Glocke von Zwitschern . Ob die Vögel von der einen zur anderen Flussseite kommunizieren ? Die Tschirplaute sind so zart , und manchmal vom Autogeräusch auf einer Uferstraße übertönt , dass man als Urheber ganz kleine Vögel , vielleicht Meisen annimmt , die wahrscheinlich gar nicht den Strom überqueren können . Eine Sehnsuchtsmelodie vielleicht !

Dann ein Kiesstrand . Man hat jetzt solange keine Menschen mehr am Ufer gesehen , so  dass auch Krokodile hier nicht überraschen würden .

Lila freut sich abermals , wie war das noch mal ? wie viel Zeit Sehen einnehmen kann und dabei so wenig anderes nötig macht .

Ein Hagelschauer schiebt sich vor das Bild . Der Fluss zeigt produktive Trägheit , die Wassermaserung wie eine Zeitungsseite (quality press )

bei nachdenklichem Umblättern . `Jumbo ´ , ein bulgarischer Landmaschinentransporter , zieht auch noch flussauf.

Lila reist hier zum ersten Mal , ja , alles ist eine Überraschung ; und niemand drängt ihr seine Gesellschaft auf . Erst recht ? oder auch ? wieso eigentlich nicht ? Giacomo Neuhaus nicht .

 

Gleich kommt die nächste Schleuse und wir versinken wieder gemächlich in einem Betonsarkophag . Oben dirigiert ein Control-Tower über der Anlage . Kein Mensch ist zu sehen in dieser Flussmaschinerie . Ein Hauch von gelb-grünem Moos- und Flechtenbesatz auf der Wand und auf den Schleusenquadern , und dort vorne eine Gruppe Pinguine ? Nein , es sind natürlich Gänse  . Wir sind unterhalb von Schloss Schwarzenberg  . Auf Deck haben wir wieder Empfang . Jetzt winkt  eine Müllverbrennungsanlage , über der Qualm-und Staubfontäen stehen . Das Schiff ist  ausnahmsweise schnell genug , einen Radfahrer zu überholen , und die Bugwelle produziert das Geräusch von Papier-

reißen , angenehmem . Was wird da geschreddert ? Tagebücher ?

 

Gelegentlich wird die Sonne fühlbarer und streut gegen den Widerstand

von allgemeinem Grau Lametta auf die Wellen . `Gasthaus Silbersee ´ heißt jenes Anwesen dort unter dem Wiesenhang ; wie passend . Bäume und Wurzelwerk strecken sich aus bis zur Wassergrenze ; das sieht aus wie Mangrovenstrand ,  Sandstrand mit Strandgut . Ein Flussbagger rührt gut um .

Grüne Signaltonnen . Uferstraßen beschatten den Strom wie Detektive . „ Oder sie sind eine Art Hosenträger “ , spottet Starbacks . Der Kapitän ist kaum gefordert vom wenigen Schiffsverkehr  zwischen Linz und

Wien , bei den Flussdurchbrüchen durch Bergketten . So muss es damals auch auf dem Mississippi gewesen sein , als die Pioniere noch keine Straßen gelegt hatten und der Fluss die einzige Verkehrsachse war durch menschenleere Wildnis  .

 

Die `Cythera´ zieht an Marbach vorbei – Immerhin ! Das ist ja nicht

Nichts . Aber der Erfüllungsmoment ist sicherlich bei den Marbachern größer : Ein Schiff !  Ein Schiff vorbei ziehen sehen produziert statistisch abgesichert beim Normalbürger Fernweh . Alle diese Orte , deren  Sehnsucht man kitzelt , knebelt und befestigt , indem man einfach mit dem Schiff vorbeifährt .

 

Irgendwie steht die Zeit still . Lila atmet durch und fühlt sich befreit zu ausschließlichem Schauen . Was sollte sie reflektieren oder ent-scheiden ? Eine Reihe niedriger Holzhäuser , wohl Wochenenddomizile von Großstädtern . Ein Kraftwerk mit roter Kringel-Bauchbinde am Turm . Buhnen , vor denen sich das Wasser Zeit lässt . Noch schauen weite Hügel- und Bergketten der Betrachterin hinterher , dann deutet sich immer klarer flussabwärts die pannonische Ebene , noch nicht ganz die Skyline der Hochhäuser von Wien an .

 

4

Zwei Decks tiefer .

Felix streichelt Felicitas Po , halbwegs so harmlos als täte es der Fluss. Der Fluss als Impotenztherapie : Hier zählt nur die Sanftheit ! und die Donau eine Artikulationshilfe . Ein Bett auf einem Fluss , ich auf dem Bett . Liegen ! als Sinnerfüllung, als richtige Antwort in der Rateshow  .

 

Ein Deck höher . Lila fragt : „Das Paradies als ein Schiff : Gibt es diese Vorstellung schon in der Kunst ?“

Aliya : „Gibt es auch eine Hölle als Schiff ?“

Ich zeige auf die andere Deckseite: „ Muss es gleich Hölle sein? Seht da vorne“ : Eine Großmeisterin bringt mit lauter Stimme ihrem kleinen Sohn Freiluftschach auf dem Oberdeck bei . Das ist schon mal ein kleines Stück Inferno . Den Kindern soooo mal so richtig die Welt erklären  : Lautsprecher aller Länder , vereiniget Euch .

Giacomo wiederum stört sich an einem Mann , der ohrenbetäubend auf seinen Partner einmonologisiert . Ich bemerke dann, dass dieser Wüstling einer sicherlich tauben alten Dame zuredet ( `sie soll ja einbezogen werden in unsere Gesellschaft ´) .Starbacks wiederum schließt eher auf niedere Motive , geht vielleicht gleich auf den Sprecher zu und flüstert ihm ins Ohr :

„ Und ? Geben Sie uns was ab von der geerbten Million ?“

 

Als wir abends anlegen  , sehen wir  auf dem Nachbarschiff eine Hochzeitsgesellschaft . Sie haben Glück mit dem Wetter  ; alle sind sich einig , dass die Sonne ein günstiges Vorzeichen ist für Dauer und Belastbarkeit des Ehe-Instituts  . Das Fremdenverkehrsamt und die  Ausflügler drüben an Land bejauchzen soeben ein Pseudo- Sommerwetter , das mir ordinär ist ; ich denke , das Licht macht irgendwie  die Zähne kaputt , verursacht Kopfschmerz , löst durch einen Dunstkokon um die Kirchtürme Juckreiz aus . Die Sonne mit Grell-

faktor 7 ,  mit  Rasiermesser-Zahnreihen .

Die Gäste der Hochzeitszeremonie sind herausgeputzt , wie Seifen-reklame  oder Wachsfigurenkabinett . Mehrere Fotografen und/oder Papparazzis gehen in Kniebeuge und Vollerstarrung . Die Kleider-ordnung  bei diesen Feiern ist bekanntlich wie ein Fallhöhenregler : Wer teilnimmt , hat beim Unfall schon aus geringster Höhe verloren .

 

Lila erzählt Giacomo beim Essen von der Wallfahrtsstiege in Passau .

„ Ich hätte den Versuch nach der 13 . Stufe abbrechen müssen , immer nach Knorr zu greifen , irgendwas anderes Gutes über ihn zu sagen oder von ihm zurückfinden .“

Sie hat kein Taschentuch .

„ Aber es ist auch schon gut , zu sehen :  Zeit kann man auch opfern , sie hetzt einen nicht nur . Jemandem oder einem Zweck opfern , was uns am teuersten ist : Unsere Lebenszeit . Diese Großzügigkeit ist ein Rollenspiel ; wir tun so als hätten wir genug Zeit .Wir opfern sie dort …wem ? Dem Schmerz , dass wer tot ist ? Der Tatsache ,dass MEIN Leben nicht würdig ist ?“

So oder ähnlich Lilas Gedanken und halbierte Mitteilungen an Giaco.

Sie sitzen in einer Art Laube vor der Lounge im Zwischendeck . „ Hier ist es ja nett ,“ sagt Starbacks wie überrascht , als ob er seinem eigenen Schiff das nicht zugetraut hätte .

„ Willkommen zu  unserer Einführung ins Serail.“

Das Mobiliar hier ist von zweifelhaftem Geschmack ; ich weiß nicht ob Giaco das so mag oder nicht Zeit und Energie hatte , es umzubauen : Die Fauteuils , penetrant möhrenfarbig  ,  sehen aus wie der Wet Dream eines Kaninchens . Goldgelbe Streifen auf den Tapeten ; im Serail drinnen ist es dann aber zart hoffnungsfarben grün .

 

Nein , nicht für alle hat die Schiffsreise eine harmonisierende Wirkung .

Neben dem Rettungsboot sitzt ein älteres Ehepaar , um die 65 , und streitet sich . Eigentlich sind sie nicht über ein bestimmtes Thema

uneins . Sie können eben überhaupt nur – so scheint es Lila –  kommunizieren in gereiztem Ton , Unterstellungen , garniert mit Dauervorwurf , Abwertung , Zweifel und resignierter Beleidigung .

„ Habe ich doch gar nicht gesagt !“

„ Hast Du wohl ! Und nicht zum ersten Mal !“

…….heißt wohl , sie haben eine glücksersetzende Routine des Zerfleischens .

 

Warum enden Ehen so . Fragt Lila und weiß es aber auch schon , so gut wie man das eben weiß . Das Leben ist halt zu fast allen in der Summe gemein , hinterhältig , ungerecht ; man muss schon durchaus auf-

passen , dass man nicht noch mehr unter die Räder kommt als die Nachbarn .

Und der Partner hat nicht nur nicht die Lösung unserer Probleme auf Lager ( obwohl er damals die Lösung zu sein schien ! ) . Vielmehr steht man mit seiner Lebenstragik  vor ihm oder ihr besonders nackt , ohne

verkleisternde Entschuldigung . Aller faule Zauber ist entlarvt .

Die Ehefrau , der Ehemann als oberste Entlarvungsinstanz . Sie hat nie an mich geglaubt . Er hat immer schon gelogen .

 

Aber so war mein Leben mit Kroll nicht , denkt Lila ; oder NOCH nicht , schiebt sie einen Zweifel hinterher , um ihn sofort wieder zu vergessen .

Wir waren erst seit zehn Jahren zusammen . Sie fühlt den Schwung von Trauer , als ob sie ausgerutscht wäre , und sitzt in Tränen .

 

Und Giacomo sieht es . Wo andere es gerade nicht gesehen haben .

Er ist zu ihr an die Reling getreten und späht jetzt hinüber in das flache Land . Und in das üppig  gütig reinspülende Kielwasser. Vorne die eiernd rundlaufende Radarantenne , wie ein Dreschflegel , und unermüdlich . An Land agiert eine Holzfällerbrigade mit lauten Motorsägen , jaulend und fräsend . Aus ists mit der Ruhe .

Auf der Strasse jetzt auch noch ein Bautrupp mit Presslufthammer . Ich halte mir die Ohren zu , drehe mich ab und sehe auf einmal hinter Ybbs in einem Wolkenloch die Alpen : Ferne ahnungsvolle Schneehänge . Ich möchte rufen: Nicht weiterfahren ! Oder : Kurswechsel !

 

Dann wieder gibt es einen Hagelschauer . Ein Gewitter hat sich da oben zusammengebraut ,wo Autobahntrassen sich überraschend hoch an der Bergkante entlang hangeln. Stiftskirchen blinzeln auf den Vorbergen .Ich stehe zu meiner Bereitschaft , eher von Blitz oder Hagelbrocken erschlagen zu werden , als irgendwo vom Hochhaus zu stürzen oder von einer Giftschlange gebissen zu werden . Hier ist gut sein .

Geduld : Das ist die Lektion der Donau . Jede Sekunde findet eine Sicherung ,  Auffangleine oder Sprungtuch ; keiner Sekunde wird das Ultimatum gestellt :

 

 

Now !

or never !

 

Kann es so weiter gehen warum nicht nein kann es nicht , sagt sich Lila . Weiter noch um jene Flussbiegung . Und dann . Warum ist sie hier ? Wo soll sie sonst sein . Aber sie hat doch eine Aufgabe in Emmerich .

Ach ja ?  In Emmerich im Vakuum . Krankenhausclown .

 

Keine Perforierung , keine Sollbruchstelle auf diesem Fluss : Nach der nächsten Flussbiegung gibt es eine weitere . Jede Sekunde auf dem Fluss hat Schattenwurf ; Eltern , die hinter einem stehen auf dem Spielplatz , auf dass einem nichts geschehe ; Eltern , die es in der Hand haben , zu sagen : Gilt  nicht ! Ist nur Entwurf ! ( oder , wenn das Ergebnis gut ist , sagen : Okay , das lassen wir gelten ) .

Der Fluss hat Geduld , lehrt Geduld ; bietet Unsterblichkeitsersatz . Die Bugwelle ist ein Spitzenbesatz  ; wie ein Reißverschluss öffnet der Bug weiße Klöppelei . Rechts aus dem Wald , aus der Deckung? tönt Vogelschlag .

Giacomo traut sich nicht näher an sie heranzutreten .

 

Also : Ich bin in Passau an Bord gegangen , und in Engelhardszell nicht wieder ausgestiegen , sagt sich Lila . Auch in Linz nicht . Und in Wien ?

Könnte ich . Das hätte ich schon ankündigen können . Oder sollen . Habe es aber nicht getan . Vielleicht in Bratislava . Oder doch  erst nach den Tangotagen in Budapest ?

 

Was hat er gestern abend gesagt ? Modernisierungsverlierer , diese Gutmenschen ? Deutsch für Flüchtlinge ? Aber sie weiß , das hat er nur mit lockerem Mundwerk , so der Pointe halber , laut gedacht .

 

5

Die `Cythera´ wirft Wellengirlanden an das Ufer und erinnert Lila an

Fans , wie sie früher einmal hinter einem startenden Flugzeug herliefen . So hätte Knorr auch gerne gewirkt : Sein Zug durchs Land zur Verbreitung liebender Vernunft .

Wir passieren einen dichten Knäuel von Wurzelverhau am Kiesstrand ; darüber hebt sich ein Weinberg . Jetzt ein Friedhof . Da sieht mans wieder . Wird ein Friedhof in dieser Lage nicht gelegentlich über-schwemmt ? Re-Naturierung längs der Donau , wie man sie gerne sieht : Altwasser , Unterholz , Schwemmgut ; oben drüber , an den Hängen eine Schachtelei , dass es was von Hundertwasser hat . Sonnenflächen stehen in Erwartung , aber heute ohne Gesprächspartner .

Das Tal weitet sich , die Hänge staffeln sich bis in die Wolkenbänke hinauf . Wieviel Applaus hätten wir gerne , von diesen Theater-Rängen ? Und der Himmel ist wieder grau , wie eine Betonbedachung , die uns schützt . Weissenkirchen tut eine Fähre dazu , altertümlich , zwei Hütten über dem Doppelrumpf . Die Fähre harrt bis wir vorbeigerauscht sind . Die `Cythera´ zieht in der Strommitte, klebt an der Wasserfläche , wenn kleben mit Fortkommen vereinbar ist  . So sanft und ruhig .

 

Österreichisch gelb ist die Omnipräsenz der Post ; ein Pastell von milchiger  Zitornen-Vanille-Crème ;  Dauererfrischung , wie

schon für den Sommer gedacht .

 

Aliya steht unter der Dusche , als Lila in ihre Kabine eintritt . Eine Neptunsdusche , vielleicht noch mit dem Wasser , das der Inn in Passau beigesteuert hat . Der Lautsprecher meldet sich : Die Ungarin aus Starbacks Crew kündigt unsere Ankunft in Wien an : Bittäh möchtän Sie sich an die folgändän  Tips haltän ….:Das ist wie mit Watteponpons gesprochen .

Draußen Weinberge , mächtige und großzügige Weinberggebirgsstöcke.

Kleine Häuser und Schuppen getupft zwischen die Parzellen . Groß auf eine Stützmauer da oben , weithin sichtbar aber unglaublich gesprayt : `Anarchy ´ .  Wirklich ? Wirklich . Wiener Guerilleros waren hier .

 

7

Starbacks : „ Ich hab mich doch glatt verlesen . Natürlich steht da

( er lugt gewissenhaft noch einmal durch seine Brille ) :` Täglich großes Büffet ´ . Natürlich steht da nicht : `….grässlich totes Buffet .´

 

Ich sitze mit Noah und dem Käptn in einem Café in Wien . Der Junge versteht von den Gesprächen rundum noch weniger als ich ;  wir sind

im ungezwungenen Milieu der österreichisch- Einheimischen gelandet . Ich empfinde das Ausland immer als angenehme Entsprachlichung : Ich verstehe nichts , brauche auch meine Worte nicht zu wägen ; lassen wir uns non-verbal treiben !

Die Kellner walten ihres Geschäfts in hemdsärmeliger Virilität . Unserer reißt irgendeinen Witz , merkt , dass wir ihn nicht verstehen , lacht selber umso ausgiebiger darüber und alles ist gut .

Noah erzählt , wie sein Vater  neulich in einem Stau einen Tobsuchts-anfall bekommen hat , weil vor ihm  ein Fahrschulwagen fuhr . Am Steuer eine junge Frau , die immer verwirrter reagierte auf das allgemeine Gehupe hinter ihr .

„ Mein Vater ist ausgerastet ; als ob der Fahrersitz ein elektrischer Stuhl war ; und er benutzt Worte , die ich sonst nie von ihm höre .“

„ Nimms positiv ; er ist jung geblieben und kann sich noch aufregen .“

Natürlich kenne ich diese paranoiden Situationen : Jeder immer gegen mich , den Fahrer . Mal  ist irgendeine Blindschleiche vor mir , die nicht will , dass ich pünktlich bin ; mal zappelt irgend so ein Türke mit BMW

auf meiner Stoßstange hinten , wenn ich gerade einen Parkplatz suche und langsamer fahre ; er hupt , ich sehe im Rückspiegel den Schaum vor

seinem Mund . Jaja , ich und die Anderen ; warum gibt es nur so viel davon .

Aber : Ich werde doch langsam altersmilde , bin ja auch schon kein Dreißiger mehr .

Ich trauere zum Beispiel allen meinen Ausrufungszeichen hinterher , die ich als junger Mann um mich herum ausgesät habe . Hätte viel mehr , viel ehrlicher viel mehr Fragezeichen  in die Welt setzen müssen . Oder nur einen kleinen Punkt und dahinter ein – deutliches Fragezeichen .

 

8

Vom Schiff aus ist der Fahrlehrer auch versucht , Parkplätze für Autos zu begutachten . In Ybbs gab es auf der Lände eine Polizeistation mit geparktem Mannschaftswagen . Geparkt wie  für die Ewigkeit .

Das schönste Geschenk dieser Tage : Man hält das Schöne für möglich .

Das finden auch die Tip-und-Tastenmenschen . Überall an Deck  Menschen `mit Fingerspitzengefühl ´( ahem!) . Der Touch ist der Normalfall . Fotografie ist so eine plebejische Kunst , sagt Malevitch . Na hören Sie mal , sagt der gerade Selfie-machende Mann mit Konkubine , und nimmt sich vor , es diesem Musiker bei Gelegenheit heimzuzahlen . Aliya tastet sich die Treppe herauf . „Man ist hier so viel  an der frischen Luft wie ein Dachdecker ,“ sagt Lila  .

Ein Dehnen liegt über dem Fluss , von Schleife zu Schleife . Das macht viel guten Sex möglich , viel guter Sex wg. Abwartegeduld , ich weiß gar nicht was da alles abgewartet wird , weggewartet , unter-und -übergewartet , ein- und- ausgewartet . Vermutet Giaco. Der Mensch wird gewartet , ist in Schwung und bleibt es  , ist wieder neu einsetzbar und einsatzwillig . Stern-Warte . Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens : `Da, ein letztes Gehöft von Gefühl ´:  Was bringt Menschen dazu , da oben , einen halben Kilometer über der Talsohle , einen Hof aufzu-machen ?

 

Giacomo kommt vorbei . Ich weiß nicht , ob er es denkt , aber es scheint mir nahe zu liegen : Abstand halten zu Lila . Entfernung zum Knistern bringen . Unaufdringlichkeit . Ich gebe Dir Zeit , mich genauer im Ganzen zu sehen . Giacomo hat Zeit für einen Klönschnack mit Malevitch .

Lila liegt im Liegestuhl und lenkt das Thema auf Noah , der sich heute noch nicht an Deck gezeigt hat . Sie sagt gerade :

„ Der Traum der Eltern springt über auf die Kinder , schützt sie , sie schützen den Traum der Eltern . Der Traum verbreitet eine heilige Zone.

Kinder wollen diese Zone aufspüren und zuhause dann vorzeigen : Seht her , ich habe etwas gefunden . Kinder sind die Profanierer und Juweliere der Eltern .“

Unsinn , sage ich , Kinder finden die Träume der Eltern unappetitlich und peinlich . Ja , auch , sagt Giaco.

 

9

Das Tangofest in Budapest also .

Ein ungenanntes Paar , das sich auf den Abend freut . Er wacht auf und sieht , dass der Ausblick durch das Fenster von dichtem Nebel ver-hangen ist ; springt aus dem Bett und macht das Bullauge auf , so dass Vogelstimmen wie zugeschaltet sofort zu hören sind .

„ Na , hast Du das Radio angemacht ? “ scherzt sie . Die frische Luft gibt dem Raum  Kühle, und jetzt wieder sich an sie ankuscheln ist wie das erfrischende Fühlen von Metall ; deswegen heißt es vielleicht Löffelchen-Stellung , denkt er . Und sie genießen es .

 

Gwendolyn und Brenninkmeier sitzen derweil und diesmal ungestört zusammen : Am selben Tisch an der Bugspitze , aber auf einem anderen Fluss . Sie säßen nicht hier , liebes Lesepublikum , wenn nicht damals – Sie erinnern sich ? – der Auftritt des alkoholisierten Himmelreich Kunde und Escorte zu einer effektiven Solidarisierung unten in Kabine 23 geschubst hätte . Gwendolyn mag vielleicht auch eine Bekanntschaft mit einem ARD-Direktor als vorteihaft für eine Schauspielerin wahr-genommen haben .

Die beiden waren für die ganze Nacht gebucht in jener Kabine ; begegneten  sich also ohne Hast  ( anders als in den von Brenni , wie er jetzt genannt wurde , verantworteten Filmen ) : In Bademänteln ! Unter dem seinen trug der ARD-Direktor : Nichts ! Sie unter dem ihren : BH und Slip , einen damenhaft textilreichen  .

Seine  Hände glitten glatt unter die Träger ihres BHs und zogen diese behutsam rechtslinks von den Schultern ; sie legte ihre Hände an sein Gemächt :

„ Groß , nicht ? Sage ich mir auch immer ,“ meinte Brenni . „ Mach ihn noch größer .“ Was sie wohl auch tat .

 

10

Aber bei weitem nicht darum geht es eigentlich in diesem Kapitel . Wie gesagt , jetzt gerade feiern die beiden ein Wiedersehen auf demselben Schiff in einem anderen Land : Die `Cythera´ hat gerade die ungarische Grenze überglitten , und Giacomo Neuhaus , the BigBoss , denkt auch  an die Menschen in den Kabinen unten .

„ Es gibt auf der `Cythera´ zwei Arten von Frauen ,“ sagt  er . „ Solche , die den Vorhang in ihrer Kabine auf haben oder auf lassen , und solche , die den Blick nach außen verbieten .

 

`Du sollst kein Kino neben mir haben !´“

 

Lila hat sich ( bei offenem oder bei geschlossenem Fenster ?) heute

abend für einen Jeansanzug entschieden ; die Jacke  geknöpft bis zum Rüschenkragen . Ihr kindlich schmollmundiger Augenaufschlag ; ist der sittsam oder fehl am Platz ? Sie kommt gerade vom Schwimmen , ihre nassen Haare sind überschwänglich großzügig gekrollt .

 

Solange sie nicht da ist , schaut Giacomo halt eine andere Frau an .

Die ist schlank , hat lange Haare bis knapp über die Schulter ; trägt einen  schicken grauen Mantel , Rock , schwarz-glänzende Strümpfe . Man

( soll sagen : Der betrachtende Mann ) wünscht ein Lasso , aber merkt : Sie setzt ihre Füße in den Diorschwarzweiß strukturierten  Halbschuhen etwas platt auf . Aber jetzt biegt sie sich diagonal , zieht ihr linkes Bein an , weil ihr Fuß im Schuh weh tut  . Just diese Diagonale findet Giaco seit Anbeginn der Zeiten umwerfend .

 

11

Das Tangofest  .

Zum Einstimmen hört man auf dem ganzen Boot , jedenfalls in den Gängen ( die Kabinen sind bekanntlich geräuschisoliert )

Argentinisches . Tango , diese Schubs-Maschine , sagt Malevitch , mit  militaristisch heiserem Bandoneon , nicht  so ganz anders als Marsch-musik .

Die zwei Tänzerinnen , denen jetzt  das Parkett gehört , ziehen alle Blicke an : Die eine jung , schwarz , schroff ; sparsam gerade , fast eckige Bewegungen , in junger schwarzer schroffer lernender Würde . Ihr Gesicht ist in strafenden Ausdruck gelegt ; ich werde den Verdacht nicht los , sagt Malevitch , sie strafe sich selber für etwas . Sie ist hinreißend attraktiv , aber böse wie man es in japanischen Kabuki-Masken sieht : Visagen von Ungeistern .

 

Die andere : Quirlig unstet ,  ein Kreisel in lauernden Runden nacheinander , setzt sie in den Armen ihres Partners jeden Zentimeter Freiheit in Abdrehen um ; dann wie eine Schneeflocke leicht beliebig anderswo in den Raum getrieben , SchulternHüftenSchenkel in immer wieder leicht versetztem Wedeln auf kleiner Fläche , in unmittelbarster Nähe zu den Lackschuhen des Mannes drehend abdrehend .

 

Beide . Widerlegen alles , was Malevitch je an Schimpflichem über Frauen sagte oder dachte . Machen Männer unterworfen , wie fast nicht da . Manchmal schnellen Frauen auf Dich zu wie eine Rettende .

Die eine aber ( die mit den schmalen höchst gelifteten Knöcheln in Schuhen wie von florentinischem Degenschmied ) : Sie zeigt , dass sie aus geringster Entfernung vom Tänzer unbegrenzte Freiheit zu gewinnen vermag . Wenn es hier Absehbarkeiten gibt – für mich Amatuer eher nicht – dann sind diese mit dem Partner abgesprochenen ,

vom Partner verlangten ? perforierten Schwenks und Zuckungen eine geheime Perforation , eine Geheimschrift . Das große Langsam , das große Plötzlich .Tangofledermaus , den Saal mit einem Sichelbein aus-wedelnd , links neinrechts , wirres Pendel  , denkt Malevitch .

 

„ Wir damals ! Das war eine ganz andere Zeit ! Wir hatten eine Tanzlehrerin mit Mundgeruch ; mit ihr im Arm war es so , als ob man in eine alte leere Fischdose hineinschnüffelt ,“ sagt Käptn Starbacks .

 

„ Meine Theorie ist , dass der Tango nicht erst in Argentinien entstand , sondern schon vorher , auf den Auswandererschiffen von Genua nach Buenos Aires ,“  sage ich .

„ Wieso nun dies ?“

„ Wie man sich halt in einer winzigen Kabine verhält , wenn durch

Sturm , Schlägerei , Panik zusätzlicher Wirbel entsteht und man im Nullkommanix alles Mögliche regeln muss ; am besten man dreht sich einmal auf engstem Raum und hat dann Hose und Pullover angezogen und seinen Revolver gefunden und entsichert . Diese Art von Körperbeherrschung  führt zwangsläufig zu Tango-Choreographien.“

Ich beuge mich näher zu Aliya , weil man gerade zu einer sehr lauten Carlos-Gardel-Nummer tanzt , und Malevitch steckt seinen Kopf dazu .

„ Und eine körperbetonte Armut .Nur ich und mein Körper , meine Pirouette , mein schwingendes Ausweichen , arte povera . Und die Erwartung , die Spannung . Wie weit noch bis zum Festland , zum

Hafen , zum Pier , zur Zollstation . Zurück? Zurück nach Europa ? Ein Schritt weiter in der Schlange . Falscher Schalter ? Halle 7 ? Neue Schlange ? Weiter , weiter , wann geht es weiter . Dann entsteht wie von selbst  ein federnder Gang , alles nur Versuch , aber verzweifelt , vielleicht letzter Versuch . Nur EINE Chance ? Wann geht es endlich weiter ?“

 

„ Tanzen Sie auch , Kapitän?“  fragt Malevitch Starbacks , der gerade   für einen Augenblick neben dem Musiker Platz genommen hat .

„ Heute nicht , muss gleich wieder auf die Brücke . Aber – ein Mann wie ich in den besten Jahren ? Klar , sonst immer . Und in meiner Jugend bin ich wie ein Teufel Auto-Scooter gefahren , auf den Jahrmärkten ; habe also kein Problem mit Remplern.“ Sprichts und verschwindet .

 

Eine Dame , die  schon 60 sein mag , ist sicher mit in der Gruppe der attraktivsten Erscheinungen hier : Sportlich agil , trägt sie ein Seidenkleid in gelb-schwarz -Fleckung , etwas tigerhaft  ; wenn sie sich aus ihrer Hüfte heraus dreht , denkt der hingerissene Betrachter an glatte Rundung wie von Kiesel , und sie  liegt fest in den Armen ihrer Partner an ; wie ein Schmeichelstein . Es den anderen Frauen hier gleich-

tuend  , legt sie eigens erst im Ballsaal ihre hochhackigen Tangoschuhe an  ; setzt sich dazu und beugt ihren Oberkörper zum Boden herunter , wo sie zwischen den Beinen , über den Füßen , unter den Knien , unter der Rockkante ,  mit dem Schuhanzieher operiert . Das sieht alles sehr erregend aus : Gelernt ist gelernt .

 

Oh…Tango , denkt Malevitch : Trippelnder Dialog , Hin-und Her-Jagd ; ER : Ein Damoklesschwert über ihrer nackten Schulter ; SIE : Die weggleitende Undine , die Sich-Abwendende , ER  eifert hinterher , SIE die Bedenkliche , er der Plausible , sie die hämische Hackenbremse , er  schroff ins Leere Deklamierend .

 

Sie ( sinngemäß ) : Ich kann auch ohne Dich !

Er : Ohne WEN ?

 

Zwei von den  Tänzern auf der anderen Seite des Saales bremsen  den Rhythmus von Piazollas `Angel ´ aus , verlangsamend , als wären sie benommen ; als ob sie mitten in diesem melancholischen Stück noch auf ein Signal zum Weitertanzen  horchten . Der Film stockt , steht still , geht weiter , zwischendurch leidet das Paar Momente wie von Amnesie .

Da! Ein neues Stück fängt an mit Schmiss , ruckartig , Anschub

aus dem Stand : Ein Aufstand der Schrubber , spottet Malevitch für sich ; so steif wirkt das Vorwärtsangebot der Herren , das zeitgewinnende Rückwärtsweichen der Damen , die ihre strumpfhosenknisternden Beine knicken in einer Art Storchenschritt.

 

„ Stimmt es , dass einige der Tänzer mit geschlossenen Augen tanzen ?“ fragt Aliya . Malevitch schnappt ein wenig nach Luft , denn minutenlanges Flüstern ist anstrengend ; flüstern , um nicht zu laut  zu sein und von den Tänzern gehört zu werden ;  laut genug  , um das Tango-Orchester zu übertönen . „ Ja ,“ sagt er jetzt ,  „die guten Tänzer haben das Drehen und Gehen und Liften im Blut und brauchen gar nicht vor ihre Füße hinzustieren , um den Partnern nicht auf die Hühneraugen zu steigen .“

Aliya überlegt . Nach einiger Zeit drängt sie Malevitch , ihren Führer , Dolmetscher , Musikberater : „ Dann wäre es denkbar , auch einer

Nicht-Sehenden ( oder einer Unsichtbaren !) wie mir Tango beizu-bringen ?“

 

Aliya hat den Plan fertig : Sie nimmt Tangostunden bei Angelo :Tango Sentido ! malevitch kannte den Begriff schon . Aliya weiß aber , dass dieser Schritt sie im Lager ihrer Verfolger nur noch mehr zur Zielscheibe machen wird .

Die muslimische Frau

tanzt nicht /

so nicht /

tanzt nicht Tango /

tanzt besser überhaupt nicht .

 

Und sie ist eigentlich auch nicht hier an Bord . Das hat sie mit Lila gemeinsam . Und anderes .

 

12

 

Wenn Malevitch Tagebuch führte , stünde dort womöglich zu lesen :

Habe vorgestern in Wien den Tango-Film gesehen . Beschlossen , ich muss mein Leben ändern . Zum Beispiel Spanisch lernen , Crash-Kurs , bis Herbst . Neue Klamotten kaufen !

Tango lehrt , so hat er herausgefunden , einen Lebensstil ( das Gegenteil von life-style )  ; so in Richtung : Auch kleine Episoden des Alltags mit Reflektion und Würde angehen . Tango und Schach haben

etwas gemeinsam .

Diese alten Tänzer gestern im Film , Tanz-Matadore , die auf die Höhepunkte ihres Lebens zurückblicken – wirklich ein sehr guter Film , halb Dokumentation , halb Montage – : Diese Tänzer zelebrierten mit ihren Droheinladungen …. eine Art Puzzle : Teilchen finden zusammen , und zwar ekstatisch ! Jawohl ! Ein ekstatisches Puzzle . So wie ich bin , mit meinem Profil – werde ich erwartet ! Und irgendwie ist die Welt in dieser Welt des Tangos geordnet , zusammenklappbar wie ein japanischer Koffer aus der Edo- Zeit : Eleganz in Miniatur . Timing der anderen Art : Es passt !

 

Wenn a ) , dann auch b ) .

 

Und Astor Piazolla inszeniert auch das Liebesspiel so , dass es klappt , selbst wenn man nicht zusammenbleiben kann : Man hat so zusammengefunden in der Sehnsucht ,  dass es ein Zusammenbleiben in der Geste wird .

PS ( immer noch in Malevitchs Tagebuch , das eigentlich eine Materialsammlung für das Gespräch mit Aliya ist ) :  Die Tänzerinnen gestern im Film ! Ohne dass es zu drastischer Eindeutigkeit oder  Kopulation kommt : Erotik pur ! Die jugendliche Ausgabe der Nueves , wie sie Bein zeigt – und den Blick wieder wegwedelt . Eine bekleidete Frau : Ein Reichtum an Suggestion : Was nicht alles sein könnte ! Gut , dass es nicht ist . Bzw. wird .

 

„ Music be the food of love “ , sage ich .

“ Sollte man per Graffiti an eine schlecht arbeitende Kombüse

schreiben ,” sagt Starbacks .

 

13

Weitere Studie : Elisawetha , eine wunderschöne reife Frau , aus Moskau . In Moskau Literaturstipendiatin , in Deutschland  Krankenschwester ; sie tanzt auf der `Cythera´ und ich hoffe , Giacomo will und kann sie gewinnen als Escortlady . Ich schätze sie auf Anfang

40 , und neulich entdeckte ich bei ihr einen Anflug von Damenbart auf einem Quadratzentimeter Haut , der sogar ……….eine Art Runzel andeutete .

Sie ist wunderschön , wie bereits bemerkt  ; schlank und großge-wachsen , hat ein liebes Mädchengesicht ; lächelt gerne , guckt aber auch schnell traurig . Ihr Tanz ganz  wohlerzogene Reserviertheit und Kontrolle , und sie braucht wenig Raum zur Abgrenzung auf der Tanzfläche .

Sie erzählte mir , ihr Gatte gehe nicht tanzen ; hier sei sie meist mit

Nico , der sie aber (sie schmollt und grollt ) heute versetzt habe .

Am nächsten Tag ist Nico wieder da – aber Elisawetha tanzt mit einem Anderen : Einem stämmigen Holländer ; blond , breite Brust in schwarzem T-shirt  . Bestimmt mit  teurem italienischem Auto  am Kai . Wahrscheinlich auch unheilvoll dunkel wie eine Bahre ( das Auto !) .

 

Nico hingegen wirkt nicht wohlhabend . Er ist ein hageres Männchen , hat lange , nur noch überschaubar viele Haare ; ein Brillenträger mit glücklich glasigem Blick  ;  steckt oft in zerschlissenen Jeans . Sein Tanz ist nichtsdestotrotz –  meisterlich !

Er tanzt nicht : Er lehnt , er neigt dynamisch an seiner Partnerin und quer über das Parkett ; unauffällig , als wolle er nichts falsch machen , ist aber

so fehlerfrei raffiniert und – mir fällt kein besseres Wort ein – sauber , von einer eigenartigen Sauberkeit der Bewegungen .

Er lehnt , er schleicht , er luscht an der Musik ; er scheint an Lianen zu lernen .

 

 

14

Die Nacht fällt über Subotitza . Die `Cythera´ liegt festgemacht , allerdings nicht am Passagier-Anleger : Die serbischen Behörden haben Untersuchungs- Quarantäne über das Schiff verhängt .  Starbacks Dampfer ist am Zollkai vertäut , etwa zwanzig Meter vom Ufer entfernt , und endlich einmal kommt ihr alter Anker zur Geltung . Sein Eisengewicht hat sich in den Donauboden eingewühlt und hält die `Cythera´ zuverlässig fest , obwohl sie  an der Trosse zerrt wie der Hund an Frauchens Leine .

Das Schiff schlummert , wie auch die Meisten an Bord ….. Und der Fluss zieht vorbei , schiebt  am Altmetallrumpf , saugt und zieht ,  Richtung Meer ; die Wellen zucken die Achsel und lassen sich nicht lange aufhalten : Das Heck des Schiffes weist zuverlässig in Richtung flussab , und der Fluss zieht die ganze Nacht und den ganzen Tag .

 

 

15

Ja , Nico ist Beerdigungsunternehmer . Wenn er sich unterhält , wie jetzt etwa mit Aliya , ist er weniger expansiv , weniger da als auf der Tanzfläche : Spricht  ( zu Aliyas Verärgerung ) oft zu leise . Hat aber keine Probleme damit , über seinen Beruf zu reden .

Ja , Flussbestattungen führe er auch durch . Nico wohnt aber in Gummersbach , und da gibt es keinen Fluss in der Nähe , keinen nennenswerten . Deswegen würden die meisten seiner Kunden doch in Mutter Erde versenkt , in einem normalen Grab .

Er kann die traurige Seite der beruflichen Angelegenheiten doch recht gut  umblättern , sozusagen . Von steifer Nicht-Bewegung hin zur Tango-

Zeichensprache , Semaphoristik . Was er Aliya etwas schwerer erklären kann : Diese Friedhöfe mit ihren Reihen von regelmäßig gleich großen Grabflächen , ein Meter mal zwei , ist für ihn wie eine Erinnerung an  die Dominoplättchen , mit denen seine Mutter und er früher gespielt haben . Domino ? Wenn jeweils eine zwei bei mir und eine zwei bei Dir aneinandergelegt werden können , und wir können eine Reihe verlängern , abknicken lassen , solange der Vorrat reicht .

 

 

XX Serbien

 

1

Frisch verliebt ! Wie leicht es einem fällt , all die alten Geschichten wieder zu erzählen , endlich mal wieder ; endlich mal wieder hineinzuhorchen in die ganzen Stories .Gibt es da ein Echo , wenn ja : Welches  ?

Verliebtsein sei ein Märchen ? Nein , eher sehr seröses Bemühen

bei der Wahrheitsfindung : Ich grüble beim Erzählen ( endlichmal

wieder , denkt Lila ) darüber nach , was ich vergessen haben könnte ; wie ich es diesem mir frisch geschenkten Zuhörer noch unmiss-verständlicher klar machen könnte .

 

Die `Cythera ´ hat auch so ein richtig altes ( nun ja , doch irgendwie eher

auf alt gemachtes ) Bordkino . Man klettert einen steilen Niedergang herunter , muss auf Stahlplatten ohne Teppichbelag an Maschinen vorbeilaufen  , quert ein Schott , das Wassereinbrüche , aber auch Geräuschbelästigung wegfiltern soll ; und ist in einem kleinen Raum unter der Wasserlinie . Das Kino ist am Bug gelegen . Ich fühle den Wellengang , leichtes Auf-und Abwippen des Schiffes , und man hört auch ein ganz leises Rauschen .  Schluppkothen , der Scharfsinnige  , sagt :

„ Wenn wir das Rauschen hören ,  ist das Wasser zu nahe , gefährlich nahe ; nach dem Geräusch kommt das Wasser selbst , Ihr werdet

sehen .“

Es gibt eine Bar , und nach der ersten Hälfte des Films werden zwei

Riesenspulen mit Filmband gewechselt . An beiden Seiten des Gangs gibt es nur  jeweils zehn Sitze . An den Wänden prangen stilecht alte

Filmplakate mit Gina Lollobrigida . Heute wird ein Woody- Allen – Film gezeigt :

 

`Brollipop ´

 

Untertitel : `Under the umbrella ´ .

 

Der Erzähler im Monolog :

„ Irgendwann muss man ja auch wieder raus aus der U-Bahn , rein in den Regen , der wie ein Katarakt an den Scheiben vorbeiläuft .“

Woody Allen faltet auf der Schwelle den Schirm auf und sieht auf der anderen Straßenseite eine Frau eine Autotür öffnen . Der New Yorker Stadtneurotiker macht einen ersten traumtrunkenen Schritt ; sie stutzt und zögert und kommt dann auf ihn zu . Es ist Iris .

„ Du ?!“

„ Nein , ich.“

Wir sehen uns etwa alle zwei Jahre , monologisiert Woody , soll sagen , schier zufällig . Immer ertappt uns ein neuer Blickwinkel auf die Zeit damals vor 20 Jahren . Wir waren zusammen , dann wieder nicht , gerade mal wieder , dann eher doch nicht . Ich heiratete , sie kam zu meiner Hochzeit ; ich trennte mich von meiner Frau , Iris nahm mir meine Übergangs- Einsamkeiten , aber dann wollte sie nicht mehr von mir berührt werden : Cherchez l´homme ?

 

Sie war strahlend schön und ist schön geblieben , hat aber jetzt Falten .

Ist jetzt Frau Doktor , hat  einen Professor geheiratet ; fährt einen kleinen Sportwagen , an dem wir stehen und stehen bleiben .

Mein Schirm  ist  für endlose drei Minuten unser Gemeinsames , sagt Woody ,  also Wohnung , Bett , Erinnerungslaube , ein Schirm über unserem zusammengewürfelten Leben .  Ich bin fürsorglich und achte darauf , dass mir der Regen in den Kragen läuft , nicht ihr ; sie merkt es und tritt näher an mich heran , damit der Schirm wirklich für uns beide reicht , was er nicht tut , dann aber keinen von uns beiden sehr stört .

Ich finde sie schön und munter ( und mich charmant , sagt Woody ) . Ich hoffe , es ist nicht diese Normalo-Charmanz , wie sie an Optiker denken lässt , die mal eben die andere Linse zum Ausprobieren in den Testapparat einlegen : `Was wäre nicht alles möglich mit uns !´.

 

Im gießenden Regen plaudern wir . Im Plauderton gießt es .

Ich bin dem Regen und meinem zu kleinen Schirm fast dankbar , weil ich gleich , so Woody Allen , werde sagen können :

 

`Also , hier in diesem Monsun können wir uns unmöglich unterhalten , Du holst Dir ja den Tod ´ ,  –

was ich dann aber nicht sage . Ich sage : „ Auf den Zufall ist Verlass .

Er wird uns bestimmt wieder zusammenbringen , irgendwann , bei gutem Wetter . Weißt Du , was Sartre über den Zufall sagt ( oder vielleicht war es Stalin ? ) `Wir alle leben nur durch die Zufälle , die andere uns übrig lassen .´ Steig jetzt ein und fahr endlich los .“

 

Sie lächelt und sagt :  „ Der Zufall kriegt das nicht so ohne weiteres hin .“

Sie sieht sich nach ihrem Hund um , Snotty , ein Terrier wie auf der Black und White Reklame , aber er ist weggelaufen :  Die Leine hängt lose von Iris Arm .

 

Wir waren einmal zusammen und dann wieder nicht und dann endlich auf ein Neues. Ja, das tut mir leid , anders wäre es schöner gewesen ; aber anders hat es nicht sein sollen oder können : Wir haben uns nur lieben können als ewig Kommende und Gehende , nicht als Bleibende .

 

Ende des Films .

 

 

3

Der serbische Polizist , diesmal in Begleitung eines Staatsanwalts . Der spricht sogar Deutsch .

„ Sie können gehen . Eigentlich sind wir Serben sowieso nicht direkt

interessiert . Nur , was den Unfall angeht , und die vier Vermissten .“

Nein , Leichen seien weiter nicht geborgen worden .

„ Wir haben lediglich Amtshilfe für die deutschen Behörden geleistet .“

„ Und warum haben Sie mich dann solange hier festgehalten ?“

„ Alles nur ein Problem mit  der Übersetzung . Soviele Beamte haben wir nicht , die deutsch sprechen können .“

Und was die Amtshilfe angehe : Es lohne nicht , eigens einen

Konsulatsmitarbeiter nach Subotitza kommen zu lassen . Der Verdacht  gegen Noah sei fallengelassen worden . Wegen des Ohrs. Aber wegen des Brückenvorfalls habe die deutsche Polizei ein Rechtshilfeersuchen an sie gestellt .

Noah ist also zum Teil entlastet ! Wie teile ich ihm das mit ?

„ Wissen Sie , wo dieser Noah jetzt ist ?“

Ich weiß es seit vorgestern wirklich nicht mehr . Nicht genau jedenfalls .

 

4

Swetlana ging gestern in Schwarz . Sie hat unter dem wehenden Kleid den Körper einer 16-jährigen . Aber Giaco denkt erstmals nicht in den Loipen von Berühren-wollen , Berührt-werden-wollen-gerne-Erhören .

 

Er grübelt über dem Gesichtsausdruck zweier anderer Frauen , die  von der Tänzerschar besonders viel Platz auf der Fläche bekommen , und in sanfter Weise ist die ganze Atmosphäre verändert .

Diese Frauen sind in aller Unschuld schön . Sie schmiegen sich an ihre Partner , die auch ihre Geliebten sind , ganz ohne Frage , oder ihre Männer . Man glaubt ihnen sofort die Liebe zu diesem Mann da , oder dem .

Sie sind gut aufgehoben , wissen sich gerettet  . Sie sind lieb und liebenswert , und eine Geschichte ist zu einem guten Ende mit ihnen gekommen . Beseelt , heiter , befriedet , Alexandra und Irene .

Sie sind schön , und erotisch unschuldig , mütterlich in ihrem Verantwortungsgefühl für einen Abend ; mütterlich göttlich . Nicht Aphrodite , sondern Athene , Hera , Artemis .

 

Giacomo schämt sich ausnahmsweise und sowieso nur fast für seinen Kult um sexuelle Figurinen . Bis er eben doch mit Lila , nicht mit Swetlana ! an der Bar in ein Gespräch  kommt . Gestern abend . Welches er nicht gesucht hat , aber dem er auch nicht ausweicht :  Warum sollte er .

Auch Lila trägt schwarz .

 

5

Zunächst ging es gestern weiter die Donau flussab .

„ Mittlerweile klingt ja jeder spanische oder italienische Ortsname wie ein Cocktail bei Sunset,“ sagt Giacomo.

„ Oder die Leute , die neben Penelope Cruz spielen dürfen .Da lobe ich mir die sperrigen Namen , egal ob von Orten oder Leuten , hier in Serbien ……die klingen nach Rätselcode, so als ob man vernünftige Wörter von hinten spricht  .“

 

Wir passieren zum Beispiel gerade  Kragujevac , und unten in Deck zwei  rundet  Elisaweta ihren Vortrag über die Türkenkriege und das Pestlazarett aus dem 18. Jahrhundert ab .

Am Ufer oder in Sichtweite an den Berghängen sind einige Häuser mit  Kriegsschäden zu sehen . Andere  sind offensichtlich Neubauten , die unvollendet stehen blieben , vielleicht je nach Maßgabe der finanziellen Situation der Bewohner . Vielleicht wartet man für den Dachstuhl auf Geld von Sohn , Bruder oder Enkel in Ingolstadt .

Aber auch in den unverputzten , eingerüsteten und dem Wind offenstehenden Rohbauten wohnen schon Menschen ; vielleicht werden sie es hier auch länger so aushalten .

 

Die Balkone gehen alle zur Flussseite  . Malevitch und ich sind begeisterte Fans von Balkonen . Grundsätzlich , nun aber besonders . Jedes Haus hier hat so eine Auslage , ein Angebot an die orientalische  Strasse . Malevitch erinnert sich an V. 1001-Nacht Balkone ; Beton aber fragil , kühne Betonstiele , cherchez la femme : Ohne Balkone kein Begehr , kein Gebär , kein Shakespeare ; wie man ahnt .

 

Der Balkan lauscht hinaus auf  Echo in den restgenutzten Ruinen , in den nicht ganz zerstörten Bauernhöfen , nicht fertig gewordenen Neubauten . Die Treppen zu  den Häuserskeletten  gehörten zu einem Material- Ballett , als würden Gelenke ausgefahren , Stretch und Knick . Zollstöcke werden gefaltet , Treppen vermessen die Besucher  und vereinen Menschen  . Hinter der Bahnlinie bei Alcancic  führen die Treppen , schon lange vor dem Haus fertiggestellt , in noch leere Betonrahmen ; Treppen dümpeln in Balkone aus ;  Balkone sind die höhere Ebene nach Treppenansteig . Balkone als ginge es um eine höfliche Gesprächspause oder

 

` unterschreiben Sie hier ´ .

 

Balkone : Menschen zum Pflücken , reife Menschen !

 

6

Der übergewichtige Herr Schlupkothen wuchtet sich auch in das Restaurant , findet zwei Plätze und sagt verschwörerisch zu seiner Frau : „ Hier gibt’s leckere Kleinigkeiten !“ Wo er recht hat ….

 

Warum die Tangolehrerin in ihrer überraschenden Gewandung  antritt ?

Ihr Haus in der Passauer Altstadt wurde überflutet ; die ersten zwei Stockwerke standen unter Wasser , als Irina von einem  Auftritt in Ingolstadt zurückkam . Alle Klamotten durchspült , durchnässt , durchweicht , ruiniert ; alles stinkt muffig , ist farblich ruiniert;  Irina schnüffelt auch hier , „ Hier ! Riech mal !“  ob ihr dieser Geruch nachgefolgt ist . „ Wir haben zur Zeit nur das, was wir auf dem Leib trugen ,  okay , und ein Bankkonto ; und unser Können , das wir auf die Waage bringen .“

 

Der Lautsprecher knarzt und röchelt . „Damenwahl! “ verkündet und verheißt dann Käptn Starbacks durch das Mikrophon .

„ Und Tango der Schatten !“

Aliya stößt Malevitch an . „ Das heißt , ich kann Dich zum Tanzen auffordern ?“ fragt sie ihren Begleiter , Dolmetscher , Seher .

„ Oh bitte ! Ich werde ganz behutsam tanzen ; ich versuche , nicht aufzufallen . Nur Mut !“

Starbacks meldet sich noch einmal zu Wort :

„ Für unser Publikum noch einmal zur Erinnerung :Tango der Schatten heißt : Jeder von den Tänzern hier ist Witwe oder Witwer . Die Schatten sind die anwesenden , aber nicht sichtbaren Verstorbenen .“

 

 

7

Ich lasse meine schlechte Laune an meinem Bruder aus .

„ Dem Abendland ist sicherlich viel erspart geblieben , als irgendwas Dich daran hinderte , Dich jemals zu verlieben .“

„ Nicht so platt , mein Junge ,“ sagt Giaco und reckt den Kopf Richtung Bug . „ Unter avancierten Genießern…. geht es  an prominenter Stelle nicht um das Gelingen , die story ever after , um die genau nicht .

Besser , die Lady sagt  `Nein ´ , oder  ` Nein ! Wie kommen Sie dazu ? Was soll mein Mann denken ´. Es geht mir um – verlass Dich drauf , Frauen sind mir nicht nur als Bewohnerin meines erotischen Traumes wert – , es geht mir um das einmalige : Sprechen . Hinter dem Sprechen , dem Vorzeigen der Ausnahmegenehmigung….braucht nichts weiter zu kommen , schon gar nicht bitte bitte der Ehe-Alltag , wer holt die Kinder von der Kita und so . Wer will das schon .

Aber : Sagen : „ Ich finde dich bezaubernd . Du bist es . Seit gestern ist alles anders , und Du bist es….“

Das sagen – und dann vielleicht doch schnell weglaufen .“

 

 

8

Die Donau hat Hochwasser , natürlich , in diesen Tagen der letzten Schneeschmelze , was  die Talfahrer beschleunigt . Andererseits macht es  jedes Manöver etwas  weniger routinehaft  ;  etwas komplizierter mit einem  Schuss Unberechenbarkeit . Sagt da jemand ( zu Zeiten der Schneeschmelze )  Flüsse seien was Beschauliches ?

An Land erkennen wir Uferstraßen nur noch an den Oberrändern der Straßenschilder . Die Fluten teilen Watschen aus  , wie sie da an den Deichen , wo solche noch sichtbar sind , entlangströmen .

 

Im Nachhinein ist man altklug .

Das Boot mit den Flüchtlingen war eindeutig zu schwach motorisiert und

eher eine Art Spielball  . Als ich genauer hinsah , war eigentlich gar nicht recht zu sehen , ob sie über den Fluss wollen , oder vielleicht doch wieder zurück an das serbische Ufer . Oder vielleicht eine Stelle weiter unten serbisches Gebiet anlaufen .

 

Der Zollkreuzer der Ungarn ist ein umgebautes Schnellboot ,

wie später in der Zeitung zu lesen , der ehemaligen jugoslawischen Marine abgekauft  : Vorne sogar ein Geschütz ; das Schiff PS-stark ,

wirft dramatische weiße Gischtwellen mit dem Bug auf . In der Marinesprache heißt das : Hund mit Knochen im Maul .

 

Der Bootsführer der Flüchtlinge , vielleicht der Schlepper , hat es sich  dann sehr schnell überlegt und dreht wieder ab Richtung Serbien .

 

Dort fährt  aber mittlerweile die `Cythera´ auf der Talseite  , und zwar , trotz Schrauben-Zurück-Signal von der Brücke , immer noch ziemlich schnell – für Starbacks Verhältnisse.  Das liegt an der Hochwasser-schwemme .

Die Donau ist  eigentlich breit genug für diese Manöver ; der nächste Lastzug kommt erst einen halben Kilometer hinter der `Cythera´ , sonst sind keine Schiffe in Sicht . Der Regen nimmt  gerade wieder zu  und der Wellengang ist heftig ; fast wie der damals auf dem Ärmelkanal im Winter , erinnere ich mich .

 

Der Steuermann des Schlauchbootes  ! Was macht er denn da ? Jetzt sieht man , es müssen etwa 30 Leute an Bord sein ; aus der Entfernung erkennt man : Da gibt es kein Quentchen Platz mehr frei .

 

Der Steuermann hätte das serbische Ufer doch noch erreichen können .

Aber da säbelt der Hubschrauber um das Uferkliff herum , sein Rotorgeräusch  wie das Gemeckere einer ganzen Ziegenherde . Alle Leute im Boot schrecken auf  und schreien .  Man hört es bis hier .

Vielleicht hat sich die Balance dadurch in diesen Sekundenbruchteilen verändert , und der Steuermann reißt daraufhin zu stark an der Pinne  .

Das Boot bäumt sich spitz auf , schlägt um und ragt auf einmal hochkant im Wasser .

 

Auf der  `Cythera´  stehen nur wenige Leute an der Reling , der Wind war den ganzen Morgen schon zu gemein schneidend für einen Ausflug

und ein Lüften der Persönlichkeit . In der Kommandobrücke sitzt und steht man geschützt , auch wenn die Seitenfenster offen sind . Aber es macht einen hektisch , dass man hinter den Scheibenwischern nicht alles sieht , jedenfalls meint man das ; und man meint alles sehen zu müssen .

 

Wir schreien durcheinander ; Starbacks ruft in das Mikrophon :

„ Das Boot aussetzen , Pitt , Jan , Felix , schnell .“

 

Mittlerweile  sind die Flüchtlinge , oder nur die meisten ? wieder aus dem Wasser aufgetaucht ; wir sehen dunkle Punkte auf den Wellen . Das

Gewackele und Geschwappe verdeckt sie aber immer wieder , und das Windgeheule lässt mich anscheinend auch nicht klar gucken . Hinter mir taucht Loersma auf und rempelt mich an , als er seinen Mantel abwirft . Aber einer ist noch schneller gewesen : Noah hechtet über Bord und krault auf die Unglücksstelle zu . Er taucht nur alle 10 Sekunden etwa wieder aus dem grauen Wasser auf .  Und Elvira , die Steuerfrau ,die keine Berührungsängste kennt , was Flusswasser angeht .

 

Später erzählt Loersma , als erstes habe er einen älteren Mann

erreicht , der einen langen Bart hatte . Er habe sogar an dem Bart

gezogen und dafür einen Tritt ans Ohr bekommen . Der ungarische Zollkreuzer schert jetzt auch heran , Leinen und Ringe fliegen ins Wasser , zwei Zollbeamte tauchen mit .

`Die Kinder ´, schreit Loersma , `los , alle die können , tauchen , suchen ; die können am wenigsten schwimmen ´ .

 

XXI Ein Olivenzweig

 

1

Und wo ist eigentlich Noah ? An Bord hat ihn keiner mehr gesehen .

Ich bin im allgemeinen Chaos über die ersten Stunden auch der einzige , der ihn vermisst . Und in dem Maße , wie ihn niemand gesehen hat , und auch zur Zeit niemand vermisst , breitet sich eine vage Idee in mir aus : Ist er ….nicht mehr an Bord ? Aber auch nicht im Fluss ?

Ich sprinte los .

 

Auf den Kai , stromauf ; da sind die alten Zollabfertigungshallen auf der serbischen Seite  , in denen gestern der Einsatzstab in vollem Chaos beriet ; der  improvisierte Hubschrauberlandeplatz. Ein veraltetes sowjetisches Modell von Helikopter steht da erschöpft rum ; es ist die Maschine unseligen Andenkens von gestern .

Da ist der Zollschuppen . Es gibt Reporter , Polizei , Krankenwagen . Ich werde nicht aufgehalten oder nach meiner Identität befragt , als ich die Tür aufreiße .

 

Und Noah steht da .Vor einem Schalter . Hinter ihm eine Schlange von geretteten Flüchtlingen . Auch heute noch , nach einem halben Tag , sind seine Klamotten von Nässe dunkel . Er wälzt gerade seinen Zeigefinger auf einem Tintenkissen und setzt  einen Fingerabdruck auf ein Formular  .

 

 

2

Verliebt sein ; Knall auf Fall diesen Satz von sich sagen KÖNNEN ; wie eine Bühne betreten , alles andere hinter sich lassen ( unwichtig  , auch wenn der Vorhang vielleicht noch schauckelt ) . Ich habe Lampenfieber wie ein Wahnsinniger , aber mit Gelingensgarantie  . Denkt Giacomo . Soviel Schussfahrt war noch nie , so ist vielleicht die Sturzgeburt damals gewesen   :

 

Hinaus auf eine Bühne  im Schlaglicht ausgeleuchtet  ; so muss auch Kokain sein . Alles krümmt sich in mir zusammen , aber so wohlig , ein Säurebrennen , in ekstatischem Licht ; Explosion von Weite .

Ja , wir haben es spannend gemacht , nein wir wollten das vorgestern noch nicht , nein wir konnten uns das gestern nicht vorstellen , aber ein bisschen war es schon  so lustig , so angenehm , so wie ein gedehntes heimliches ewiges Lächeln gewesen , wenn Lila in der Gegend war .

 

Ist es auch das , was Frau Knorr mal gefühlt hat ? Und Giaco fällt

vor dem Spiegel in seiner Kabine vielleicht immer zuerst ein , dass sie schwarz mag . Schwarze Strümpfe zum Beispiel , wohl weich angenehm und kühl an der Handfläche wie schwarzer Marmor . Im Park stehen so ein paar  schwarze Marmor –oder Keramikstatuen ; oder wie rabenschwarz angekohltes Holz – von einem Scheiterhaufen vielleicht .

 

3

Ich ging mit Starbacks noch einmal an Land . Die Bevölkerung von Kragujevac sammelt sich auf der einen Seite der Hafenmeisterei , die

geretteten Flüchtlinge auf der anderen , nachdem sie die Formalitäten von Zoll und Polizei durchlaufen haben . Die Flüchtlinge sind aufgeregt , palavern laut durcheinander , umarmen sich , reden auf einander ein ; suchen wohl auch nach Familienmitgliedern oder fragen Umstehende aus nach noch Vermissten .

Die Bevölkerung ist überwiegend still , viele Männer , die nichtz aussehen , als ob sie irgendwo irgendwas verpassen , aber allgemein

in Aufpasserrolle . Wenige Worte , Kopfschütteln .

Starbacks und ich suchen nch einmal oben in der Ankunftshalle nach einem Zeichen von Noah , allerdings erfolglos . Draussen vor der Tür ist eine kleine Plattform , von der eine Leiter auf die Strasse herunterführt . Der Käptn und ich gehen gerade wieder die Stahltreppe herab , als ein Auto vorbeiquietscht , kurz bremst ; etwas wird aus einem der Fenster geworfen , das Auto fährt schnell wieder an und um die Ecke .

Starbacks und ich schauen hinterher , wollen weitergehen , und auf einmal  rutscht der Käptn fluchend und überrascht aus , schlägt mit dem Hinterteil auf die Treppe und tut sich nicht nur dort weh . Brüllt und

flucht , flucht und brüllt .

„ Diese Schweine !“

Er hält sich linkes Knie und Bein ; später wird sich heraustellen , dass er das Schienbein gebrochen hat .

„ Was haben die denn da geworfen ?“

„ Etwas worauf ich ausgerutscht bin ,“ stöhnt der Käptn . Ich sehe so was wie eine kleine Folie , ein kleines Plastikteil , aus dem etwas heraus-

rinnt . Es ist ein schon praxisbewährtes , benutztes Kondom , aus dem schleimig ein Quantum Sperma heraustropft .

 

„ Was ist denn jetzt schon wieder? “ Giacomo war lange nicht mehr so genervt . Taras kommt  die Leiter zur Brücke hochgehechtet . Atemlos sagt er :

„  Chef , der Käptn ist tot. Jedenfalls gestürzt !“

 

Taras ist an Aufregung , nicht aber an logische Strukturierung

gewöhnt . Giaco eilt zur Chefkabine im A-Deck und findet dort bereits eine Menschentraube ; allgemeines  Gerufe , Befehlsausstoßen , Nachfragen , dazwischen Starbacks´ ( Gott sei Dank , er lebt  !) Fluchen und Stöhnen . Gebrochen , scheint es , Arm und Bein , und ein paar Prellungen , scheint es , erzählt man den hinteren Rängen . Doktor Ampersand ist schon da , der aus Kabine  18 c , noch im Schlafanzug .

„ Ja , er muss ins Hospital .Wie heißt der Ort ?- anrufen .“

Kragujevac heisst der Ort . Weiß jemand . Lila ist auch gekommen , und Aliya , und Malevitch .

 

4

„ Natürlich wäre das eine gute Eingebung ,“ sagt Giacomo, „ es einfach beim Knistern vom Geschenkpapier zu belassen .“

Sie nickt und mustert Unbestimmtes , auf der anderen Donauseite ,

wo die Kühe sehr unbewegt aussehen .

Gicao hat seine Arme hinter dem Rücken verschränkt und zaubert jetzt aber etwas in Geschenkpapier herbei .

„ Nimm bitte dies schon mal als Abschiedsgeschenk .“

„ Soll das heißen : Du schmeißt mich raus , runter vom Schiff? Wieso Abschied ?“

„ Die Reise ist zu Ende . Wir warten , bis der Käptn wieder fit ist . Einen anderen Schiffsführer finde ich so schnell nicht . Du kannst natürlich an Bord bleiben und mit zurückfahren . Kannst aber auch ….hierbleiben ? Ab Belgrad irgendwohin fliegen ?“

 

Lila schüttelt den Kopf .

„ Vielleicht sollte man Noah hier rausholen , “ sinnt Giacomo .

Das meint Lila auch , sagt es aber nicht . Sie macht sich zerstreut an das Auspacken des Geschenkes . Faltet das Papier und hält es in der Hand , als gälte es da eine  Mitteilung zu lesen .

„ Ein Würfel ? Wie entzückend .“

Es klingt allerdings mehr verwirrt als entzückt ; `Boxer , leicht angeschlagen ´.

Sie sieht es erst beim zweiten Hinsehen :

„ Das ist aber nicht wirklich Gold ? mit – Smaragden ?“

„ Die stehen für die Punktzahlen . Industrie-Smaragde .Seeehr

preisgünstig .“

 

Lila schüttelt den Kopf wie gerade erwacht und schon gefordert.

„ Das ist für mich ? ( Pause ) Nenne mir einen Grund , warum ich das annehmen sollte.“

„ Ein Abschiedsgeschenk ! Im schlimmsten Fall ….wenn Du mich nicht wiedersehen möchtest . Aber wenigstens ……die `Cythera´  hat Dir doch gefallen , und die Crew. Oder nicht ? (Husten ) Wir liegen jetzt hier erstmal fest . Aber , wenn…

Es sei denn , …….Du bestehst nicht auf dem Nimmerwiedersehen ….

und wir würden den Würfel einmal testen , einweihen , einem höheren Zweck zuführen . Fate follows function…“

„ Waaas ? Wie meinst Du das .“

„ Wir würfeln um etwas . Der Sieger, die Siegerin , kriegt seinen oder ihren Willen .“

„ Und Dein Wille –  wäre ?“

„ Wir schauen uns unten noch einmal die Kabine an , die ich extra reserviert hatte .“

„ Nun gut,“ sagt sie , anscheinend angestrengt an möglichst alles denkend .

„ Wenn ich gewinne  ( darauf soll ich mich wirklich einlassen ? Ich bin wohl behämmert ! ) also : Wenn ich gewinne – verlasse ich das Schiff  und nehme mir hier in Rukova oder wie das heißt ein Zimmer , solange Noah noch hier im Lager ist . Und…“

„ Und ?“

„ Und wenn Du gewinnst – verbringen wir eine Nacht gemeinsam in einem Bett .“

„ Nicht möglich ! Wie bitte ? Ich übe schon mal Würfeln !“

„ Halt ! Bedingung . In EINEM Bett . Aber zwischen uns liegt ein Handy.

Falls Knorr anruft und was zu der Situation sagen will .“

„ Ich habe eine bessere Idee . Um es so richtig kuschelig zu machen .

Wir legen ein Handy zwischen uns, als Markierung , und ……Botswana als zusätzliche Demarkation .“

„ Hoffentlich gewinne ich .“

 

Sie japst , halb empört , sagen wir drei viertel ,Tendenz abnehmend , empört , aber auch ein bisssssschen ( der Ladebalken müht sich ) froh . Dass er womöglich …wenn nicht einen Ausweg…, dann ….. eine Sollbruchstelle gefunden hat . Wo Entscheidungen möglich werden .

UndOder kategorische Äusserungen . UndOder Fehltritte .

 

Malevitch singt dazu passend abends das  :

 

Lied über Vergänglichkeit

und den alltäglichen Abschied

 

 

Hymne …….auf die Perforation  !

wenn wer da hat vorhergedacht schon

ist reißfreundlich das Klopapier ;

die Trennung geht dann einfach : Hier !

Oh Du Abschiedsvereinfacher ,

Perforation Du Leichtmacher ,

dass man mit sich im Reinen ist

kein `what is over ´ an Dir frisst ;

alles nicht so ernst nehmen !

Schluss jetzt mit  Entschlussproblemen !

 

Perforation oh Perforation….

das Leben läuft uns in Standards davon .

Ein Brückenabbruch , der Brücken abbricht ,

die Boote verbrennt ! NICHT

zurückschaut , wie .. ( einst ! Oh Fehler !!!!! Oh Orpheus ,

der nicht um diese Lücken weiß ;

zurücke bleibt Eurydike … ).

Lücke auf Lücke auf Lücke .

Abrisskante  Du Sollbruchstelle

für den Abschied auf die Schnelle ;

 

Perforation verspricht reinen Tisch ,

bewältigt das Gestern hygienisch ,

perforiert und strukturiert .

Nochmal für Alle  : Perforation =

wenn wer da hat vorhergedacht schon !

Reißbereit die Küchenrolle ;

Kontingentierung unter Kontrolle !

Perforation : DER Scheidungsanwalt :

Ein Zupfen genügt und : Keine Gewalt !

 

Sollbruchstelle gibt allem nen Rahmen ,

vermeidet die Entscheidungsdramen –

Rote Linie : Perforation ….

vorhergeplant schon

ist alles und jedes ! Wir sind umstellt ,

simplifiziert ! perforiert ist die Welt !

Rote Linie : Du rechts ich links

( nicht ganz entschieden allerdings )

Abrisskante oh Perforation …..

das Leben läuft uns in Standards davon…………………………..

 

und

hier /genau hier / jetzt endet die Fahrt ;

es war ne Fahrt ganz besonderer Art .

Hier endet auch der Bericht davon

on demand : halt Perforation ;

just in time ist das Buch jetzt aus ,

das Schiff liegt fest mit Mann und Maus ;

mit den Menschen wird’s weitergehn .

Gibts Folgebände ? Mal sehn ;

dem Standard bleiben wir sicherlich treu ,

vielleicht ist für SIE wieder was dabei .